(Franz Joseph Rappl)
Deutscher Lyriker, Erzähler, Verlagsbuchhändler; Vater von Violanthe Rappl.
„Beharrlichkeit ist mehr als Kraft. Beharrlichkeit ist die Summe und Königin
der Kräfte.“
– Franz Rappl, Botschaft vom Geiste, S. 35 –
„Der Beruf des Menschen ist: alle Gegensätze in einem Kontrapunkte
zum gesunden, wahrhaftigen Ausgleich zu bringen.“
– Franz Rappl, Das Ende der Entente, S. 35 –
„Schöpfertum ist das Wesen des wahren Menschen. Schöpfertum ist das Werk
des Menschen am Wachstum des Lebens in der Welt. Ist, was ihn zum Ebenbilde
Gottes macht.“
– Franz Rappl, Das Ende der Entente, S. 55 –
Biographisches Fragment über das Leben und Werk Franz Rappls.
Überarbeitete und ergänzte Fassung vom April 2018.
Frau Schindler war zunächst Volksschullehrerin für Grund und Hauptschulen ohne bestimmte Fächerfestlegung. Sie hat nach ihrem 2. Staatsexamen im Allgäu unterrichtet und ist später, nach ihrer Heirat, zu ihrem Mann nach Würzburg gezogen. Nach 17 Jahren beruflicher Unterbrechung, in denen sie sich ganz der Erziehung ihrer fünf Kinder widmete, ging sie wieder in den Schuldienst, unterrichtete in Franken, nahe Würzburg. Später absolvierte sie in Würzburg an der Musikhochschule eine Zusatzausbildung zur Musiktherapeutin. Als solche arbeitete sie nach ihrem aktiven Schuldienst mit einer Psychiaterin in deren Praxis zusammen.
Außerdem liegen uns Erklärungen eines Enkels Franz Rappls vor, der nach seinen Angaben zwanzig Jahre im Hause der Familie Rappl gelebt und insbesondere zu Violanthe eine enge Beziehung unterhalten haben will. Diese zumeist dürftigen Informationen sind für unsere Aufarbeitung nur bedingt brauchbar: Vor allem besteht der Verdacht, daß persönlicher Grimm sie geleitet und damit verfälscht haben könnte: Die verleumderischen Anschuldigungen, die dieser Verwandte sogar vor einem Gericht gegen uns erhoben hat, nötigen uns, von seiner prinzipiellen Unredlichkeit im Umgang mit anderen und den tatsächlichen Ereignissen auszugehen. Nichtsdestotrotz werden wir – wann immer es im Sinne einer objektiven Darstellung geboten erscheint – diese Anmerkungen einflechten.
Im Unterschied zur Biographie für Violanthe Rappl konnten wir uns, wie gesagt, zur Rekonstruktion der Lebensereignisse und Lebensgeschichte Franz Rappls hauptsächlich auf die Familienchronik und Erinnerungen Hanne Schindlers stützen. Außer seiner Sterbeurkunde, einem Briefkopf der Familiendruckerei, eines Nachlaßbriefes einer Bank und einem Erbscheinantrag liegen uns (abgesehen von seinen Werken) keinerlei andere schriftliche Dokumente über sein Leben vor. Ohne Mitwirkung Frau Schindlers hätte es die Wiederentdeckung Franz Rappls – als dem Dichter und Poeten – nicht gegeben. Dem Biographen erscheint es daher am genauesten, auch die Nacherzählung des Lebens Franz Rappls direkt aus der Familienchronik Frau Schindlers – von den Wurzeln her – zu übernehmen, beginnend bei den Eltern Franz Rappls:
(Dieses und das nachfolgende Kapitel über Franz Rappl ist – bis auf kleinere Zusätze – wortgetreu der Familienchronik Hanne Schindlers entnommen. Sie ist eine Nichte Franz Rappls bzw. Cousine seiner Tochter, Violanthe Rappls.)
Die Mutter von Franz Rappl: Johanna Dinger (13.11.1869-02.03.1943) [Großmutter Frau Schindlers väterlicherseits, wie auch Violanthes Großmutter].
Johanna wurde 1869 in eine evangelische Familie hineingeboren. Ihr Vater, Heinrich Dinger (1826-1895), Gärtner von Beruf, stammte aus Frankfurt am Main und hatte Christiane Kling (1827-1903), die Tochter eines Mühlenbesitzers aus Berg bei Stuttgart geheiratet. Sie hatten insgesamt 7 Kinder, aber nur 3 Söhne und ein nach 10 Jahren geborenes Nachzüglerkind, Johanna, wurden groß.
Christiane Kling (oder deren Mutter?) war in ihrer Jugendzeit Kammerzofe an einem bayrischen Fürstenhof (Turn und Taxis?). Es waren sehr reiche Leute, die viele Einladungen hatten. Wenn diese von einer solchen zurückkehrten, mußte die Zofe am Eingangstor zum Schloß mit einer Schere bereitstehen. Sobald die Kutsche kam, sprang sie auf und schnitt der Fürstin das Kleid und das Korsett am Rücken runter auf. Bis ins Schloß konnte es die Fürstin nicht mehr aushalten, weil sie so fest geschnürt war. Es wurden laufend neue Kleider und Korsetts genäht. Auch der Schmuck mußte immer wieder erneuert werden. Die Zofe wurde mit abgelegtem Schmuck beschenkt. Solchen erbte Johanna von ihrer Mutter. Es war Granatschmuck von erlesener Schönheit.
Von Heinrich Dinger wurde erzählt, daß er ein Choleriker war, der ab und zu das Küchengeschirr zerschlug – es sofort aber durch neues ersetzte. Beide, Vater und Mutter von Johanna, waren rührige unternehmerische Menschen. Sie gründeten in Donauwörth einen Gartenbaubetrieb und bauten sich ein stattliches Haus. Heinrich bezeichnete sich als ‚Kunst- und Handelsgärtner‘. Er baute ein Versandgeschäft auf und lieferte Gemüse auch nach Norddeutschland, unter anderem auch Rettiche, die damals dort noch nicht bekannt waren. Dazu eine kleine überlieferte Geschichte: Nach der ersten Rettichsendung kam aus Hamburg ein Telegramm mit folgendem Text: „Wir danken für die herrlich flockige Ware und bitten um weitere Sendung.“ Wenn Johanna das erzählte, liefen ihr vor Lachen über die ‚flockige Ware‘ die Tränen über die Backen, bedeutete doch flockig, daß die Rettiche pelzig waren...
Zwei der großen Brüder arbeiteten mit in der Gärtnerei. Wenn sie auf einem Feld etwas außerhalb von Donauwörth arbeiten mußten, fuhren sie mit der Pferdekutsche in gutem Anzug und Zylinder zum Feld, zogen sich dort zur Arbeit um und anschließend ging es im feinen Aufzug wieder zurück nach Hause. Zum Abendessen gab es fast das ganze Jahr durch Kartoffeln mit Butter und nur der Vater bekam Käse dazu. Zuweilen ging der Vater ins Gasthaus zum Abendbrot, wohl der Geschäfte wegen.
Heinrich betätigte sich auch als Landschaftsgestalter. Früher durchquerte die Donautalbahn die Stadt. Als diese 1877 aufgelassen wurde, entstand eine freie Fläche inmitten der Stadt. Die Donauwörther Stadträte wollten dort Schrebergärten anlegen. Den Initiativen von Kaufmann Görz, damals Vorsitzender des Verschönerungsvereins, und des Gärtnereibesitzers Heinrich Dinger ist es zu verdanken, daß auf diesem großen Gelände entlang des Kaibachs und des ehemaligen Stadtgrabens um den Mangoldfelsen herum ein wunderschöner Park entstand, die ‚Promenade‘, die sich damals wie heute noch großer Beliebtheit erfreut. Heinrich Dinger pflanzte die ersten Linden- und Kastanienbäume, legte Wege und Krokuswiesen an, pflanzte Rosen und sorgte für einen Springbrunnen und einen Spielbrunnen für die Kinder. Ein Wetterhäuschen wurde gebaut, wo man Temperatur, Himmelsrichtungen, Luftdruck, Luftfeuchtigkeit und Windrichtung ablesen konnte, was für uns Kinder höchst interessant war. Dieses Wetterhäuschen steht heute noch an seinem alten Platz, und zwar etwa 50m vom Dingerhaus entfernt, dem Geburtshaus von Johanna.
Sie wuchs in diesem Haus als vielgeliebtes Nesthäkchen wohlbehütet auf. Es gab sicher viel Arbeit in dieser Familie, beim Verkauf in der Gärtnerei und auch im Haus. Da sie später in ihrem eigenen Garten nie arbeitete, nehme ich an, daß sie von schweren Arbeiten zu Hause verschont war und ihr Betätigungsfeld der Haushalt war, den zu führen sie bei ihrer Mutter gelernt hatte. So wurde sie gut vorbereitet auf einen eigenen Hausstand.
Die großen Brüder gründeten im Laufe der Zeit eigene Geschäfte. Hermann (1852 geboren) übernahm später den Gartenbaubetrieb, Philipp (1854 geboren) wurde ein angesehener Geschäftsmann. Er betrieb einen feinen und sehr großen Porzellan- und Haushaltswarenladen in einem historischen Stadthaus mitten in Nördlingen. Ludwig (1859 geboren) hatte eine Wäscherei in Donauwörth.
Mit 22 Jahren heiratete Johanna Carl Rappl, der zu dieser Zeit eine gute Arbeitsstelle beim Auer-Verlag in Donauwörth hatte, wo er später bis zum technischen Betriebsleiter aufstieg. Von dort wollte er zunächst aber weg. Er fand eine Stelle in der Schweiz, wohin das junge Paar erst einmal zog. Dort kam das erste Kind zur Welt: Franz Rappl, dessen linkes Ärmchen nur als kleiner Stumpf ausgebildet war. Das traf Johanna mit großer Wucht und sie fühlte sich ohne ihre eigene Familie ‚in der Fremde‘ dem allem nicht gewachsen. Auch hatte sie 2 Kinder verloren, die die Geburt nur kurz überlebten. (Wann das geschah, in der Schweiz oder schon wieder in Donauwörth, kann ich nicht mehr sagen.) Sie litt unter schrecklichem Heimweh und wollte nur zurück nach Donauwörth. Deshalb nahm sie mit Ludwig Auer Kontakt auf und bat ihn inständig darum, Carl wieder im Auer-Verlag aufzunehmen. Carl fühlte sich gedemütigt und litt sein Leben lang daran.
Zurück in Donauwörth wurde das gemeinsame Haus gebaut, wahrscheinlich gaben Johannas Eltern Geld dazu, aber ein Teil mußte von der Bank aufgenommen werden. Weitere drei Söhne wurden geboren: 1896 Ludwig, 1897 Gotthard und 1902 Carl jun. Rappl. Johanna war eine sanfte, liebevolle Mutter, ein warmherziger Mittelpunkt der Familie, die noch zwei Söhne ihrer Freundin aufnehmen konnte. Diese verbrachten ihre gesamte Schulzeit im Hause Rappl, nur in der Ferienzeit konnten sie bei ihren eigenen Eltern sein, die zur See fuhren. (Ob das ein Versuch war, ihre zwei eigenen verlorenen Söhne zu ersetzen? Das Tragische war, daß Johanna den ersten verlorenen Sohn Heinrich, nach ihrem Vater, nannte. Als dieses Kind so schnell gestorben war, nannte sie das nächste Kind ebenso Heinrich. Dieses ‚Heinerle‘ überlebte auch nicht. Dieses schockierende Erlebnis brachte sie dazu, ihre Söhne zu bitten, kein Kind mehr Heinrich zu nennen und schon gar nicht einen Namen 2 mal in einer Familie zu verwenden.)
Sie wirtschaftete als tüchtige Hausfrau, verwertete alles, was ihr Mann aus dem großen Garten herausholte, Gemüse und Obst jeder Art und legte gekonnt Wintervorräte an. Ein Schwein und Hühner wurden gefüttert, so daß sie beinahe Selbstversorger waren. Das war gut so, denn Carls Verdienst war für die 8köpfige Familie nicht zu üppig. Es wurde oft erzählt, daß das übliche Abendessen aus Grießbrei für alle bestand.
In der geräumigen Wohnküche stand ein riesiger Eßtisch mit stabiler Eckbank, wo alle sechs Buben und die Eltern Platz fanden. Daneben gab es ein kleines Wohnzimmerchen mit einem Sofa und einem Nähtisch, der samt dazugehörigem Lehnstuhl auf einem Podest stand. Von dieser erhöhten Position konnte man bestens aus dem Fenster schauen. Das ‚große‘ Wohnzimmer mit Erker, in dem auch das Klavier stand, wurde nur bei besonderen Gelegenheiten benutzt. In einem sog. Vertiko, einem halbhohen Glasschrank, waren seltsame fremdländische Dinge zu bewundern, die die Eltern der beiden angenommenen Jungs von ihren Reisen als Geschenke mitgebracht hatten. Einmal war das Mitbringsel ein lebendiger Papagei.
Im ersten Stock des Hauses gab es 3 Schlafzimmer, eines ebenfalls mit Erker. Das ganze Haus war mit Leben gefüllt. Alle 6 Jungs spielten ein Instrument, es wurde gemeinsam gesungen und mit Vorliebe Theater gespielt, was Johanna besonders liebte. Wenn der Vater allerdings mit seinen Söhnen wandern ging, blieb Johanna lieber zu Hause. Sie fühlte sich daheim am wohlsten.
Jedes Jahr kam für einige Wochen die Verwandtschaft aus der Stuttgarter Mühle mit Kind und Kegel zu Besuch. Das belastete das Haushaltsbudget übermäßig, auch sonst waren diese langen Besuche gefürchtet, da Johanna keine Haushaltshilfe hatte und alles alleine bewältigen mußte. Die Verwandten allerdings fühlten sich wie in der Sommerfrische.
Alle 6 Buben besuchten nach der Grundschule das Progymnasium, das mit der 10. Klasse abschloß. Franz Rappl, Gotthard und Carl jun. machten eine Lehre im Auer-Verlag, Ludwig lernte in einer Bank.
Damit ging eine unbeschwerte Zeit zu Ende, denn 1914 brach der Erste Weltkrieg aus. Ludwig und Gotthard mußten als blutjunge Soldaten in den Krieg ziehen. Franz war wegen seiner Behinderung befreit, Carl jun. war noch zu jung. Es waren schwere Zeiten für die Eltern. Ludwig kam wohlbehalten 1918 wieder zurück. Gotthard geriet in französische Gefangenschaft und kehrte abgemagert erst 1919 heim. Beide angenommenen Jungs sind gefallen. Große Trauer herrschte im Hause Rappl, bei den ‚Pflegeeltern‘ sowie bei den ‚Brüdern‘.
Im Laufe der Zeit heirateten alle 4 Söhne: Franz und Gotthard ließen sich mit ihren Frauen in Donauwörth nieder, ganz in der Nähe der Eltern. Ludwig zog nach München und Carl jun. nach Stuttgart. Enkelkinder wuchsen heran. Für Johannas Leben war das noch mal eine Blütezeit. Bei ihr traf man sich: die Söhne, die Schwiegertöchter und die Kinder. Sie war wieder der warmherzige Mittelpunkt, um den sich alle gerne scharten. Wir Enkelkinder lernten einander kennen, spielten im großen Garten, verbrachten dort unvergeßliche Ferientage miteinander.
1939 verdüsterte sich das Leben wieder: Es brach der Zweite Weltkrieg aus. Diesmal mußte Carl jun. als Soldat in den Krieg ziehen. Er geriet in französische Gefangenschaft. Zuhause mußten die Bombennächte überstanden werden. Donauwörth wurde zerstört, die gesamte historische Innenstadt wurde ein Trümmerfeld. Aber das hat Johanna nicht mehr erlebt, denn am 3. März 1943 verstarb sie nach einem Schlaganfall, der sie in voller Rüstigkeit elf Tage davor traf. Sie hinterließ eine große Lücke.
Der Vater von Franz Rappl: Carl Rappl (15.04.1866-13.05.1946) [Frau Schindlers Großvater väterlicherseits, wie auch Großvater Violanthes].
Carl Rappl ist 1866 in Schnufenhofen in der Oberpfalz geboren. Seine Mutter, Amalie Rappl, brachte mit 17 Jahren ihren Sohn Carl zur Welt. Der dazugehörige Vater, Franz Seraphin Röhrl aus Eilsbrunn in der Oberpfalz, war damals 22 Jahre alt und arbeitete als Brauer. Er ist mit 26 Jahren im Krieg 1870/71 bei Sedan gefallen. Carl wuchs als ‚lediges‘ Kind auf, d. h., er galt als Bastard und seine Mutter als ‚gefallenes Mädchen‘. Damit waren sie verfemt und wurden von den Mitbürgern mißachtet. Seine Mutter heiratete später einen anderen Mann und brachte den kleinen Carl mit in die Ehe. Sie bekam noch einige Kinder. Stiefvater und Stiefgeschwister spielten die Hauptrolle in dieser Familie, in der Carl kein gutes Leben hatte. Seine traurige Kindheit hat ihn bis ins hohe Alter belastet.
Hilfe kam von Ludwig Auer (geboren 1839 in Laaber, gestorben 1914 in Donauwörth), der den jungen Burschen Carl von der Oberpfalz nach Donauwörth mitnahm. Dieser könnte ein Verwandter von Carl Rappl gewesen sein, da Carls Großmutter mütterlicherseits eine geborene Auer war und ebenfalls in Laaber ansässig. (Vielleicht ein Vetter seiner Mutter?) Aus den Quellen des historischen Vereins Donauwörth habe ich dazu herausgeschrieben:
Dieser Ludwig Auer, Oberpfälzer Volksschullehrer, der auch einige Jahre in Schnufenhofen unterrichtete, ist freiwillig aus dem Staatsdienst geschieden. Er gründete einen katholischen Lehrerverband, der sich eine religiöse Beeinflussung der Familienerziehung zum Ziele setzte. Die erste katholische Mütterzeitschrift ‚Monika‘, die erste kath. Kinderzeitschrift ‚Schutzengel‘, sowie die Herausgabe pädagogischer Bücher, christlicher Volksbücher und Romane dienten der Verbreitung seiner pädagogischen Ideen. Um dafür eine weitere Basis zu erhalten, gründete er das ‚Cassianeum‘, eine Anstalt zur Förderung der Erziehung im Geiste der Kirche (St. Cassian ist der Patron der Lehrer).
1875 übernahm Ludwig Auer in Donauwörth das ehemalige Benediktinerkloster ‚Heilig Kreuz‘, das seit 1803 (Säkularisation) aufgelöst, in den Besitz des fürstlichen Hauses ‚Öttingen-Wallerstein‘ geriet und dem Verfall preisgegeben war. In diesen Räumen und den dazugehörigen Ökonomiegebäuden richtete er eine Art Handelsschule ein, eine Verlagsanstalt, eine Druckerei, ein Versandgeschäft und einen Laden. Der ganze Besitz wurde in eine ‚Pädagogische Stiftung Cassianeum Donauwörth‘ umgewandelt. Unter diesem Namen wird noch heute [2018] dort gearbeitet. Ein Kinder- und Waisenheim ist der Stiftung angegliedert. – Auch ich habe als angehende Lehrerin im Cassianeum ‚Pädagogische Ferienkurse‘ besucht. – Ludwig Auers Initiative und seinem Opfergeist verdankt auch die herrliche Barockkirche ‚Heilig Kreuz‘ ihre Erhaltung. Ihm zum Dank wurde dem Volks- und Jugenderzieher großen Stils ein Denkmal vor der Kirche errichtet: ‚Onkel Ludwig‘, wie er in Donauwörth genannt wird.
Dieser tatkräftige Mensch, Ludwig Auer, hat sich also des von seinem bisherigen lieblosen Leben gezeichneten Jungen Carl Rappls angenommen. Dieser lernte unter seinen Fittichen und seinem strengen Regiment und arbeitete sich bis zum Betriebsleiter, d. h. zum technischen Leiter des bald sehr angesehenen Auer-Verlags hoch. [Der Auer-Verlag, seit 2006 Teil der Stuttgarter Klett-Gruppe, ist noch heute, 2018, ein führender Lehrerfachverlag, der insbesondere Schulbücher und Unterrichtsmaterialien anbietet; vgl. auch: http://www.auer-verlag.de/ueber-uns/.]
1892, mit 26 Jahren also, heiratete Carl die wohlbehütete unbeschwerte Donauwörther Gärtnertochter Johanna Dinger. Carl wollte von Donauwörth weg und sich endlich auch von seinem übermächtigen Gönner und Arbeitgeber befreien, unter dessen harter Knute er sehr litt. Wahrscheinlich hatte er auch Schwierigkeiten bekommen, weil er eine evangelische Frau geheiratet hatte. Er fand einen lukrativen Arbeitsplatz in der Schweiz, an dem er selbständig arbeiten konnte. So zog er also mit seiner jungen Frau zunächst in die Nähe von St. Gallen und war glücklich.
1894 kam der erste Sohn, Franz Rappl, zur Welt. Sein linkes Ärmchen war nur als kleiner Stumpf entwickelt. Johanna, seine Frau, war dieser seelischen Belastung ‚in der Fremde‘ ohne die Unterstützung ihrer eigenen Familie nicht gewachsen. Schlimmstes Heimweh quälte sie. Da begann eine Tragödie: Sie setzte sich, ohne Wissen ihres Mannes, mit Ludwig Auer in Verbindung und bat ihn, Carl wieder in Donauwörth zu beschäftigen. So endete die glückliche selbständige Phase im Leben von Carl. Er kehrte mit seiner Familie nach Donauwörth zurück und mußte sich wieder unter das Diktat von Ludwig Auer fügen. Das war eine seinen Lebensnerv treffende Kränkung für ihn. Durch sein ganzes weiteres Leben zogen sich eine Verbitterung und ein Leiden an dieser Situation.
Ablenkung verschaffte er sich durch den Bau des gemeinsamen Hauses in der Berger Vorstadt. Dieses Haus war einfach gemütlich mit seinem Türmchen an der Vorderfront und den Erkern. Es stand in einem großen Garten, der so allmählich das lustvolle Betätigungsfeld von Carl wurde. Er arbeitete mit Hingabe darin, baute ein Gartenhäuschen, ein ‚Rondell‘ mit Rosen umwachsen, eine eigene Sitzgruppe für Kinder, einen Brunnen, einen Sandkasten mit Runddach, einen Stall für ein Schwein, pflanzte Obstbäume und Beerensträucher und baute Gemüse an. Um diesen Besitz zu finanzieren, mußte Geld aufgenommen werden, das in monatlichen Raten abgezahlt wurde. Das gelang auch, da sie ein bescheidenes Leben führten.
Inzwischen sind 3 weitere Söhne auf die Welt gekommen: Ludwig 1896, Gotthard 1897, Carl jun. 1902. Zu den 4 eigenen Söhnen nahmen Carl und Johanna noch 2 weitere Jungs auf, die Söhne einer Freundin von Johanna. Solange die 2 Jungs die Schule besuchten, lebten sie wie eigene Kinder in der Rappl Familie. (Beide sind im Ersten Weltkrieg gefallen.)
Carl war ein musikalischer Mensch, er spielte Bandonium, sang mit seinen Buben mehrstimmig, musizierte mit ihnen, die alle ein Instrument spielten: Klavier, Geige, Posaune. Er erwanderte die Donauwörther Umgebung mit ihnen. So war in sein Leben mit seiner wieder fröhlichen Frau und den Buben im eigenen Haus und Garten wieder Freude eingekehrt. Alle 6 Buben besuchten das Donauwörther Progymnasium, das mit der 10. Klasse abschloß. Danach machten Franz Rappl, Gotthard und Carl jun. eine Lehre im Auer-Verlag. Ludwig wurde Bankkaufmann.
1922 überredete er seine Söhne Franz und Gotthard, mit ihm zusammen eine eigene Druckerei zu gründen. Der Groll gegen Ludwig Auer schwelte immer noch ihn ihm. Gotthard gab deswegen seine sehr gute Stellung in München auf.
Dieses Unternehmen, die ‚eigene Druckerei‘, verlief glücklos. Sie gerieten in die Wirtschaftskrise, die Inflation machte ihnen enorm zu schaffen, ebenso die riesige Konkurrenz durch den Auer-Verlag. 1933 brach alles zusammen mit Schulden. Carl zog sich zurück, 67jährig, und haderte mit seinem Schicksal. Seine Rente wurde bis auf ein Mindestmaß gekürzt, weil der Auer-Verlag als kath. Institution von den Nazis fast in den Ruin getrieben wurde und deshalb nicht mehr zahlen konnte. (Die kath. Zeitschriften, Haupteinnahmequellen des Verlags, durften nicht mehr gedruckt und vertrieben werden.) So war Carl im Alter auf die Unterstützung seiner Söhne Franz und Gotthard angewiesen. Er überlebte seine Frau um 3 Jahre, was für ihn ein sehr hartes Los war. Sie war für ihn das Leben. Durch die Hilfe einer Haushälterin überlebte er seine letzten 3 Jahre in seinem Haus und fühlte sich fast so verlassen, wie am Anfang seines Lebens. Er ist 80 Jahre alt geworden.
Franz Joseph Rappl (02.01.1894-17.11.1970) wurde am 02.01.1894 in St. Gallen in der Schweiz geboren. Seine Eltern, Johanna Dinger (13.11.1869-02.03.1943) und Carl Rappl (15.04.1866-13.05.1946), heirateten 1892 in Donauwörth und zogen bald darauf in die Schweiz: Carl Rappl wünschte sich endlich von seinem übermächtigen Gönner und Arbeitgeber Ludwig Auer (1839-1914), dem deutschen Bildungsreformer, Unternehmer, Verlags- und Stiftungsgründer zu befreien, unter dessen harter Knute er sehr litt. [Der Auer-Verlag, seit 2006 Teil der Stuttgarter Klett-Gruppe, ist noch heute, 2018, ein führender Lehrerfachverlag und Anbieter insbesondere für Schulbücher und Unterrichtsmaterialien; vgl. auch: http://www.auer-verlag.de/ueber-uns/.] Wahrscheinlich hatte Carl Rappl auch Schwierigkeiten bekommen, weil er eine evangelische Frau geheiratet hatte. Er fand einen lukrativen Arbeitsplatz in der Schweiz, an dem er selbständig arbeiten konnte. So zog er also mit seiner jungen Frau in die Nähe von St. Gallen und war glücklich.
[Die bezeugbarsten Dokumente über das Leben der Familie Rappl verdanken wir Frau Hanne Schindler. Sie wurde am 10.03.1930 in Donauwörth geboren und ist eine Nichte Franz Rappls und Cousine und früheste Freundin Violanthe Rappls. Hauptsächlich auf ihre Berichte stützt sich der erste Teil auch dieses Kapitels. Bis auf wenige Korrekturen haben wir die aus ihrer Familienchronik übernommenen Abschnitte wortgetreu wiedergegeben.]
Franz kam mit einer Behinderung zur Welt. Sein linker Arm war nur ein kleiner Stumpf. Als Schulkind hatte er unter Hänseleien zu leiden. Das brachte ihn einerseits dazu besonders waghalsige Streiche auszuführen und oft über die Stränge zu schlagen, andererseits zog er sich zurück, las viel und fing an zu schreiben. Er war der ‚Dichter‘ in der Familie, konnte exzellent mit Worten umgehen und hatte die verwegensten Einfälle. Er besuchte das Progymnasium in Donauwörth, das mit der 10. Klasse endete. Anschließend machte er eine Druckerlehre im Auer-Verlag.
Bei seinem Onkel Philipp in Nördlingen lernte er seine spätere Frau Ilse Schwarz kennen [Ilse Katharina Schwarz, geboren am 28.05.1901, gestorben am 27.03.1969]. Sie hatte bereits ein Musikstudium begonnen und sollte dort im Hause Dinger, wo es einige Mädchen (Cousinen der Rappl-Brüder) gab, das Kochen lernen. Ilse stammte aus Mülheim/Ruhr, aus sehr gutem Hause. Ihr Vater hatte eine Bergwerkslokomotivenfabrik [vgl. dazu ggf. hier] eine Riesenvilla; es ging sehr fein zu, bei Tisch wurde französisch gesprochen! [Zu Ilses Aussteuer gehörte ‚standesgemäß‘ ein 72teiliges Silberbesteck für 12 Personen mit ihren Initialen; es befand sich im Nachlaß Violanthe Rappls, einer ihrer beiden Töchter.] Ilse selbst war eine sehr aparte Frau, hatte damals schon einen Pagenschnitt, schminkte sich, rauchte und kleidete sich nach der neusten Mode. Sie setzte die Heirat mit Franz durch, obwohl ihr Vater strikt dagegen war, und heiratet ihn am 21.11.1922. In Donauwörth, wo sie ganz in der Nähe der Eltern von Franz einen Hausstand gründeten, machte sie Furore. Sie wurde nicht gerade mit offenen Armen von der Donauwörther Gesellschaft aufgenommen. Sie bekam 1923 eine Tochter, Ruth [später: Ruth Blumers], 1925 einen Sohn, Fränzle [1942, oder 1944, bei seinem ersten Kriegseinsatz gefallen], und 1927, als 3. Kind, Jola – Violanthe Christiane Luise Rappl [2014 verstorben].
Franz Rappl arbeitete ab 1922 in der von seinem Vater gegründeten Druckerei mit seinem Bruder Gotthard zusammen. [Uns liegt eine Photokopie eines Druckvertrages vor; in seinem Briefkopf die Initialen der beiden Brüder und späteren Eigentümer der Druckerei „F. & G. Rappl“.] Nur leider war Franz nicht der stetige Arbeiter, sondern ein freigeistiger Künstlertyp, der dauernd über seine Verhältnisse lebte. Die Druckerei florierte auch nicht. 1927, gerade als Jola geboren war, warf er das Handtuch. Mit einem Schuldenberg – fast die ganze Aussteuer von Ilse mitsamt dem herrlichen Flügel wurden gepfändet – gaben sie in Donauwörth ihren Hausstand auf und kehrten in Ilses Vaterhaus in Mülheim/Ruhr zurück. Es war eine sehr demütigende Situation für alle. Franz wurde in der Maschinenfabrik seines Schwiegervaters untergebracht, wo er natürlich überhaupt nicht hinpaßte. Es ging alles schief. Das Ende war: Die Ehe wurde geschieden, Franz nahm sich ein Zimmer in Mülheim. Ilse blieb mit den 3 Kindern im Hause des Vaters. Das war kein leichtes Leben.
Jola – Violanthe – war das Patenkind meiner Mutter [Frau Schindlers Mutter], deshalb war sie in den Ferien oft bei uns. Im Krieg, als das Ruhrgebiet schon völlig zerbombt war, alle Schulen geschlossen waren und die Kinder von dort in einer Riesenaktion, die sich Kinderlandverschickung nannte, nach Böhmen in Kinderheime gebracht worden waren, nahmen meine Eltern Jola ganz zu uns. Sie ging mit uns zur Schule. Jola und ich hatten ein Zimmer zusammen und wir freundeten uns sehr an. Sehr viel später, als ich nach Katrins Geburt sehr krank war, hat Tante Ilse [die Mutter Violanthes] sich revanchiert. Sie hat mich eingeladen, liebevoll gepflegt und aufgepäppelt und viel erzählt aus ihrem Leben. In dieser Zeit lernte ich sie sehr schätzen.
Fränzle, Jolas vielgeliebter Bruder, wurde 1942 als Soldat eingezogen. Er ist zu uns nach Günzburg gekommen, um Abschied zu nehmen von Jola. Schon auf der Fahrt an die Front wurde der Zug beschossen und er kam dabei ums Leben, gerade mal 17 Jahre alt.
An dieser Stelle enden die Auszüge aus der Familienchronik Hanne Schindlers, die sie uns dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hat.
Nach Angaben Dritter soll Fränzle – Franz Rappl junior – am 11.08.1944 gefallen sein.
Violanthe erzählte oft, wie ihr Bruder sie unter den für sie unerträglichen Familienverhältnissen immer verteidigt, geschützt und verstanden hatte – er war ihr engster Vertrauter in Kinder- und Jugendjahren. Bis in ihre letzten klarsichtigen Momente hinein mochte sie von seinem frühen Tod äußerst ungern und dann nur voller Trauer sprechen.
Nach dem Zusammenbruch der Druckerei und den Pfändungen in Donauwörth zogen Franz und Ilse Rappl (vielmehr müßte es wohl heißen: retteten sie sich) nach Mülheim in die Fabrikantenvilla Ilses Vater. Von Franz Rappl aus gesehen, ließe sich wohl kaum eine größere Demütigung denken: hatte sich doch sein Schwiegervater, Wilhelm Schwarz, Direktor der Ruhrthaler Maschinenfabrik, strikt gegen die Heirat seiner Tochter mit ihm ausgesprochen. Und nun müssen sie im herrschaftlichen Hause ihres Vaters und Schwiegervaters um Asyl bitten? Und die Kränkungen setzen sich fort: Franz erhält in der Ruhrthaler Maschinenfabrik eine Anstellung als ‚Betriebswirtschaftler‘ – er, der zu diesem Zeitpunkt bereits sieben großartige dichterische Werke und gesellschaftspolitische Betrachtungen (wahrscheinlich sein literarisches Gesamtwerk) verfaßt und veröffentlicht hatte…
Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich die latent-inneren und sichtbar-äußeren Konflikte auszumalen, die von nun an die jungen Eheleute und Eltern von drei Kindern bedrängt haben dürften. Wie schlüssig könnten uns nun, unter diesen Gegebenheiten, die Erzählungen Violanthes aufgehen – von der ‚Lieblosigkeit und Beziehungsunfähigkeit‘ ihrer Eltern und deren Verhaftung in physischen und psychischen Zwängen. Vielmehr hätte es überrascht, wären ihre eheliche Gemeinschaft und beruflichen Lebenswege von derartigen Umständen unbeeinflußt geblieben. Klären sich damit die ‚dürftigen Erziehungsverhältnisse‘ endlich auf, unter denen Violanthe in ihrer Kindheit gelitten hatte, so wie sie es mir immer wieder berichtete?
Ja und Nein – alles hat doppelten Sinn – oder wie Buddha im Surangama Sutra sagt: „Die Dinge sind nicht so, wie sie erscheinen, noch sind sie anders.“ – Nur eine differenzierte psychologische Betrachtung und Deutung der inneren Vorgänge aller Beteiligten könnte uns zumindest Ahnungen verschaffen von den ureigentlichen Konflikten und Kompensationsstrategien – von denen alle geprägt worden sind und durch die sich alle seelisch und ideell zu retten versuchten…
Wie im Geleit schon erklärt, verfügen wir über Darstellungen Dritter, die von den Erinnerungen Frau Schindlers und den von Violanthe mir gegenüber persönlich vorgetragenen Erzählungen stark abweichen. Warum wir Gründe haben, die volle Glaubwürdigkeit dieser Informationen anzuzweifeln, haben wir schon vermerkt. Dennoch müssen wir der Wahrheit zuliebe bekennen, daß sich mit immer tiefer dringender Schürfung auch die Widersprüche in den Lebensverhältnissen der Familie Rappl – und dort insbesondere zwischen Vater und Tochter – verhärtet haben, die zwischen Überliefertem, unmittelbar Erlebtem und von Dritten Erinnertem bestehen. Sind die Angaben von Verwandten auch mit Vorsicht zu behandeln, so bestätigen sie im Wesentlichen dennoch das Phänomen und Gefühl, daß viele der von Violanthe persönlich beigesteuerten Erklärungen metaphorisch, in übertragenem Sinne also begriffen und interpretiert werden müssen – als provokativer Gegenentwurf zum Maßstab ihrer eigenen hochsensiblen und zugleich eingeschränkten Wahrnehmungswelt: Die individuellen Themen zu allgemeingültigen zu transzendieren – dieserart Überhöhung und transformatorische Absicht kennzeichnet ihr gesamtes künstlerisches Werk. – Zur möglichst wahrheitstreuen Rekonstruktion aller Ereignisse bemühen wir uns, alle divergierenden Beiträge angemessen zu placieren.
Spätestens seit 1949 lebten die Eheleute Katharina und Franz Rappl voneinander getrennt; die Ehe wurde aber nie geschieden. – Nach Angaben Dritter sei Franz Rappl nach dem Weggang aus Donauwörth und dem Zusammenbruch seines Tagewerk-Verlags nicht in das großväterliche Haus, sondern in eine eigene Wohnung in der Mülheimer Heinrichstraße gezogen. Zugleich hätte er aber dennoch in der Ruhrthaler Maschinenfabrik die Buchhaltung und Finanzabteilung geleitet. Zwischenzeitlich wäre die Familie in eine herrschaftliche Wohnung in der Goethestraße 11 gezogen. Danach soll Franz Rappl wieder in einer Direktorenvilla einer Lederfabrik gewohnt und dort auch Verpflegung empfangen haben. – Violanthe selbst, durch Briefanschriften belegt, bleibt bis 1969 in der Villa der Familie Schwarz wohnen – unterbrochen von mehreren Studienaufenthalten in Düsseldorf, Graz und Salzburg. Erst mit dem Tod der Mutter verläßt auch sie das großväterliche Anwesen.
In einem Erbscheinantrag steht für die Berufsbezeichnung Franz Rappls ‚Betriebswirtschaftler‘. Andere private oder berufliche Werdegänge oder Erwerbsverhältnisse Ilse und Franz Rappls, insbesondere nach ihrer Rückkehr nach Mülheim im Jahre 1927, konnten nicht näher bestimmt werden.
Laut Urkunde verstirbt Franz Rappl am 17.11.1970 um 08:05 Uhr in Wertheim. Nach einer Vermögensaufstellung der Erbschaftssteuerstelle des Finanzamtes Essen-Nord lautete seine letzte Wohnadresse: Am Reinhardshof 33, Wertheim am Main. Von allen Quellen bestätigt lebte er zuletzt bei seiner Tochter Ruth. Wann er zu ihr gezogen ist und ob er hilfsbedürftig gewesen war, kann nicht gesagt werden. Im Erbscheinantrag vom 21.05.1969 (für ihre Mutter) hatte Violanthe noch eine frühere Adresse ihres Vaters angegeben: Kassenberg 48, Mülheim/Ruhr.
An die Stadtverwaltung Wertheim; es schreibt Ihnen: E.
J.:
Sehr geehrte Damen und Herren, ich wende mich an Sie, mit Bitte um
Weiterleitung meiner Anfrage an die zuständige Abteilung Ihrer Stadt,
wahrscheinlich an die Stadtkämmerei:
Als Nachlaßverwalter sowohl des künstlerischen Erbes der Malerin Violanthe
Rappl als auch ihres Vaters, des Dichters und Verlagsbuchhändlers Franz Rappl,
arbeite ich derzeit an den Biographien beider Künstlerpersönlichkeiten. Teile
ihrer Werke sind auf der Netzseite www.archiv-swv.de bereits zugänglich. Franz (Joseph) Rappl wurde am
02.01.1894 in St. Gallen in der Schweiz geboren; er verstarb am 17.11.1970 um
08:05 Uhr in Wertheim. So ist es auf seiner Sterbeurkunde vermerkt. Nach einer
Vermögensaufstellung der Erbschaftssteuerstelle des Finanzamtes Essen-Nord soll
er zuletzt Am Reinhardshof 33, Wertheim, gewohnt haben.
Dazu meine Fragen und Bitten um diese Bestätigungen bzw. Recherchen: Auf
welchem Friedhof ist Franz Rappl beigesetzt worden? – Ist seine Grabstelle noch
auffindbar? – Ist oder war der Reinhardshof 33 ein privates Wohnhaus, ein
Krankenhaus oder ein Pflegeheim? – Finden sich in Ihren Archiven weitere
Informationen zu Franz Rappl? –
Für Ihre freundlichen Bemühungen, mich in Klärung dieser Angelegenheiten zu
unterstützen, bedanke ich mich herzlich!
E. J.
Die Stadt Wertheim hielt es nicht für nötig, auf mehrfache Anfragen und Erinnerungen zu reagieren. – Nach Angaben Dritter sind beide Gräber der Eheleute (das von Franz Rappl in Wertheim und das von Ilse Rappl in Mülheim) eingeebnet worden, da Violanthe, nach dem Tode ihrer Schwester Ruth, die Grabpflege der Eltern nicht übernehmen wollte.
Die wenigen authentischen Informationen, die wir über das Leben Franz Rappls besitzen und zusammentragen konnten – wie auch wesentliche Beiträge und Korrekturen zur Biographie Violanthe Rappls, seiner zweitgeborenen Tochter – verdanken wir Frau Hanne Schindler, geboren am 10.03.1930 in Donauwörth. Ihr Vater Gotthard, Franz Rappl und zwei weitere Söhne von Carl Rappl und Johanna Dinger waren Brüder. Frau Schindler ist somit Nichte Franz Rappls bzw. auch Cousine Jolas – Violanthe Rappls –, mit der sie eine aus Kindertagen stammende Freundschaft verband.
Im Januar 2015 benachrichtigte ich alle auffindbaren Personen aus dem Umfeld Violanthes über ihr Ableben. Lediglich eine einzige Rückantwort erhielt ich – von Frau Schindler. Nach telefonischem Kontakt bot sie mir an, Teile aus ihrer Familienchronik für meine Aufarbeitung nutzen zu dürfen und mich in allen weiteren Fragen, so gut es ihr möglich sei, zu unterstützen. Diesem Angebot folgte ein schriftlicher Austausch zwischen uns, der die bisher gegebenen Informationen komplettiert und den ich deshalb hier anfüge:
19.03.2015
Sehr geehrte Frau Schindler!
Ich sitze am Entwurf zur Biographie Franz Rappls – dank Ihrer Zutaten habe ich
einiges Material. Meine Münchener Freundin, die das blinde Zehnfingersystem
beherrscht, schreibt gerade die „Botschaft vom Geiste“ ab. Darf ich Sie um
kurze Beantwortung dieser wichtigen Fragen bitten:
1. Am Telefon nannten Sie jemanden „Buchdrucker, Setzer, Verleger,
Buchhändler“: War damit Carl Rappl Senior gemeint, also Ihr Großvater, oder
schon Franz Rappl bzw. Gotthard oder Carl Junior?
2. Als allergrößtes Geheimnis tut sich mir im Moment die Tatsache auf, daß
Violanthe in den zehn Jahren, die wir uns kannten, mit keinem einzigen Wort mir
gegenüber je offenbart hatte, daß ihr Vater ein Dichter und Künstler war – ebenso
wie sie! – Ob Sie vielleicht eine Erklärung dafür haben? Oder anders gefragt:
Violanthe hat das Verhältnis zu ihren Eltern immer als problematisch, um nicht
zu sagen: als unerträglich beschrieben. In ihren Berichten über ihre Kindheit
standen stets die Lieblosigkeit und Beziehungsunfähigkeit ihrer Eltern und
deren Verhaftung in physischen und psychischen Zwängen im Vordergrund. Daß
nicht nur deren eheliche Gemeinschaft, sondern auch beider berufliche
Lebenswege mißlich verlaufen sind, wird zu den dürftigen
Erziehungsverhältnissen beigetragen haben. Auch legen die Schilderungen
Christines (aus dem Buch Violanthes „Walze contra Himmelreich“) nahe, daß Alkohol, Tabak, Vergnügungen und Müßiggang zum Alltag ihrer
Eltern gehörten. Erfahre ich nun aber, daß ihre Mutter Klavier spielte und
Musik studierte und lese ich die Schriften Franz Rappls – so tut sich mir ein
gewaltiger Widerspruch zwischen den Darstellungen Violanthes und der tiefen
Bewunderung auf, die ich nur schon dem beseelten Bilderreichtum der Werke Franz
Rappls entgegenbringen möchte. – Ob Sie mir dafür eine Erklärung geben könnten?
– Waren womöglich die ausgeprägten exzentrischen Charaktere ihrer Eltern, die
vielleicht sogar Voraussetzung zur Künstlerschaft sind, Ursache für diese
Vernachlässigungen? Oder gab es noch schwererwiegende Gründe für Violanthes
Geringschätzung?
3. Die dritte Frage ist einfach: Wo sind Sie geboren, liebe Frau Schindler? In
Donauwörth?, es geht aus Ihrer Familienchronik nicht hervor. – Dankeschön für
Ihre freundliche Mitarbeit und Ihre Mühe! – Mit großem Dank für alles grüßt Sie
von Herzen E. J.
Auch auf alle nachfolgenden Fragebriefe liegen uns ausführliche Antwortschreiben Frau Schindlers vor. Wir bedauern jedoch, daß Frau Schindler Ihre Zustimmung zu ihrer Veröffentlichung im September 2015 zurückgezogen hat. Ihrer Mitarbeit verdanken wir die authentischsten Informationen, die wir über das Leben Franz Rappls gewinnen konnten.
21.03.201524.03.2015
Liebe Frau Schindler,
ich danke Ihnen sehr von Herzen für Ihre große Mühe – und die sehr persönliche
Beantwortung meiner Fragen! – Das Porträt von Holger müßte aber bei mir sein, sonst
hätte ich es (wie das Porträt von Katrin) nicht photographieren können. Ich
habe es nun noch nicht gesucht, will das aber bis zu seinem Besuch hier klären.
– Ja, Violanthe hat zwar noch gesehen, was da im Entstehen ist, hat es aber
nicht vollständig mehr verstanden; sie war nur sehr ‚überrascht’, als plötzlich
auf dem Bildschirm ihre Bilder zu sehen waren! – Soweit für heute; ich melde
mich wieder bei Ihnen. – Dankeschön für alles; mit herzlichen Grüßen von E.
J.
20.04.2015
Sehr geehrte, liebe Frau Schindler, gestern nun habe ich Ihren Sohn in Berlin
getroffen: Wir haben das Grab Violanthes besucht und uns wirklich sehr angeregt
unterhalten! Die beiden Stunden vergingen wie im Fluge, so daß wir zum Ende hin
sogar andere interessante Themen vertagen mußten. Ich habe mich sehr gefreut,
Ihren Sohn kennengelernt zu haben!
Ich will Sie nicht unnötig warten lassen: Zwar sind die Ordner für Franz Rappl
auf meiner Seite nun schon präsent, ebenso wie drei Schriften von ihm, aber mit
der Arbeit an seiner und den Korrekturen an der Biographie Violanthes bin ich
seit unserem letzten Austausch so gut wie nicht vorangekommen: Neben den
alltäglichen Anforderungen hatten wir einen weiteren Trauerfall in unserer
Familie (die Mutter meiner Freundin ist mit 92 Jahren verstorben, wir waren
darauf vorbereitet) und eine andere von mir erwartete schriftliche Arbeit hat
mich zwischenzeitlich auch stark beansprucht. – Auch begreife ich immer mehr,
daß wir es bei Franz Rappl mit einem bedeutenden
Dichter zu tun haben – der (genauso, wie Violanthe!) eine entsprechende biographische
Einführung verdient! Und dazu gehört auch ein Verweis auf die geistige
Atmosphäre und die humanistischen und literarischen Konzepte, die diese Zeit
bestimmt haben. So spüre ich z. B. auch eine gewisse (ideelle) Verbindung F.
Rappls zu den inneren Absichten des ‚Bund Neuland‘, dem Rudolf Szyszkowitz
angehörte – der wichtigste Lehrer wiederum Violanthes. Zwischen seinen und den
Lebensdaten F. Rappls bestehen nur zehn Jahre Unterschied... – Die „Botschaft vom
Geiste“ ist wie eine kleine Bibel – zum Verständnis des höheren Lebens! – Andererseits
setzt dieser Text voraus, daß man von sich aus bereits einen gewissen Zugang zu
dieser Art Themen und Anschauungen errungen hat – genauso, wie das für eine
angemessene Rezeption der Werke Violanthes nötig ist… – Ich nehme es als
Geschenk und Ehre meines Lebens, daß ich diese Perlen retten, ausgraben und
ausstellen sollen darf! – Übrigens habe ich zwei weitere Werke Franz Rappls
entdeckt: „Das Ende der Entente“, 1921, 62 Seiten, und: „Der rote Schrecken – Was
wollen die Kommunisten (Bolschewiki)?“, 1921, 15 Seiten. – Ich bin in
Verhandlungen mit der Deutschen Nationalbibliothek, mir „Das Ende der Entente“
(in Kopie) zukommen zu lassen. – „Der rote Schrecken“ und „Der Geist – eine
Romandichtung“ sind derzeit leider verschollen... [Inzwischen liegt uns „Der
rote Schrecken“ vor; des weiteren haben wir von einem siebten Werke erfahren,
derzeit jedoch unauffindbar: „Der Baraber und die kapitalistische Demokratie“; hier die derzeit verfügbaren
Werke Franz Rappls.]
Dies alles soll Ihnen, sehr geehrte Frau Schindler, vor allem ein Verständnis
dafür verschaffen, warum ich mir bis zum Sommer Zeit gegeben habe, den Entwurf
fertigzustellen – zumindest soweit, daß auch Sie ihn lesen und ggf. Ihre
kritischen oder zustimmenden Bemerkungen dazu machen können, sofern Sie das
wünschen oder sich dazu inspiriert fühlen.
In Ihrem Nachruf für Violanthe hatten Sie geschrieben, daß Ihr Sohn Friedemann
Ihre Photos von Violanthe bearbeitet hat. – Meine Frage: Diese Photos sind doch
digitalisiert, könnten also auf einer CD verschickt werden; ob ich diese
Zusammenstellung bekommen dürfte oder ausgewählte Photos daraus, versehen mit
den zugehörigen Jahreszahlen oder anderen Hinweisen? Ich könnte sie in die
private Sammlung Violanthes Bilder einfügen. – Ich lege Ihnen einen Faltplan
vom Friedhof bei. – Mit dieser Lagebeschreibung (in doppeltem Sinne) verbleibt
Ihnen, mit allen herzlichen Grüßen und besten Wünschen, E. J.
26.04.15
Sehr geehrte Frau Schindler, ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag! Ich
erlaube mir, mich nochmals mit einer sehr persönlichen Frage über Franz Rappl
an Sie zu wenden:
Seine Schriften offenbaren das große Talent, die Gnade und die tiefe Inspiration,
die ihm gegeben waren, über die bedeutendsten und schönsten Dinge in unserem
menschlichen Dasein zu referieren. Das ist eine außergewöhnliche Gabe. Franz
Rappl gehört für mich zu jenem deutschen Dichterkreis, deren Werke als
herausragend bezeichnet werden müssen. Unwillkürlich erscheint mir immer wieder
Friedrich Hebbel (1813-1863) vor meinem geistigen Auge, mit dem ich Franz Rappl
– ich weiß nicht warum? – in Zusammenhänge stellen möchte...
Meine Frage: Wie stimmte das, was Franz Rappl ergriffen und was er geschrieben
hatte, seine Gedanken, die er über Gott und den Geist aufgeworfen und in
wunderbar lyrischer Art beantwortet und verdichtet hat, mit seinem Leben
überein? Wie haben sich diese sinnlichen Fähigkeiten und leuchtenden
Erkenntnisse in seinem Alltag gezeigt: Wie hat er z. B. den Zusammenbruch
zuerst seines Geschäftes und später der Ehe verkraftet; konnte er seine hohe
gläubig-wissende Weltanschauung trotz dieser Schicksalschläge bewahren oder
brach sie womöglich danach in seiner Seele zusammen? – Wissen Sie etwas
darüber? – Wissen Sie, wie Franz Rappl vor allem nach der Trennung von Ilse
gelebt, wie er seinen Rückzug in die ihm gebliebenen Verhältnisse gemeistert
hat? – Sie haben ja, liebe Frau Schindler, in einem frühen Brief schon erklärt,
daß Sie nicht urteilen wollen über Menschen, die vom Leben ungerecht behandelt
werden. Es wäre aber von Bedeutung zu erfahren, wie der einzelne Mensch mit
seinem Schicksal umgeht, insbesondere in diesem Fall, wo höchste geistige
Anschauungen auf schwerste Demütigungen und Heimsuchungen treffen. Unabhängig
von allen bürgerlichen Wertmaßstäben, nach denen ein Leben als gescheitert
gilt, sofern es unfähig war, ein gesichertes Auskommen zu erzielen und
materielle Werte anzuhäufen, stellt sich die Frage nach dem inneren Wert eines
Menschen, nach seinem Charakter, seinen moralischen oder inhaltlichen Kämpfen,
die er einer bestimmten Sache wegen mit sich und der Welt ausficht. Armut, Mißachtung
oder niedere Stellung vor der Welt sagen ja nichts über den Menschen an sich,
seine Ideale, seine innere Größe aus. Im Gegenteil: In der Welt zeigt sich ja
eher ein Zusammenhang zwischen materieller Armut und geistiger Anmut, genauso
wie zwischen Wohlstand und geistigem Elend. Ich will das nicht pauschalisieren,
es wäre nur von Interesse zu erfahren, wie Franz Rappl – gerade unter den ihm
gegebenen hohen Auffassungen – sein äußerlich dürftiges Leben indessen
beantwortet und gemeistert hat. Ging von ihm trotz seiner Situation z. B.
Zufriedenheit aus, war ihm das Vertrauen in die von ihm gebildeten heiligen
Begriffe geblieben? – Wie stark mögen sie ihn zu stützen vermocht haben, seine
Lebensenttäuschungen, geistig wie materiell, zu ertragen? Hat er überhaupt
‚Enttäuschung‘ empfunden? Wie hat er den physischen und psychischen Zusammenbruch
erlebt und überlebt – vor dem Hintergrund seiner spirituellen Eingebungen? – Dies
wären unsere Fragen... Ich kann mir nämlich nur schwer vorstellen, daß derart
umfängliche Inspirationen und tiefdringende Einsichten, wie sie Franz Rappl
errungen hatte, im alltäglichen Leben eines solchen Menschen keinen Ausdruck
fänden – und ihn durch alle Katastrophen hindurchzutragen wüßten oder ihm sogar
als Bestätigung seiner besonderen Fähigkeiten und Kräfte erschienen sein mögen…
Hätten Sie, liebe Frau Schindler, noch einmal die Geduld, auf diese Fragen,
sofern es Ihnen möglich ist, zu antworten? – Für alle Ihre Mithilfen, sehr
geehrte Frau Schindler, wie immer meinen aufrichtigen großen Dank. Ich hoffe
sehr, daß es Ihnen recht gut geht. Herzlich grüßt Sie und verbleibt Ihnen E.
J.
02.05.15
Sehr geehrter Herr [Friedemann] Schindler!
Vielen herzlichen Dank für die Zusendung dieser wunderbaren Photos – und der
beiden ausgezeichneten Collagen mit Untertitelungen! Phantastisch – ich bin
überaus angetan: Diese Bilder schließen nicht nur weiße Flecken an so manchen
biographischen Stellen (z. B. kannte ich bislang kein einziges Bildnis von
Violanthes Mutter), schön ist zudem, daß sie die Beschreibungen Ihrer Mutter
aus ihrer Familienchronik so plastisch bereichern! Auch daß ich nun Bilder von
Fränzle und Ruth aus dieser Zeit habe! – Vielen Dank! – Und Qualität und
Datendichte sind perfekt! – Darf ich alle diese Photos öffentlich machen, d. h.
sowohl also in die Biographien Violanthes und Franz Rappls als auch in den schon
vorhandenen Viewer (Violanthe Rappl/Private Fotos) auf meiner Seite (www.werkvermächtnisse.de) einfügen? Um diese Genehmigung möchte ich Sie sehr freundlich noch
bitten. – Ich sende eine Kopie dieser Antwort auch an Ihre Mutter und Ihre
Geschwister Holger und Katrin, von denen ich mittlerweile die E-Mail-Adressen
besitze. Mit herzlichen Grüßen und großem Dank nochmals verbleibt Ihnen E.
J.
04.05.15
Liebe Frau Schindler!
Wie leid es mir tut, daß Sie gesundheitlich zu tun haben! Gute Besserung Ihnen!
Vielen lieben Dank für Ihren so wertvollen Brief! Sie geben uns – mir und der
Welt – unschätzbare Informationen damit;
niemand außer Ihnen kann sie uns noch geben! Danke, daß Sie sich diese Mühe gemacht
haben! – Ich bleibe kurz, wünsche Ihnen gute Genesung! – Herzlich grüßt Sie,
mit den allerbesten Wünschen zu Ihrer Erholung, E. J.
06.05.15
Ich stimme Ihnen vollkommen zu, liebe Frau Schindler. Da diese Dinge jedoch – wie
ich immer deutlicher sehe – entscheidend auch die großen künstlerischen Themen
Violanthes bestimmt haben, möchte ich doch versuchen, auch die prekären oder
widersprüchlichen Bereiche des Lebens Franz Rappls – respektvoll – anzumerken.
Zuletzt beherrschen uns diese dämonischen Mächte stärker als jede andere
Mitgift... Entweder wir können sie bezwingen oder wir müssen mit ihnen leben – solange
wir sie noch nötig zu haben glauben zu unserer Selbstrettung… Violanthe hat
diese heiklen Dinge in ihrem autobiographischen Büchlein selbst angesprochen.
Ich will aber Ihre Bedenken, lieber Frau Schindler, unbedingt berücksichtigen:
Sie sollen das Vorrecht haben, Passagen aus dem Entwurf, so sie Ihnen nicht
zusagen, wegzustreichen. – Schön, daß es Ihnen wieder besser geht, das beruhigt
und freut mich sehr! – Mit herzlichen Grüßen von E. J.
18.05.15
Liebe Frau Schindler,
bevor ich Ihnen das Biographiefragment über Franz Rappl zusenden werde, möchte
ich Sie höflich um Beantwortung noch dieser drei Fragen bitten:
1. Wir hatten schon geklärt, daß F. Rappl in Wertheim verstorben und beerdigt
wurde. Wie steht Ihre Erinnerung dazu, daß er am Ende seines Lebens bei seiner
Tochter Ruth Unterschlupf fand? Wann mag er nach Wertheim gezogen oder dorthin
verbracht worden sein? Möglicherweise irren Sie sich in diesem Punkt?
2. In Ihrer Chronik heißt es mehrfach, daß F. Rs. RECHTES Ärmchen nur als
kleiner Stumpf ausgebildet war: Alle Bildnisse von ihm zeigen aber den linken
Arm versteckt oder ohne Hand. Schauen Sie auf das große Kohle-Porträt direkt
unter seinem Namen auf meiner Seite oder auf das Bildnis mit dem Zigarillo oder
auf das als Bettler: Ich habe diesen Fehler in meiner Schrift schon korrigiert;
würden Sie dem zustimmen?
3. Könnten Sie noch einmal überprüfen, ob der Konkurs der Druckerei und das Geburtsjahr
Violanthes wirklich zusammenfallen: 1927? Dann hätte es die Druckerei nur fünf
Jahre gegeben? Auch könnte sie schon 1921 gegründet worden sein, denn schon
1921 erscheint „Das Ende der Entente“ im ‚Tagewerkverlag Donauwörth‘?
Danke, liebe Frau Schindler, für Ihre große Mühe! – Es wünscht Ihnen alles Gute
und grüßt Sie herzlich Ihr E. J.
Werk und Leben Franz Rappls
Welt und Biograph verdanken Frau Hanne Schindler die Wiederentdeckung Franz Rappls. Sie war es, die ihm – mir – bestätigen konnte, daß es sich bei dem unscheinbaren Heftchen mit dem Titel „Der Wandersmann der Liebe“, das ich fast zerfallen im Nachlaß Violanthes fand, um eine Schrift ihres Vaters handelte – des Dichters Franz Rappl. – Verse der Entzückung und Entrückung über das Wundersame und Unfaßbare des Lebens, ein poetisches Kleinod der Liebe zum heiligen Dasein:
...Aller Menschensehnsucht Bronnen
aller Menschenliebe Haus,
Wonne über allen Sonnen
strahlst du Herz des Vaters aus.
Über seine dunkle Erde
geht der Wandersmann dahin,
ahnungslos, auf welchen Fährten
die verschlungnen Pfade ziehn. ...
Daraufhin begann meine Recherche – und meine Überraschung und Begeisterung wuchs täglich: Im weltweiten Antiquariat fanden sich zwei restliche Exemplare: „Botschaft vom Geiste“ (1927) und „Das Märchen Du“ (1920). Nachdem diese Bücher bei mir waren, entdeckte ich auf der letzten Seite der ‚Botschaft‘ den Vermerk, daß F. Rappl noch ein weiteres Werk verfaßt hat: die Romandichtung „Der Geist“. Und zwei weitere Treffer fanden sich im Netz: „Der rote Schrecken? – Was wollen die Kommunisten (Bolschewiki)? – Zur deutschen Märzrevolte“, Verlag revolutionär-demokratische Bücherei, 1921, 15 Seiten; und: „Das Ende der Entente – Erwägungen zur Weltpolitik“, Tagewerkverlag Donauwörth, 1921, 62 Seiten. Dieses Werk konnte ich in Kopie bei der Deutschen Nationalbibliothek erwerben; das andere – „Der rote Schrecken?“ fand sich in der Hoover Libary in Kanada. Dort im Buchrücken der Hinweis auf Werk sieben: „Der Baraber und die kapitalistische Demokratie.“ Wir kennen derzeit also sieben Werke von Franz Rappl:
„Das Märchen Du“,
als Manuskript 1920 gedruckt in der Buchhandlung Ludwig Auer in Donauwörth, 45
Seiten;
„Das Ende der Entente – Erwägungen zur Weltpolitik“,
Tagewerkverlag Donauwörth, 1921, 62 Seiten;
„Der Wandersmann der Liebe“,
Tagewerkverlag Donauwörth, Erscheinungsjahr unbekannt, wahrscheinlich jedoch
nach 1922, dem Gründungsjahr der eigenen Druckerei, 64 Seiten;
„Botschaft vom Geiste“,
Tagewerkverlag Donauwörth, 1927, 63 Seiten;
„Der rote Schrecken? – Was wollen die Kommunisten (Bolschewiki)? – Zur
deutschen Märzrevolte“,
Verlag revolutionär-demokratische Bücherei, 1921, 15 Seiten.
„Der Geist“,
eine Romandichtung, Verlag, Erscheinungsjahr und Seitenzahl unbekannt;
„Der Baraber und die kapitalistische Demokratie“,
erschienen im Verlag revolutionär-demokratische
Bücherei,
Erscheinungsjahr und Seitenzahl unbekannt.
Die fünf erstgenannten befinden sich in unserem Besitz und sind hier verfügbar. – Wer unserem Portal bzw. dem hier tätigen Biographen die beiden derzeit verschollenen Schriften von Franz Rappl
„Der Geist“, eine Romandichtung
(Verlag, Erscheinungsjahr und Seitenzahl unbekannt)
Sowie „Der Baraber und die kapitalistische Demokratie“
(erschienen im Verlag revolutionär-demokratische
Bücherei,
Erscheinungsjahr und Seitenzahl unbekannt)
beschaffen kann, dessen Bemühungen vergüten wir (incl. Buch) mit je 100 Euro.
Gegen diese Tendenzen erhob sich eine humanistisch-intellektuelle Bewegung, die Einflüsse und Begriffe aus der ‚Volks- und Völkerkunde‘ aufnahm, von den Ideen einer ‚Schule zur Ausbildung des europäischen Geistes‘, die den Debatten um eine ‚Konservative Revolution‘ nahestanden, oder von der ‚Neugeist-Bewegung‘, die sich der allgemeinen ‚Mythologischen Aufklärung‘ oder ‚Geistlichen Einweihung‘ zugewandt und verschrieben hatte. Auch wenn auf dem Gebiet historischer Verläufe jede Vereinfachung eher ungeeignet ist, wahrhaft tiefgründige Erkenntnisse zu fördern, so soll es hier ausnahmsweise genügen, die Intentionen dieser Strömung unter einem einzigen Leitgedanken zusammenzufassen: den Menschen anregen und aufwecken zu wollen, den ‚spirituellen Erkenntnisweg‘ zu wählen und zu betreten. Die Atmosphäre dieser Zeit muß jedenfalls stark aufgeladen gewesen sein von dieserart schwankenden Ahnungen und Hoffnungen: daß der Mensch endlich doch ansetzen könnte zu einem ‚Quantensprung‘ in seiner evolutionären Entwicklung und fähig werden, sowohl sich selbst als auch seine äußeren Umstände und Bedingungen revolutionär zu verändern…
In diesem Klima ideeller Sehnsucht nach vollumfassender Erneuerung des Menschen bildeten sich zahlreiche avantgardistische Strömungen – nicht nur des theoretischen Bereiches, in den Geisteswissenschaften also und des Schulbetriebs, sondern auch auf dem Gebiet der Kunst, der Malerei und Dichtung (vgl. hier). So etablierte etwa der Kreis, der sich seinerzeit um den Dichter Stefan George gebildet hatte und dem auch die Stauffenberg-Brüder angehörten, den Begriff des ‚Geheimen Deutschlands‘ – als Sinnbild für den ‚wahren deutschen Geist‘, der sich hoher moralischer und kultureller Ideale verpflichtet fühlte und von der ‚ideellen Erneuerung Europas‘ träumte – gegen Materialismus und Nihilismus…
Auch wenn Friedrich Nietzsche (1844-1900) alle ‚christliche‘ oder ‚platonische Metaphysik‘ zuwider war, so ist unzweifelhaft, daß auch er – und mit Reifung seines Werkes immer direkter – von der ‚Überwindung des alten Menschen‘ träumte und ein Oeuvre höchster psychologischer und vergeistigter Anschauungswelt hinterlassen hat. Setzten wir die tiefe Erschütterung über die Banalität und Verkommenheit menschlicher Daseinsformen und Wertsysteme als Ausgangspunkt seiner radikalen Kritik, so dürften wir ihn vielleicht sogar noch als den frühesten und klassischen Anwalt dieser hier abzugrenzenden Epoche auswählen. Von ihm aus bilden wenigstens drei Generationen von Denkern, Dichtern und Deutern eine keineswegs homogene aber in ihren Überbegriffen konforme Gemeinschaft: Sie fühlten in sich die Überlieferungen noch der Ideen- und Wertewelt der Romantik lebendig, entwuchsen ihnen aber bereits – über den Expressionismus hinaus in die Neuzeit einer übersinnlich orientierten Bewußtseinsentwicklung. (Vgl. ggf. auch: Europäische Kulturepochen.)
Wählten wir also Nietzsche als erste Vertretung und Markierung dieses Abschnitts und erklärten seinen Beitrag im Sinne dieser großen Einweihungsbewegung gewissermaßen zum philosophischen Fundament, so könnten wir – um diesen historischen Bereich gleichermaßen nach oben hin abzugrenzen – in Hinblick gerade auch auf die spirituelle Aufklärung, der sich diese Strömung verpflichtet fühlte, die ungarische Künstlerin und Schriftstellerin Elisabeth Haich (1897-1994) zu ihrer letzten zumindest aber ältesten Stellvertreterin bestimmen… Selbstverständlich erhebt diese Umgrenzung (wie auch die hier getroffene Auswahl) keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die damit gesetzten personalen und thematischen Fixpunkte sollen lediglich unser Einfühlungsvermögen in den begrifflichen Horizont jener neugeistlichen Ideenwelt anregen, von dessen Leuchten sich drei Generationen von Künstlern, Dichtern und Philosophen angezogen fühlten. – In Reihenfolge ihrer Geburt:
Friedrich Nietzsche, 1844-1900
Rudolf Steiner, 1861-1925
Gustav Meyrink, 1868-1932
Stefan George, 1868-1933
Hugo von Hofmannsthal, 1874-1924
Rainer Maria Rilke, 1875-1926
Oskar Adler, 1875-1955
Carl Gustav Jung, 1875-1961
Hermann Hesse, 1877-1962
Egon Friedell, 1878-1938, und Oswald Spengler, 1880-1936 („Kulturgeschichte der Neuzeit“ und
„Untergang des Abendlandes“ – so bezeichnend die Titel, so unterschiedlich in
ihren ideellen Orientierungen)
Leopold Ziegler, 1881-1958
Romano Guardini, 1885-1968
Franz Rappl, 1894-1970
Elisabeth Haich, 1897-1994
Erich Fromm, 1900-1980
Karl Otto Schmidt, 1904-1977
(Neugeist Bewegung)
Rudolf Szyszkowitz, 1905-1975 (Neugeist Bewegung)
Bodo Schütt, 1906-1982
(vgl. seine Gedichte, die erstaunliche thematische und formale Deckungen zur
Lyrik F. Rappls aufweisen – denken wir nur an „Geist und Gestalt“)
Friso Melzer, 1907-1998
Herbert Fritsche, 1911-1960
Die Melange dieser im weitesten Sinne dem Metaphysischen zugewandten Autoren und die Präsenz ihrer Werke vermitteln eine Vorstellung über die – neben aller politischen Gärung sich ausbreitende – spirituelle Orientierung jener Zeit, in die Franz Rappl hineingeboren wurde. So wie seine persönlichen Eingebungen selbst Ausdruck dieser nach neuen Idealen strebenden Gegenwart gewesen sind, gleich so werden seine weltanschaulichen und künstlerischen Entwicklungen durch diese ihn umgebenden Beispiele angeregt, bestätigt und verstärkt worden sein.
An dieser Stelle müssen wir erinnern, daß sich von diesem geistigen Feld zur ‚Erneuerung deutscher Gotterkenntnis‘ auch der deutsche Faschismus genährt hat. Während die urtümlichen idealistischen Bestrebungen dahin gingen, das individuelle Bewußtsein zu einem universellen zu transzendieren und somit die kosmische Einheit aller Völker herbeizuführen, pervertierte die nationalsozialistische Diktatur alle völkischen Begriffe, die von der hier umrissenen anthroposophischen Bewegung genauso aufgegriffen wurden wie alle östlichen Weisheitslehren. – Doch dieser Grat historischer Auslegungen ist nach wie vor nicht gefahrlos begehbar, weswegen wir – der Vereinfachung und Konfliktvermeidung wegen, nicht aber ohne Bedauern! – sowohl den deutschen Kulturkritiker, Psychologen und Schriftsteller Ludwig Klages (1872-1956) als auch die deutsche Lehrerin, Ärztin und Philosophin Mathilde Friederike Karoline Ludendorf (1877-1966) nicht mit in unsere ‚offizielle‘ Liste aufgenommen haben – obgleich gerade ihr Grundmotiv, in zahlreichen Schriften abgehandelt, das mentale Kontinuum dieser Zeit am populärsten widerspiegelte: den Menschen zu seiner göttlichen Genialität zurückführen zu wollen... Dieses Leitbild, wie das gesamte ideelle Gebäude dazu – nur in östlicher Sprache und Bezugnahme – hat der indische Hindu-Mystiker, Yogi, Guru und Politiker Sri Aurobindo Ghose (1872-1950) wie kein Zweiter in seinen philosophischen Essenzen zur Vollendung gebracht. (Vgl. dazu: Sri Aurobindo, „Zyklus der menschlichen Entwicklung“, Otto-Wilhelm-Barth-Verlag, München, 1955.) Auch er fehlt – wie viele andere – in unserer hier auf deutschsprachige Autoren eingeschränkten Auswahl.
Alle diese religiös-aufklärerischen Schöpfer folgten ihrer intuitiven, durch Vertiefung oder Erleuchtung gewonnen Einsicht, daß der Mensch ein von GEIST durchdrungenes Wesen ist, dessen Bestimmung daher nicht allein in seinen weltlichen Besorgungen liegen kann, sondern nur zu verstehen und herauszuspüren sein wird aus den hochfeinen Mitteilungen seines innertiefsten Wesens. Dazu allerdings wäre es nötig, den Menschen auf diese der Äußerlichkeit verborgenen Verkündigungen einzustimmen, ihn anzuleiten und zu initiieren nach dem wahren Frieden und der überirdischen Wirklichkeit Seiner Selbst, in sich selbst zu suchen. Wenn dieses geistige oder geistliche Vorhaben die Wirkung eines übergeordneten ‚primären Bewußtseins‘ anerkennt, als eigentliche Kraft und Potenz alles Lebens, aller Erkenntnisse und Entwicklungen, so fehlten in der oben gebildeten Liste zusätzlich noch die naturwissenschaftlichen Gelehrten dieser Zeit – da sie auf ihrem Gebiete zu entsprechenden Schlüssen fanden. Um von ihnen nur die bedeutendsten in unsere (virtuelle) Auswahl einzureihen: Max Planck (1858-1947), Niels Bohr (1885-1962), Albert Einstein (1879-1955) und Werner Heisenberg (1901-1976). Denn nichts anderes besagt die von ihnen begründete Quantenphysik: daß die Materie, als dominante Eigenschaft, so wie wir sie wahrnehmen und sie uns in allen psychischen und physischen Aspekten erscheint, nicht vorhanden ist! Die dingliche Wirklichkeit ist nicht die Realität. – Oder wie sagte Schiller (1759-1805, in Wallensteins Tod III, 13): „Es ist der Geist, der sich den Körper baut“ – ursprünglich bei Vergil (70 v. Chr.-19 v. Chr.), dem wichtigsten lateinischen Dichter und Epiker der klassischen römischen Antike: „Mens agitat molem: Der Geist bewegt die Materie.“ – Was sich uns zeigt und was determiniert werden kann – es sind ‚Zwischenräume‘, zwischen denen sich gewisse ‚Potentiale‘ bewegen. Und diese formen oder entfalten sich – als Beziehungsstruktur – zwischen ihren exatomaren – immateriellen – Kräften, Schwingungen, Interferenzen: Wir haben von einer immateriellen Permanenz auszugehen, einer Welt der Ideen, die über Bewußtsein und Willen verfügt und die alles belebt und bewegt. – Lassen wir Max Planck selbst sprechen:
„Es gibt keine Materie an sich. Alle Materie entsteht und besteht nur durch eine Kraft, welche die Atomteilchen in Schwingung bringt und sie zum winzigsten Sonnensystem des Alls zusammenhält. Da es im ganzen Weltall aber weder eine intelligente Kraft noch eine ewige Kraft gibt – es ist der Menschheit nicht gelungen, das heiß ersehnte Perpetuum mobile zu erfinden – so müssen wir hinter dieser Kraft einen bewußten intelligenten Geist annehmen. Dieser Geist ist der Urgrund aller Materie. Nicht die sichtbare, aber vergängliche Materie ist das Reale, Wahre, Wirkliche – denn die Materie bestünde ohne den Geist überhaupt nicht –, sondern der unsichtbare, unsterbliche Geist ist das Wahre! Da es aber Geist an sich ebenfalls nicht geben kann, sondern jeder Geist einem Wesen zugehört, müssen wir zwingend Geistwesen annehmen. Da aber auch Geistwesen nicht aus sich selbst sein können, sondern geschaffen werden müssen, so scheue ich mich nicht, diesen geheimnisvollen Schöpfer ebenso zu benennen, wie ihn alle Kulturvölker der Erde früherer Jahrtausende genannt haben: Gott!“ (Zitiert aus dem Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, Abt. Va, Rep. 11 Planck, Nr. 1797; vgl. auch viele andere ähnliche Aussagen in: Max Planck, „Vorträge und Erinnerungen“, S. Hirzel Verlag, Stuttgart, 1949.)
Wie immer wir diesen latenten Urgrund jeglicher Wirkung (jenseits noch der Energie) auch nennen wollen, ob Seele oder Verstandesherz, ob Geist oder Gott, ob Licht, Idee oder Bewußtsein, das ist unerheblich; seine spezifische Fähigkeit jedoch ist einzigartig: Fragen formulieren und auf sie antworten können! Die eigentliche ‚Substanz‘ jeder Frage und damit die ‚Substanz des Lebens‘ schlechthin – sie ist und bleibt etwas Immaterielles, ein geistiges Element...
In diesem Zusammenhang dürfte wenig bekannt und umso interessanter sein, daß die Weltanschauungen M. Plancks, N. Bohrs und W. Heisenbergs stark von den spirituellen Philosophien östlicher Weisheitslehrer beeinflußt worden waren. (A. Einstein empfand die Idee eines persönlichen Gottes kindisch und hat stets seine nichtreligiöse Haltung bekräftigt. In einen Brief von 1956 schreibt er: „Das Wort Gott ist für mich nichts als Ausdruck und Produkt menschlicher Schwächen, die Bibel eine Sammlung ehrwürdiger, aber doch reichlich primitiver Legenden.“) Im Bestseller der 80er Jahre „Das neue Denken – Aufbruch zum neuen Bewußtsein“ schildert der österreichische Physiker, Systemtheoretiker und Philosoph Fritjof Capra (*1939), der damals führende Interpret des wissenschaftlich-ganzheitlichen Denkens, wie sich in den Fragestellungen der genialen Wissenschaftler seiner Zeit ein grundlegender Wandel vollzog: Sie erkannten, daß sie der klassischen Wissenschaft nicht untreu werden müssen, auch wenn sich ihre rationalen und experimentellen Ergebnisse immer stärker den religiösen Zeugnissen asiatisch-orientalischer Weltanschauung anzunähern begannen. Sie stellten die ‚ungeheuerliche‘ aber vollkommen richtige Frage: ‚Wie transzendiere ich mein Denken, ohne dabei den wissenschaftlichen Boden zu verlassen‘ – und vollzogen damit die Synthese zwischen Physik und Mystik! – F. Capra ist schon als Student und später, als er bereits ein populärer Autor war, N. Bohr und W. Heisenberg begegnet; er beschreibt N. Bohr als einen
„…Mann mit außerordentlicher Intuition und tiefer Achtung vor den Geheimnissen der Welt. Er war von der religiösen Philosophie Kierkegaards und den mystischen Schriften von William James beeinflußt. Bohr schätzte axiomatische [auf Axiomen beruhende = nicht anzuzweifelnde] Systeme überhaupt nicht und erklärte wiederholt: >Alles was ich sage, sollte nicht als Affirmation, sondern als Fragestellung verstanden werden.< Im Gegensatz zu ihm war Werner Heisenberg ein klarer analytischer und mathematischer Geist, tief verwurzelt im griechischen Denken, mit dem er seit früher Jugend vertraut war.“
Aber auch er, Heisenberg, so erfahren wir einige Seiten später, war sich der fundamentalen Vernetzung und wechselseitigen Abhängigkeit aller Phänomene und der zutiefst dynamischen Natur der Wirklichkeit wie
„…auch der Betonung des inneren Zusammenhangs im östlichen Denken bewußt. ... 1929 verbrachte er einige Zeit in Indien als Gast des berühmten Dichters Rabindranath Tagore, mit dem er lange Gespräche über Naturwissenschaft und indische Philosophie führte. Diese Einführung in indisches Denken habe ihm sehr wohl getan, berichtete Heisenberg. Sie habe ihm gezeigt, daß die Erkenntnis der fundamentalen Relativität, der inneren Verknüpfung und Vergänglichkeit aller Dinge, die für ihn selbst und seine Physikerkollegen so schwer zu akzeptieren gewesen war, die eigentliche Grundlage der indischen spirituellen Überlieferungen ist. >Nach den Gesprächen mit Tagore ergaben einige der Ideen, die mir vorher so verrückt erschienen waren, auf einmal viel mehr Sinn<, sagte Heisenberg. >Das war für mich eine große Hilfe.<“
Für F. Capra war W. Heisenberg einer der großen Weisen der europäischen Kultur. In einem Artikel von 1971 („Der Tanz des Shiva“ – vgl. dazu zwei Arbeiten) verwies Capra auf die Parallelen von akademischer Physik und östlicher Mystik. Von allen Reaktionen darauf hat ihn Heisenbergs Antwort am meisten begeistert: „Ich bin stets von den Zusammenhängen zwischen den uralten Lehren des Ostens und den philosophischen Konsequenzen der modernen Quantenphysik fasziniert gewesen.“ Und an anderer Stelle fügt Capra hinzu: „Bohr und Heisenberg repräsentierten komplementäre Pole des menschlichen Geistes, deren dynamisches und oft dramatisches Zusammenwirken ein einzigartiges Geschehen in der Geschichte der modernen Naturwissenschaft war und zu einem ihrer großartigsten Triumphe führte.“ – …genauso wie zum größten wissenschaftlichen Sündenfall des 20. Jahrhunderts, so wollen wir hier nicht ausblenden, an dem diese vier genialen Physiker, wenn auch nur indirekt, beteiligt gewesen waren: zum Bau der Atombombe... Auch zu diesem abgründig-geheimnisvollen Paradoxon, dem nur in Ahnungen erst faßlichen Mysterium unserer Welt, wird die wahre Wissenschaft noch gelangen: daß nichts sich lösen läßt von seinem Gegensatz...
(Die Zitate sind den Seiten 16-49 des genannten Buches entnommen und neu zusammengesetzt worden. Daß mir diese Einlassung überhaupt möglich wurde, verdanke ich dem ‚mystischen‘ Umstand – oder ‚Zufall‘?! –, daß beide Bücher, das besagte und das andere große Werk Capras von 1982: „Wendezeit – Bausteine für ein neues Weltbild“, in Violanthes Bücherschrank gestanden haben!)
Alle Schöpfung, alle Entwicklung geht also von den ‚inneren Fragen und Antworten‘ aus, von den transzendenten (auch: seelischen) Möglichkeiten, auf die Erscheinungen und Phänomene unseres Daseins zu reagieren: Wie interpretiert mein Geist die Welt – zu welcher Übersetzung (Überzeugung) ist er befähigt worden?! Mit welcher Fragestellung, auf welche Hypothese zu, von welcher Seite aus, trete ich an die Wissenschaft heran?! Unter anderem Horizont verändern sich meine Wahrnehmung und mein Beweggrund – und somit die Frage, die ich stelle und die Antwort, die ich suche… Und auch die Mittel und Wege, hin zu den gesuchten oder gefundenen Antworten verzweigen sich hier immer mehr... So gingen aus der 68er-Bewegung mit ihrer Forderung, das Persönliche politisch zu denken und das Politische persönlich zu verantworten, zwei gesellschaftliche Ideale hervor: Dem einen schien der indische Weg das größere Heilversprechen zu bieten, die Suche in der Meditation, in der Verinnerlichung, in der Weisung und Leitung durch den Meister; dem anderen, dem gegensätzlichen, zwang das rationale und sich radikalisierende Denken den Terror ab... – Hier aber liegt der Schlüssel zur Übersteigung all unserer zwischenmenschlichen Probleme: Der Intellekt kann das Wesen der Dinge nicht erfassen; greift er noch so tief, immer gelangt er an Erkenntnisse, die ihm widersinnig oder absurd erscheinen – müssen. Die bekannten sinnlichen und sprachlichen Begriffe reichen nicht mehr aus, die paradoxen oder natürlichen (oder übernatürlichen) Phänomene dieser höheren Wirklichkeit – die Physik und Erkenntnisse der Quantenwelt – angemessen zu beschreiben. Nur der Mystiker, dessen Geist, Denken, Empfinden, Handeln und Ausdrücken die verstandesmäßige Erkenntnis zu transzendieren fähig ist, kann in Bereiche vordringen, die der ‚göttlichen Realität‘ mit all ihren noch ‚unerklärlichen Geheimnissen‘ ein Tor öffnet...
In vielen esoterischen Schulen wurde der ‚innere Weg‘ gleichgesetzt mit einer Abwertung weltlicher Annehmlichkeiten und der Abkehr von allen äußerlichen Attributen. Der indische Guru und Begründer der Transzendentalen Meditation, Maharishi Mahesh Yogi (1918-2008), lehrte jedoch den gegenteiligen Weg, indem er anbot, durch Meditation den Geist und damit das Wahrnehmungsvermögen zu erweitern – und so wiederum auch die subjektiven Eindrücke und Anschauungen innerhalb der sichtbaren äußeren Welt. Nicht also ‚Verzicht‘ und ‚Weltentsagung‘ sollen Ziel des Lebens sein, sondern Entfaltung und immer feinere Durchdringung und Transzendierung auch aller weltlichen und äußerlichen Erfahrungen. In seinem maßgeblichen Kommentar zur Bhagavadgita schrieb Maharishi im Jahre 1967: „Leben auf der Grundlage von Weltentsagung! Das ist eine völlige Entstellung der indischen Philosophie und hat nicht nur den Weg zur Selbstverwirklichung versperrt, sondern auch unaufhörlich die Wahrheitssucher in die Irre geführt. Tatsächlich hat sie dies der Möglichkeit beraubt, jemals das Ziel zu erreichen.“
Es ist der Geist in uns, der uns ‚fragen und antworten‘ läßt. Wie aber sollte ich höhere Antworten oder tiefere Einsichten erlangen, wenn ich meinem Geist die ihm natürliche Aktivität zu nehmen trachtete und ihn in eine ‚erzwungene Stille‘ drängte? Maharishi lehrte, daß der Geist von sich aus seinen eigenen Erleuchtungszustand sucht, sobald diese ihm angeborene Neigung nur entsprechend gefördert und gelenkt werde. Daher nannte er die Meditation „mühelose Mühe“. Der Geist kann zu seinem Ursprung in die Stille, in der er sich selbst als Reines Bewußtsein wiedererkennt, nur dann ‚zurückkehren‘, wenn er sein übliches trennendes Denken aufgibt – wozu er sich kraft seiner denkerischen Fähigkeiten aus der horizontalen bzw. linearen Abfolge seiner Aktivität in die Vertikale seiner Tiefe, seines Wesens bewegen muß. Dort am Grunde wird ihm seine eigene Ursache gewahr: seine Unendlichkeit. Und in dieser wiedergewonnenen Selbsterkenntnis wird es ihm ein Leichtes, auch alle subjektiv-materiellen Aspekte seines Erlebens zur Einheitserfahrung zu transzendieren…
1989 erschien die berühmte Zusammenfassung aller dieser Einsichten – bezogen schließlich in ihren Bedeutungen auf das medizinische Gebiet: „Die heilende Kraft“, von Deepak Chopra (*1946), dem indischen Arzt, Internisten, Endokrinologen und Fachbuchautor mehrerer Bücher über alternative Medizin: Gespickt mit zahllosen Beispielen, Metaphern, Neudeutungen und phantastischen Wunderbeschreibungen über die unbegreiflich-genialen Funktionen des menschlichen Körpers, fußt es auf der indisch-ayurvedischen Medizin und öffnet das Tor zur Quantenheilung und dem Körper-Geist-Zusammenhang – den die Schulmedizin nach wie vor sich weigert anzuerkennen. (Wie ich meine: Pflichtlektüre für jeden angehenden Arzt, der seine Sache ernst nimmt und sich davon nicht abschrecken läßt, daß die dort gebotenen Gegenbeweise seinen Gang durch das bestehende System der betrügerisch-gleichgültigen kommerzialisierten Krankheitsindustrie nicht gerade leichter machen werden!) – Für den voranstehenden Absatz habe ich Anlehnungen aus diesem Lehrbuch übernommen – und gebe dieses Zitat daraus als Extrakt zur Kenntnis: „...Der berühmte Neurologe Sir John Eccles bringt das sehr deutlich zum Ausdruck. Er schreibt: >Ich möchte, daß Sie begreifen, daß es in der Natur keine Farben gibt und auch keine Klänge – nichts davon. Auch keine Struktur, kein Muster, keine Schönheit, keinen Duft.< Mit anderen Worten: Nichts ist im Universum so wichtig wie unsere Beteiligung daran. ... Die alten Rishis wußten dies. Ein Vers aus dem Veda lautet: >Was du siehst, das wirst du.< Mit anderen Worten: Die bloße Wahrnehmung der Welt macht uns zu dem, was wir sind.“
Das war es, was alle Seher und Eingeweihte, alle wahrhaft spirituellen Führer lehrten – und diese Essenz hat auch Franz Rappl in sein Werk zu gießen versucht, so wie er sie in sich selbst entdeckt und ausgebildet hatte: In uns selbst liegt der Schlüssel, die Wunder des Daseins, der Natur und des ganzen Universums erkennen und uns nutzbar machen zu können. Es kommt nur darauf an, unseren Blick und unsere Haltung zu belehren, hinter allen Dingen und Phänomenen diese eine große und unsagbar reiche, unendlich vielgestaltige allheilige Liebe und Schönheit der Schöpfung wahrzunehmen – alles im Lichte des Geistes zu betrachten, aus dem es hervorstrahlt... Doch leider, wir müssen anerkennen, es uns eingestehen – und ich zitiere abermals Deepak Chopra:
„Die Bücher preisen den Veda [eine der ältesten heiligen Überlieferungen religiöser Texte aus dem Hinduismus] als höchstes und universales Wissen, aber der heutige Zustand Indiens macht deutlich, daß die tatsächliche Kraft des Veda erloschen ist und lediglich die äußere Form fortbesteht. Es ist so, als wüßte man, daß es einen kosmischen Computer gibt, als habe man das komplette Bedienerhandbuch, hätte aber vergessen, wo man ihn anschließen soll.“
So tragisch es ist: Der moderne Mensch, insbesondere der westlich orientierte, hat jeden Zugang zu diesen Quellen des Geistes verloren. Vor lauter Hasten und Gieren nach äußerlichen Annehmlichkeiten überrennt und übersieht er die subtilen Hinweise und Geschenke des wirklich Wichtigen: die tausendfach kostbareren Versinnlichungen und Verwirklichungen der Liebe – der alles durchdringenden kosmischen Energie:
Dunkler Born in meinem Innern,
alles Traums Erfüllung voll:
webst in formendem Erinnern
Licht aus dem, was nächtlich
quoll.
Hell hast du den Tag gegeben,
bunter Dinge Überzahl,
alles ließest du mich leben
in der Sinne heiterm Mahl.
Als ich stand in Tageshelle,
war ich deiner kaum bewußt,
denn der Dinge groß Gefälle
überschüttete die Brust.
Aber als die dunkle Stunde
alles Außen mit sich nahm,
da begriff ich erst die Kunde,
die aus meinem Herzen kam.
Du brachst auf in tiefster Zelle
und erbrachst mein Angesicht,
und mit jeder dunklern Welle
größer wurdest du, mein Licht.
(„Der Wandersmann der Liebe“)
Ich suche nun schon lange den Verschwiegnen,
der an den Türen aller Häuser steht
und alle Halme streift mit seiner Hände Glanz,
der durch den Wald rauscht,
und im Apfelbaume duftet,
der die verborgendsten der Hände segnet
und der den Weg der Wege kennt.
Ich suche Ihn schon lange nicht mehr draußen,
wo meine Sinne Ihn nicht fassen können,
weil sie so rauh sind und Er ist so fein,
weil Er so groß ist, und sie sind so klein.
Schon lange habe ich mein Schaun gewendet
und horche in das Rauschen meines Bluts
und manchmal ist es mir,
als wäre jeder Herzschlag einer seiner Schritte.
(„Das Märchen Du“)
Denn das ist des Schöpfergeistes Werk:
Alles Wesen und Sein und Werden zu formen
und es bilden zum Angesichte des ewigen Vaters
und es wird aus diesem Angesichte strahlen der Heilige Geist.
...
Das ist das Elend und die Not der Menschheit,
daß sie Widerstand leistet dem Heiligen Geiste.
Darum wird das Feuer der Schmerzen brennen
und die Kümmernis kein Ende haben bis alle frei sind
von Schwere und Dürre und sich hingeben dem Wehen des Geistes.
So liegt es an den Menschen, die Tage der Leiden zu kürzen.
(„Botschaft vom Geiste“)
Und so entsteht KUNST auch immer erst dort, wird sie, was allein sie ist und will, wo sie sich diesem Höheren zuwendet, wo sie Anschauliches und Erfühlbares schafft, was auf das Höhere in uns und in der Welt weist – als Anruf dieser höheren Wirklichkeit…
Eine weitervertiefende Untersuchung des literarischen Werkes Franz Rappls vertrauen wir dem Interesse nachkommender Forscher an…
Wie bereits erklärt, verfügen wir über Darstellungen Dritter, die von den
Erinnerungen Frau Schindlers und den von Violanthe mir selbst gegenüber
vorgetragenen Erzählungen erheblich abweichen. Wenn wir auch Gründe haben, die
volle Glaubwürdigkeit dieser Informationen anzuzweifeln, so streuen zuletzt
sogar persönlich verbrämte Einwendungen immer auch Anteile vom Salz der
Wirklichkeit in unsere Anschauungen mit ein und bereichern die bestehenden
Aussagen, so daß sie nun jeder selbst nach seinem ‚Geschmacke‘ – seinem eigenen
höheren Einsichts- und Erkenntnisvermögen – überprüfen und ausdeuten kann.
Wir haben, wie ebenfalls schon berichtet, anzuerkennen, daß sich mit den fremden Gesichtspunkten die schon davor vorhandenen Widersprüche in den Biographien von Franz und Violanthe Rappl erhärtet haben: Im Wesentlichen verneinen die vorgebrachten Einlassungen die bisherige Annahme, sowohl Franz als auch Violanthe Rappl hätten in ihrem Leben vielseitige Belastungen bewältigen müssen. So wird im Gegenteil dort behauptet, daß weder Franz vom Leben besonders zurückgewiesen oder je von Mittellosigkeit bedroht gewesen wäre, noch daß Violanthe eine sorgenbeschwerte Kindheit gehabt hätte. – Da wir unsere Bemühungen, Licht in die Lebensumstände der Familie Rappl zu bringen, allein auf die Darstellungen Violanthes selbst und die Einlassungen entfernter Verwandter stützen können – und sich daher auch die ‚Lücke zur Wahrheit‘ niemals wird vollständig schließen lassen –, haben wir uns entschieden, alle verfügbaren Beiträge unseren eigenen Reflexionen neutral gegenüberzustellen. Die ‚Wahrheit‘ kann sowieso nur im Herzen des Lesers aufleuchten – und am ehesten noch durch Studium und Betrachtung der Werke der beiden großen Künstlerpersönlichkeiten, denen wir unsere Aufarbeitungen widmen.
Wir werden uns auf den verbleibenden Seiten dieses biographischen Fragments daher auf eine Art Perspektivensammlung beschränken, in deren Zentrum wir diese Frage rücken wollen: Warum hat Violanthe in den fast zehn Jahren meiner Freundschaft zu ihr niemals von ihrem Vater – als dem Dichter und Künstler, der er war! – berichtet und überhaupt jede Erinnerung an ihre ‚fürchterliche Kindheit‘ vermieden? – Wir werden, soviel vorweggenommen, nicht die alleinige und letztgültige Antwort geben können, wollen aber eine Reihe von Gesichtspunkten zusammentragen, aus denen der in menschliche Verhaltensweisen eingeweihte Betrachter vielleicht zu eigenen Schlüssen findet. Zusätzlich mögen sich weitere persönliche und künstlerische Einsichten in das Leben und Schaffen Franz Rappls ergeben. Den Überlieferungskonflikten bezüglich seiner Tochter widmen wir uns vollständiger in ihrer eigenen Biographie.
Mit Violanthe Rappl, der zweitgeborenen Tochter Franz Rappls, verband mich, ihren Biographen und Verfasser auch dieser fragmentarischen Beschreibungen über das Leben Franz Rappls, eine fast zehnjährige Freundschaft. Daß sie mir in all den Jahren niemals von ihrem Vater – als dem Dichter und Künstler, der er war! – berichtet hatte – – – für mich zunächst ein völlig unerklärliches Phänomen, zumal sie um meine Affinität allem Literarischen gegenüber und darin insbesondere allen geistlichen Bereichen wußte. Sie, die doch selber Künstlerin und Autorin war und diese Gabe und Veranlagung doch auch von ihrem Vater ererbt und bis in die feinsten Verzweigungen seiner Absichten hinein in sich selbst verfolgt und zum Ausdruck gebracht haben dürfe… Dieser befremdliche Sachverhalt provoziert zu einer Untersuchung: Warum hat Violanthe nicht nur mir, sondern auch ihrer ältesten und wichtigsten Freundin, Hanne Schindler, prinzipiell keine oder nur belanglose oder ausweichende Antworten über das Leben und Werk ihres Vaters und ihrer Mutter gegeben?
Erst beim Ausräumen ihrer Bibliothek, im Sommer 2014, fand ich ein kleines fast zerfallenes Heftchen, leider ohne Jahreszahl: Tagewerkverlag Donauwörth, „Der Wandersmann der Liebe“ – von Franz Rappl! Verblüfft und verzückt stieg die Frage in mir auf, ob dies wohl der Vater Violanthes sein könnte, hatte sie mir doch stets alle privaten oder beruflichen Einzelheiten über ihre Eltern verschwiegen. Aufgrund ihrer dementiellen Erkrankung war es zu diesem Zeitpunkt leider nicht mehr möglich, sie selbst erneut darauf anzusprechen. Solange sie noch konsistente Antworten gab, beschrieb sie das Verhältnis zu ihren Eltern als schwer gestört. Immer wiederkehrend dabei die Beschreibungen von ‚Lieblosigkeit und Beziehungsunfähigkeit‘ ihrer Eltern und deren Verhaftung in physischen und psychischen Zwängen. Andere als mißbilligende Einschätzungen kamen in ihren Erzählungen über ihre Eltern so gut wie nicht vor. Und sie machte auch keinen Unterschied zwischen Vater und Mutter: beide – so ihre beständigen Aussagen – hätten sie schlecht behandelt, gedemütigt, ignoriert. Erst Hanne Schindler, Nichte Franz Rappls und damit Cousine auch Violanthes, bestätigte mir, daß der Vater Violanthes sehr wohl der Dichter Franz Rappl war und daß beide, Vater und Mutter, Franz und Ilse Rappl, künstlerisch orientierte extravagante Persönlichkeiten gewesen sind. – Und zwischen diesen mir völlig neuen Erkenntnissen und den Berichten Violanthes – hinzu noch neben ihren Verschweigungen! – taten sich mir nun gewaltige Widersprüche auf: Warum hat sie mir, ihrem engsten Freund und Vertrauten in ihren letzten Lebensjahren, mit keinem einzigen Wort ihre künstlerische und geistige Verwandtschaft zu ihrem Vater bekannt? Warum hat sie in den vielen Jahren, die wir uns nahestanden, konsequent unterschlagen, daß ihr Vater ein Dichter und Künstler war – und an der gleichen Daseinslage gelitten hatte wie sie selbst: an der alltäglichen Mißachtung, die allen Unangepaßten, allen Sonderbegabten und Rebellen widerfährt, an dem gewöhnlichen alles tötenden Beziehungslosen, an der berechnenden stumpfsinnigen unlebendigen – materialistisch verseuchten – Gegenwart?!
Auch ihre Mutter, Ilse Katharina Rappl, geb. Schwarz, war künstlerisch talentiert: Sie hatte ein Musikstudium aufgenommen, spielte Klavier, sprach französisch. Doch ebensowenig wie von den Meisterschaften ihres Vaters hatte Violanthe je von den musischen Talenten ihrer Mutter berichtet… Waren die ausgeprägten exzentrischen Charaktere ihrer Eltern vielleicht sogar Voraussetzung zur Künstlerschaft – genauso wie Ursache auch ihrer erzieherischen Vernachlässigung und Ursache auch ihrer Aussperrung aus den Berichten und inneren Beziehungen Violanthes?
Zunächst können wir ausschließen, Violanthe hätte ihren Vater nicht richtig gekannt, da er die Familie zu früh verließ: Aus dem Testament ihrer Mutter geht hervor, daß sich die Eheleute vor 1949 (genauere Angaben haben wir leider nicht) getrennt hatten – wobei sie sich nie offiziell scheiden ließen. Violanthe hat also ihren Vater nicht nur wenigstens bis zu ihrem 20. Lebensjahr hautnahe erlebt, sondern auch danach noch zu ihm eine intensive Beziehung gepflegt. Dies wurde uns sowohl von Frau Schindler als auch aus dritten Quellen bestätigt. – Die bewußte Unterschlagung der Werke ihres Vaters erscheint somit eher als Indiz für ihre genaue Kenntnis von ihnen. Wir erinnern: Alle seine Werke entstanden in der Zeit vor der Geburt Violanthes, nämlich zwischen 1920 und 1927.
Ein weiterer Ausschluß: Gab es womöglich schwererwiegende Gründe für Violanthes Geringschätzung, wie z. B. traumatische Erlebnisse, die sie gezwungen haben mögen, Personen, von denen sie schwer verletzt wurde, mental und emotional zu isolieren? – In Rückschau aller Ereignisse müssen wir anerkennen, daß leichte Formen dieser Selbstschutzmechanismen an der Generalignoranz Violanthes mitgewirkt haben könnten, daß ihnen aber auch nur ‚weniger schwere Ursachen‘ zugrunde liegen dürften: Ich hatte in den Jahren zuvor schon alle Hinweiszeichen auf solche Verdachtsmomente abgesucht – glücklicherweise ergebnislos. Des weiteren bin ich überzeugt, daß Violanthe nicht gezögert hätte, besondere Gewalt oder gar Mißbrauch in ihrem bildnerischen Werk entsprechend zu thematisieren, wäre sie selber Opfer derartiger Delikte geworden. Auch schließt die Art der Dichtung Franz Rappls jede derartige Übertretung aus: Die eingeweihte Seele ist keines Verbrechens fähig – sie weiß um die unauslöschliche Selbstentwürdigung, die sie sich vor Gott damit antäte…
Nein, die Gründe für die fast undurchdringliche Absperrung aller Informationen um ihre Kindheit und Eltern müssen woanders gesucht werden – und sind zudem wohl kaum nachzuvollziehen ohne Einsicht und Einfühlung in die Seelenzustände und komplexen Schaffensverhältnisse eines Künstlers. Vor allem aber hat hier noch eine weitere Komponente bestimmenden Einfluß: die genetisch oder auch seelisch bedingte psychische Struktur, mit der ein Mensch geboren wird, die ihn innerlich definiert und Reaktionen hervorruft, die womöglich den als ‚natürlich‘ bekannten menschlichen Verhaltensweisen widersprechen. Hinzu noch die kompensatorischen Reflexe, die er in Abhängigkeit seiner Konstitution zu seinen Umgebungsbedingungen entwickelt: So könnte ein Mensch aus einer traumatisch erlebten Diskrepanz zwischen der körperlichen oder geistigen Potenz seines Umfelds zu den eigenen Hemmungen und Unfähigkeiten schwere Selbstwertstörungen entwickeln – die wiederum zu Vermeidungs- bzw. Abwehrstrategien führen, sich gegen alle – ihn erschütternden – Vergleiche mit anderen Leistungen zu wappnen. Derartige Komplexe erzeugen immer neue Methoden zum Ausgleich der eigenen ‚Fehlfunktionen‘. Bewegt sich dieser Mensch dazu noch auf dem von extremen Ambivalenzen umkämpften Feld künstlerischer Auseinandersetzung, ist ein Auswachsen persönlichkeitsgestörter Extreme zwischen Selbstüberschätzung und Minderwertigkeitsgefühl fast vorprogrammiert.
Um es deutlich zu sagen: Im Falle Violanthes haben wir es mit einer solchen außerordentlich komplexen konstitutionellen Grundanlage und Gemengelage zu tun – die unmöglich vollständig zu entwirren sein wird: Sie wächst als ‚Nesthäkchen‘ in materiell wie kulturell üppigen Verhältnissen auf, kann ungehemmt ihre persönlichen und künstlerischen Ambitionen entfalten – und entfaltet ungehemmt dabei auch ihre (heute als angeboren geltende) ‚autistische Veranlagung‘…?
Dieser Begriff taucht im Zusammenhang mit Violanthe das erste Mal in den ‚Richtigstellungen‘ Dritter auf. Mir selbst kam dieser Gedanke nie – obgleich auch ich ihre Einkapselung und oft abstrakte Weltanschauung als eines der sie bestimmenden Persönlichkeitsmerkmale bezeichnen würde. Vermutlich aber konnte in mir ein derartiger Verdacht deswegen nicht keimen, da ich Aspekte einer solchen ‚Persönlichkeitsstörung‘ in mir selber zu finden wüßte – und mir daher das Verhalten Violanthes stets als vertraut oder ‚vernünftig‘ vorkam. Zweifel auch an dieser von Dritten vorgebrachten These – zumindest in ihrer Absolutheit – sind wiederum berechtigt: Spricht man beim Autismus von einer ‚psychotischen meist schizophrenen Persönlichkeitsstörung, die durch extreme Selbstbezogenheit und Insichgekehrtheit sowie durch phantastisch-traumhaftes, affektiv-impulsives Denken gekennzeichnet ist‘, so träfe lediglich dieser letzte Teil der Definition auf Violanthe zu. Sie war gewiß ein in sich gekehrter Typ – hatte dabei aber ihr übergroßes Herz stets weit geöffnet für die Verzweiflung in der Welt und hielt ihren mitgefühlvollen Blick auf diese ihr niemals gleichgültigen Verhältnisse und Wesen gerichtet! – Ihr Werk gibt beredtes Zeugnis davon! – Nein: Von einer pathologischen Selbstbezogenheit oder gar ‚schizophrenen‘ Veranlagung kann, nach meiner Einschätzung, keine Rede sein. Wenn ich ‚auffällige und ungewöhnliche‘ Merkmale bei ihr nennen sollte, so würde ich von übersteigerten Denk- und Empfindungsvorgängen sprechen – für mich jedoch eher Zeichen von höherer ‚Gesundheit‘! Allerdings finden sich im Verhalten und in der Biographie Violanthes auch zwei Elemente wieder, die man zu den Symptomen autistischer Veranlagung zählt: ‚Eigene Gedanken werden als >Stimmen< gehört‘ und die Betroffenen sind oft ‚unfähig, emotionale Beziehungen zu anderen Menschen aufnehmen zu können‘. Man kann dieserart Besonderheiten gern zu den ‚autistischen Verhaltensweisen‘ rechnen, sofern man zugleich anerkennt, daß es sich dann um eine beginnende ‚Volkskrankheit‘ handeln müßte – angesichts der stetig zunehmenden Singlehaushalte… Außerdem widerlegen sowohl unsere Freundschaft als ihre innigen Beziehungen zu unseren polnischen Hilfskräften zumindest die pathologische Variante eines solchen zwischenmenschlichen Defekts. Und dem, der ‚seine Gedanken‘ nicht als ‚Stimmen aus dem Inneren‘ wahrnimmt, fehlt vielleicht sogar ein wesentliches Instrument, im ‚Einklang‘ oder in ‚Verständigung‘ mit der Welt zu stehen!
Mit einem Wort: Der Hinweis auf autistische Muster bei Violanthe macht uns viele ihrer Reaktionen verständlicher – namentlich und zusätzlich unter dem Gesichtspunkt ihrer Künstlerschaft. Bekanntermaßen wäre es ein Leichtes, gerade bei Künstlern oder ‚Inselbegabten‘ ‚autistische‘ oder andere ‚ungewöhnliche‘ psychische Phänomene zu diagnostizieren: Die ‚Einschränkungen‘ auf einem Gebiet ihrer Persönlichkeit korrelieren oft mit ihren speziellen und ungewöhnlichen Fähigkeiten auf einem anderen. Ja, vielleicht sogar ist Künstlerschaft ohne autistische Anteile in den schöpferischen Charakteren gar nicht denkbar...
Die Symptome, die der Krankheitsbezeichnung ‚Autismus‘ zugeordnet werden, helfen uns, das hochsensible Wesen Violanthes, insbesondere in seinen ‚unerklärlichen‘ und oft auch ‚widersprüchlichen‘ Verhaltensweisen besser zu verstehen. Wir erinnern, daß Hochsensibilität inzwischen als anerkannter Problemkreis gilt: Wer mit solchen Menschen zu tun hat, muß sich darüber belehren lassen, daß ihre Reaktionen oft und lediglich Schutzreflexe sind – gegen die unerträglichen Angriffe, als die sie den ‚normalen Alttag‘ empfinden. – Wer ist jetzt ‚krank‘? Das empfindsame Wesen oder der Stumpfe, der sich seiner verrohenden Umgangsformen gar nicht mehr bewußt ist?! – Die eigenwillige Art und Weise mit der Violanthe ihre Umwelt wahrnahm und sie behandelte, darf vor allem als Ausdruck ihrer besonderen menschlich-künstlerischen Genialität verstanden und interpretiert werden – und nicht als ‚pathologische‘ Fehlleistung. Wenn erst gewisse Persönlichkeitsanteile den Menschen zum Künstler berufen, dann können diese nicht ‚in Frage stehen‘, sondern müssen vielmehr als ‚Begabung‘ betrachtet werden, den hochkomplexen Anforderungen an Körper und Seele, mit denen der Künstler umzugehen hat, auf ‚originäre Art und Weise‘ auch gewachsen zu sein. Diese psychische Veranlagung ist wesentlicher Teil einer Persönlichkeitsstruktur und verhält sich zu den Daseinsbedingungen wie die Instrumente, um diese Lebens-Gegenstände zu bearbeiten – oder wie der Aszendent zum Sternzeichen: Dieses gibt Zustand und Grundthema vor, jener dagegen die Art und Weise, ihnen zu begegnen, sie zu meistern, zu erlösen – oder zu verdrängen, ihnen auszuweichen. Insofern handelt es sich bei den uns (angeborenen, vererbten) Persönlichkeitsmerkmalen um ‚technologische Bedienelemente‘, durch die alle Objekte oder Gebilde ihre Spezifik (für uns einzelne Menschen!) erhalten – und infolgedessen von uns ‚individuell‘ behandelt werden. Weil aber innere wie äußere Konstitutionen aufeinander ein- und zurückwirken, kann man unmöglich ‚die eine vorherrschende Ursache‘ bestimmen, die uns entweder befähigt, Situationen oder Verhältnisse zu beherrschen oder aber zu einer Eskalation innerer Zustände führt. – Zumal in Auseinandersetzung mit den mächtigen Beträgen und Begriffen der Kunst: Gerade unter ihren Forderungen entwickeln sich menschliche Eigenheiten oft exponentiell, da die Bewältigung künstlerischer Anliegen ohne Verstärkung und Expansion aller den Künstler kennzeichnenden ‚eigenartigen‘ Aspekte – zum Zweck der Erhöhung der Konsistenz seines künstlerischen Ausdrucks! – kaum denkbar wäre. Jede künstlerische Tätigkeit provoziert zur Radikalisierung der allgemeinsten Fragen des Lebens und zwingt zu immer intensiverer Auseinandersetzung mit sich selbst – wodurch sich für die unvorhersagbaren Rückwirkungen ebenso viele positive wie negative Operanden (und damit: Optionen) ergeben. Insofern scheint es uns unerläßlich auch die komplexen Vorgänge künstlerischer Prozesse zu den persönlichkeitsbildenden Faktoren hinzuzuzählen und in sie – als dem spannungserzeugenden Gegenpol zu allen psychischen Befindlichkeiten und sozialen Konstellationen, wie wir sie für Franz und Violanthe Rappl bisher rekonstruieren konnten – kurz einzuführen.
Hauptsächlich bestimmen zwei essentielle und zugleich untrennbare Komponenten die Schaffensverhältnisse und Seelenzustände jedes künstlerisch-schöpferischen Menschen: einerseits der innere leidenschaftliche Glutherd übersteigerter und exstatischer Begeisterung und andererseits die nicht minder elementare skeptische Befangenheit, die genauso steigerungsfähig ist bis zur völligen Ohnmacht und Verzweiflung. Zwischen diesen beiden ultrakonträren Positionen schnappt die kreative Seele nach Daseinsluft – und atmet befreit und erlöst erst und allein im Gestaltungsakt einer ihr gültigen Schöpfung auf. Und doch sind beide Extreme lebens-not-wendige Elixiere für den Künstler: sie bilden sowohl den Schmelzofen seiner Impressionen als auch die zu ihrer Formung zwingend nötige mitunter bis zur Selbstzerfleischung alles in Frage stellende kritische Rückstrahlung – alle seine Objekte, Subjekte, Mittel und Methoden ionisierend durchleuchtend, genauso wie sich selbst, um sicherzustellen, daß lebendiger Geist in seine Zeugung fährt und aus ihr sichtbar auch wieder hervortritt! – Ein solcher Daueraffekt, sich halbwegs unbeschadet unter diesen gegensätzlichen Spannungsfeldern zu erhalten, fordert natürlich seinen Tribut – erzeugt ‚Nebenwirkungen‘, die sich vor allem in Zeiten hoher Produktivität mit den praktischen Anforderungen an die gängigen Beziehungsmuster und Konventionen allgemeingültiger Verkehre nicht mehr vereinbaren lassen. Eine Fülle zusätzlicher Bedrängnisse und Konflikte sind die Folge, die nur durch ebenso ungewöhnliche Ausschließungsverfahren umgangen werden können. – Betrachten wir die wichtigsten Faktoren dabei, uns dieses der Künstlerschaft oft zugehörige Verhalten plausibler zu machen: sich und das Werk ‚vor der Welt‘ zu schützen und zu verschließen:
Zunächst drängt sich hier die nicht selten sogar unmenschlich wirkende, alle anderen Beziehungen vernachlässigende ‚ausschließliche Konzentration auf das eigene Werk‘ in den Blick. Viele Begriffe stehen für diesen alles dominierenden Charakter leidenschaftlicher Gestaltungsansprüche, von ihren positiven bis zu ihren negativen Gesichtspunkten: ‚Aufmerksamkeit, Autophilie, Egomanie, Egozentrik, Narzißmus, Selbstsucht‘ – in Varianten werden alle diese Charakterformen übrigens auch der autistischen Kernsymptomatik zugeschrieben. Wie dem Feuer das Licht, genauso sind gerade dem Künstlertum diese in sich untrennbar doppelwertig-gespaltenen Dispositionen eigen, die immer zugleich wirken und den Schaffenden selbst, wie auch seine Lebensgefährten in ständigen Aufruhr treiben, da sie sich dieser unauflöslichen ambivalenten Polarisierung ihrer Gefühlsaspekte nicht entziehen können. Immer stehen sich beide Zwillingseigenschaften universell-kämpferisch gegenüber, und niemals kann die eine gegen die andere ausgelöst werden – denn in Wahrheit sind es sich ergänzende Offenbarungsformen ein und derselben Kraft. Und so haben die Schüler, die sich dieser zusammengehörigen Blickpunkte des Seins und ihren diametralen Schöpfungsausdrücken bewußt geworden sind, die höchste Fähigkeit im Menschentum zu erringen: jede dieser zwiegespaltenen Eigenschaften stets angemessen anzuwenden – das heißt: an rechtem Orte, zur rechten Zeit, in rechter Ausrichtung und Stärke. Doch in den brennenden oft besessenen Seelen heißblütiger Künstler ringen diese monolithischen Gewalten nur um so stärker um ihre legitimen Vorrechte – und sind, obwohl untrennbar miteinander verwandt, kaum je zu harmonisieren: Unermeßliche Liebe und völlige Gleichgültigkeit, bedingungslose Demut und herrschsüchtiger Dünkel, höchste Ideenwelt und praktische Unfähigkeit, Edelmut und menschliche Abgründigkeit – Genie und Wahnsinn – nirgends finden sich diese Charakteristika auffälliger vereint als bei wesentlichen bzw. vom Massenniveau sich abhebenden Persönlichkeiten. Und so ergeben sich aus ihnen oft auch Formen der Ohnmacht oder generellen Unfähigkeit, den gängigen Anforderungen zu entsprechen, ob dies nun für ihr allgemeines Erwerbsleben gilt, für die Erwartungen ihrer Partner – oder für die moralischen und pädagogischen Pflichten als Elternteile. Die Geburt eines Kindes fordert enorme Verantwortung, soweit, das Kind grundsätzlich vor die eigenen Ansprüche und Lebensforderungen zu stellen, sich ganz auf es einzulassen. Sind die Elternteile solcher Forderung nicht gewachsen, empfinden sie sie als Bürde und sich selbst als ihre Opfer, so wird nicht nur das Kind ihnen als ‚Störenfried‘ erscheinen, das Kind selbst wird die mangelnde Liebe auf sich als Ursache beziehen: ‚Ich störe das Leben meiner Eltern; ich bin nicht gewollt, nichts wert; ich bin schuldig an der Misere meiner Eltern…‘
Von Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), dem französischsprachigen Schriftsteller, Philosophen, Pädagogen, Naturforscher und Komponisten der Aufklärung ist uns ein extremes Beispiel dieserart widersinnigen Verhaltens überliefert, an das uns der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig (1881-1942) in seiner „Einleitung zu einer zusammengefassten Ausgabe von Jean-Jacques Rousseaus >Emil oder Über die Erziehung<“ erinnert (abgedruckt in: „Begegnungen mit Büchern“, Fischer Taschenbuch Verlag, 1983, S. 160):
„Mit wohlverständiger Neugier suchen wir heute die Explosivstoffe in diesem Kunstwerk. Und finden sie nicht. Für uns ist ‚Emile‘ in seiner ungekürzten Form ein sehr langwieriges, umständliches, pädagogisch-philosophisches Werk, das oft entzückt, oft erstaunt, aber niemals revoltiert. Paradox schon durch die Tatsache, daß ein Mensch, der selbst nie Ordnung in sein Leben bringen konnte, nie in einen Beruf sich fand, die erstaunlichsten Theorien der Erziehung mit verführerischer Logik predigt, daß ein Vater, der seine fünf Kinder im Pariser Findelhaus ablegte und dem Zufall für immer überließ, die Sorgfalt für die Jugend als wesentlichste Pflicht des Menschen statuiert. Paradox auch im einzelnen Argument, aber doch blendend in seiner Verwegenheit und ein Meisterwerk der Pädagogie.“
Des Künstlers Dasein durchziehen permanente Eruptionen totaler Gegensatzzustände – denn seine geistigen Einsichten lassen sich kaum mit den Forderungen und physischen Zwängen des gewöhnlichen Daseins in Einklang bringen. Immer ist er von irgendeinem kreativen Prozeß besetzt, den er nicht verlassen kann, der ihn in Dauerspannung hält und ihm alle darüber hinaus greifende Anforderung als Bedrohung erscheinen läßt. Genugtuende Befreiung empfängt er nur in der schöpferischen Produktion, die ihm das Leben in aller Regel sonst versagt. Unaufhörlich steht er im psychischen Konflikt zur Welt, als seiner Gegnerin oder geliebten Utopie – er kann sich sowenig mit dem einen noch dem anderen Temperament versöhnen: Die Diskrepanz zwischen dem Ideal seiner Ahnungen und der Realität und Dürftigkeit aller ihn umgebenden Verhältnisse bleibt unüberbrückbar. Und mit diesem Fluch – mit dem Widerspruch zwischen den Bildern seiner Archetypen und den beschränkten Möglichkeiten zu ihrer Gestaltung – muß das Talent als Erstes leben lernen! – Unter solchen mehrfachen Antagonismen nicht zu ersticken oder vor ihnen zu flüchten in ‚anerkannte‘ Konventionen, das bleibt lebenslange Herausforderung des schöpferisch Tätigen.
In derart unauflöslicher Divergenz zwischen Ambition und Produktion liegt eine große Bürde: die Verschmelzung und Bewußtseinsspaltung des Künstlers zwischen Größenwahn und Selbstzweifel: Der fortwährende zersetzende innere Zweifel, das Werk könnte den eigenen Maßstäben nicht genügen, gehört zu den bestimmenden Grundgefühlen des begabteren Talents. – Natürlich wollen wir auch hier nicht verallgemeinern, zumal, wie erklärt, beide Stimmungen sich ablösen, aber diese fundamentale Verunsicherung muß den Künstler zuzeiten ergreifen – um ihn wesentlich zu erneuern! – In der Meisterschaft relativiert sich dieser Makel: Mehr und mehr wird diese Zwangsspannung – Kraft der gewachsenen inneren Erfahrung – von der Gewißheit abgelöst, gerade aus der spielerischen Unbeholfenheit einzigartige Vollendung kreieren zu können… Zunächst jedoch kann sich der Ehrlichste unter den Künstlern nie ganz freimachen vom Gefühl, ja vielleicht sogar von dieser logischen Überzeugung, daß jede Kreation immer nur Abklatsch, Klischee oder müde Nachahmung jener Wahren Wirklichkeit bleiben wird, aus der ihm höchste Inspiration und Intention zuströmen. Nie, fürchtet er, wird er die volle Präsentation des gesamten Wahrheitsausdrucks erreichen, dessen Gefühlskomplex er in seinem Herzen empfangen hat – weil seine geistigen und physischen Ausdrucksmöglichkeiten gegenüber dem Ideal, das er erfühlt, erträumt und projiziert, immer auf die ihm zur Verfügung stehenden gegenständlichen Mittel beschränkt bleiben werden. Diese Diskrepanz zwischen den Sehnsuchtszielen und dürftigen Versuchen, sie in Physis zu übertragen, zu übersetzen, diesen schwerwiegenden Konflikt bewältigt der Künstler nie ohne Skepsis – ohne die – paradoxerweise – aber auch das Ziel, dem das künstlerische Werk immer zustrebt, unerreichbar wäre: Vollkommenheit.
In Beschäftigung bezüglich dieser Biographiearbeit mit verschiedenen Werken der zu unserer oben zusammengestellten Auswahl gehörenden Wort- und Geisteskünstler, die am Beginn des vergangenen Jahrhunderts der deutschen Kulturgeschichte einen neuen spirituellen Weg zu ebnen versuchten, vertiefte ich mich auch in eines der Hauptwerke Mathilde Ludendorffs: „Triumph des Unsterblichkeitwillens“ (1932, Ludendorffs Volkswarte-Verlag, München; folgendes Zitat: S. 251). Wenngleich ich auch mit ihrer Hauptthese nicht übereinkam (daß der christliche Jenseitsgedanke eine Illusion sei, weil das persönliche Bewußtsein mit dem Tode erlischt und die Unsterblichkeitserfahrung daher lediglich im diesseitigen menschlichen Zustande erlangt werden kann), so las ich ihr Buch dennoch mit wachsender Begeisterung: Ich fand darin Grunderkenntnisse über die biologische, psychische und metaphysische Existenz, über die Kunst als ‚geniales Jenseitserleben‘, über die vermeintlichen „Kunstverständigen“, denen es an jeder künstlerischen Erfahrung gebricht wie auch über die Schaffenskonflikte des Künstlers im allgemeinen – alles in selten erreichter Logizität und Anschaulichkeit dargelegt! Unzählige Gelegenheiten hätten sich geboten, mit ganzen Seiten aus ihrem Buch diesen Text zu bereichern. (In den Sinnsätzen auf unserer Netzseite finden sich ausgewählte Zitate von ihr aus dem hier genannten Buch.) Zur Bestätigung jener den Künstler widerstreitend bedrängenden und zugleich gegenseitig sich verstärkenden Empfindungen, von denen wir eben sprachen, nur dieses Beispiel:
„Segnet denn nicht die Genialität das Leben mit einem unsagbar inneren Reichtum, der doch wohl von allen angestrebten Glücksgütern an erster Stelle diesen Namen verdient? Welch reiches, glückseliges Erleben ist nicht das Versenken in ein herrliches Kunstwerk! Wie schrumpfen daneben alle Glücksgefühle der Diesseitsmenschen zusammen! Dies scheint so wahr und wird dadurch noch so wahrscheinlich, daß der Mensch, der zu Erlebnissen im Bereiche der Genialität fähig ist, dabei aber die Diesseitsfreuden alle kennt und erlebt, niemals mit einem Menschen tauschen möchte, dessen verkümmerte Genialität unberücksichtigt bleibt. – – Es scheint so wahr und ist dennoch ein Irrtum! Wer je das Reich der Genialität betritt, wer je sein Leben ihren Wünschen unterstellt, wird dadurch nicht etwa allein an Glück reicher. Gewiß, er erlebt ein unendlich vertieftes und bereichertes Glücksgefühl, wie es nur das Reich der Genialität zu geben vermag, aber noch öfter erlebt er ein Leid, das die letzten Tiefen seiner Seele erschüttert, ein Leid, wie es der stumpfen Genialität ewig fern bleibt. Was die Diesseitszwerge Leid, was sie Trauer nennen, dünkt ihm im Vergleich mit seinem Erleben Mißvergnügen oder eine oberflächliche Traurigkeit; ganz ebenso wie ihr Glück, an seinem Maßstabe gemessen, nur die Bezeichnung Vergnügen verdient. Da die Stunden des tiefsten Leids bei den unsagbar häufigen Verwundungen, die die Genialität im Dasein erfährt, so viel zahlreicher sind, als die Stunden des Glückes, so können wir sicher nicht behaupten, daß die Entfaltung der Wünsche der Genialität das Glück fördert.“
Und diese innere Zerrissenheit trifft für gewöhnlich auf eine nächste ungeheuerliche Bitternis, mit der der Künstler umzugehen hat und die ihn in Ehrlichkeit und Beharrlichkeit prüft: Neben der Fundamentalkritik, der er sich selbst aussetzt, schlägt nun noch die pure Gleichgültigkeit oder gezielte Erniedrigung sogar der ‚Öffentlichkeit‘ und des persönlichen Umfelds auf ihn und sein Werk ein. – Warum ist diese Regel so konstant, so zuverlässig zu beobachten? – Weil die einzige Chance des Mittelmaßes, der großen Masse der Furchtsamen und Angepaßten, die sich im unerkannten Getümmel der Welt schadlos einzurichten trachten, allein darin bestehen kann, alle Verweise auf ihr eigenes gewissenloses Handeln, die sie zu Begreifenden und damit zu Schuldigen ihrer armseligen Wünsche machte, zu diskreditieren, zu verlachen, zu vernichten! – Der Künstler aber zeigt – verweist, deutet, erinnert – in seinen Gestaltungen auf dieses menschlich-skrupellose unwürdige Handeln, indem er den Gegenentwurf eines MENSCHEN vorbildet – der immer an der Verläßlichkeit seines Wortes gemessen werden muß! Doch eben diese lebendige Echtheit, die Übereinstimmung von Wort und Tat, diese Vertrauensfähigkeit offenbart indirekt jedem ‚Ungläubigen‘ die Dimension des eigenen Mangels, der eigenen Unredlichkeit. – ‚Und so erhoben die Umstehenden ihre Hände und warfen Steine, weil es sie peinigte, daß Jesus Christus sie mehr liebte als sein eigenes Leben.‘ – Das aber ist in Ewigkeit des Künstlers, des Geistlich-Schaffenden Botschaft:
„Nur in unaufhörlichem Ringen nach unendlicher Liebe und in der Erfüllung des einzigen Gebotes, das Christus gab: Liebet! findet der Mensch die Heimat seiner großen Sehnsucht. ... In den rastlos Suchenden und Ringenden um Wahrheit, um den Weg ins Licht ist mehr Verheißung als in denen, die mit unverstandenen Worten um Eitelkeit feilschen und wichtig tun. ... >Euch ist alle Gewalt gegeben!< Jeder Mensch kann mitwirken an dem Werke der Erfüllung und jeder Mensch muß mitwirken, wenn das Werk ganz gelingen soll./ Und für das Wie seines Wirkens auf Erden muß der Mensch Rechenschaft geben am Ende.“ (Franz Rappl: „Das Ende der Entente“, in den Schlußsätzen.)
Diesem inbrünstigen Anrufen aber verweigert sich der allgemeine Mensch, muß sich ihm verweigern – sind seine Angst und Abhängigkeit, seine Verstrickung im Selbstbetrug doch die Garanten seiner (vermeintlichen) Sicherheit. Und sind es auch nur falsche Schätze, die er hortet und die ihn versichern sollen, alle diese würde er verlieren, folgte er den Forderungen der heiligsten christlichen Botschaft: ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst; verwirf alle Lebensformen, die sich auf Absicherung richten, gibt alles was du hast den Armen und richte nicht!‘ – Derart ‚absurde‘ Gebote forderten, ‚alle Lichter in sich umzustellen‘ (Gustav Meyrink), alle Hände und Sinne dem Werk der Vernichtung zu verweigern, das die etablierte Existenz doch erzwingt. Und so wird sich jede Mittelmäßigkeit von einer derartigen ‚wahrhaft lebendigen Hingabe an das höchste Ziel des Menschen‘ zutiefst beunruhigt fühlen und die von ihr ausgehende Bedrohung aus ihrem Gesichtskreis zu verbannen, zu tilgen suchen – denn sie forderte den kosmischen Gottesdienst zum eigenen ewigen Heil: durch rechtes Denken, Sprechen und Handeln die Einheit des Lebens herzustellen: die Einheit von Religion, Werk, Gesundheit (Rappl, Entente). – Wer so auftritt, wessen Leben durch äußere oder innere Veranlagung und Produktion zur Erfüllung dieses heiligen oder auch nur humanistischen Kanons aufruft: er erntet unabwendbar Spott, Mitleid, Unverständnis, wird gemieden, verachtet – und wenn das nicht abhilft, zuletzt sogar denunziert…
Franz Rappl hatte diese Diskriminierungen zeit seines Lebens zu erleiden – und zu kompensieren: zunächst der fehlende Unterarm, der ihn von Beginn an zu den ‚anderen‘ stellte, den ‚Mißgebildeten und Minderwertigen‘, die man demütigen und degradieren kann, und die schnell die Einsicht in die Andersartigkeit psychologisch zu bezwingen hatten. Diese ererbte ‚Verrücktheit‘ vom Durchschnittsmaß, die in aller Regel zu höherer geistiger oder körperlicher Fabrikation oder zu gesteigerter materieller oder seelischer Kompensation zwingt, hat ihn früh jener vervielfältigten Empfänglichkeit und Verletzbarkeit ausgesetzt, die zuletzt so typisch ist für jede biographische oder schöpferische Sonderform. Und zu dieser hochkomplexen individuellen Konstitution galt es nun die Ignoranz nicht nur seiner Angehörigen, vielmehr auch seiner Zeitgenossen seinen literarischen Arbeiten gegenüber zu bewältigen… Wie man ihn als unvollwertigen Menschen ansah, genauso wenig nahm man seine Geistesschöpfung wahr, verspottete und demütigte seine Dichtung und Intention. Nicht nur Frau Schindler, Cousine Franz Rappls, hat uns diese doppelten Abweisungen bestätigen können, die Welt selbst hatte ihn und seine Werke – bis auf die letzten vier Exemplare, die ich retten konnte – völlig vergessen. – Wer dumm und unfähig ist, etwas Wesentliches herzustellen, dem bleiben nur Hochmut und Zerstörung, die eigene Dürftigkeit zu kaschieren. – Sigmund Graff (1898-1979), deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Aphoristiker: „Die einzige Ehrung, die die Welt dem Dichter erweist, besteht darin, daß seine Armut nicht als beschämend gilt.“ –
Und mit Blick auf die Auslage nun dieser
künstlerischen und psychologischen Faktoren lassen sich nicht nur die
pädagogischen Ausfälle herausahnen, an der sich Violanthes kindliche Verletzung
genährt haben könnte, sondern allmählich auch die Versatzelemente jenes
mächtigen Schottes zusammensetzen, das in ihren Erzählungen alle Einlassungen
auf die Werke und das Leben ihres Vaters und ihrer Mutter zurückhielt – da ihr
doch selbst alle diese ungeheuerlichen Zumutungen bis zur Verzweiflung vertraut
waren, vom physischen Leiden bis zu den seelischen Demütigungen durch
Nichtachtung und Spott.
Violanthe teilte das Schicksal ihres Vaters in umfänglichstem Sinne: Sie tat es
ihm gleich – erlitt die gleiche Ohnmacht und Interesselosigkeit, sowohl durch
Krankheit als auch durch fehlende Resonanz, als Künstlerin wie als Frau. Sie
tat es ihm gleich: vom inneren Ruf zur Bildnerin bis zur Verweigerung der
Käuflichkeit. Denn die Rebellennatur des wesentlichen Menschen versagt sich
jeder Opportunität, jeder Unfreiheit und Korruption. Wahre Meisterschaft ist
unfähig zu Ausstellung und Vermarktung – sie verließe damit den Boden ihrer
Einzigartigkeit, des Wesens ihrer Könnerschaft – sie erstürbe förmlich an der
Abgabe eines Teils ihres Interesses ausschließlich
auf die höchste Gestaltkraft ihres Werkes. – Vor diesen wiederholten
Demütigungen ihren Vater zu schützen, gerade so, wie sie sich selbst zu
schützen hatte vor der Ignoranz der Welt gegenüber ihrer Person und Arbeit,
diese Vorkehrung zu treffen, verwehrte sie der Welt mehr und mehr den Einblick
in das eigene wie in das Werk und Wesen auch ihres Vaters. Und bald auch ist
sie – aus den genannten typischen Selbstzweifeln aller begnadeten Bildner – tatsächlich
nicht mehr voll überzeugt, ob die unbedingte Hingabe an ihr eigenes Werk,
genauso wie die ihres Vaters an das seine, bestehen kann vor den Augen einer
zukünftigen Welt. – Wie viele Generation, wie viele Jahrhunderte wird es noch
brauchen, bis das neue Bewußtsein, das sie und ihr Vater anzuregen versuchten,
erwachen und zum Ausdruck kommen wird in lebendiger Physis?! – Genügen ihre und
die Ansprüche ihres Vaters wirklich dem EINEN, der allem SEINE EWIGKEIT
verleiht?! – Diese Fragen kreisen in ihrem Herzen, ihrem Verstand – und sie
bleibt mit ihnen allein – und hat unterdessen sich selbst und ihrem Vater jede
weitere Entwürdigung und Entweihung zu ersparen. – In alledem offenbart sich
die tragische Verkehrung aller irdischen Verhältnisse – und darin wiederum der
uralte mystische Auftrag: Ludwig Hohl (1904-1980), Schweizer Schriftsteller, in: Die Notizen
oder Von der unvoreiligen Versöhnung: „Die Lebendigsten haben keine
Wirkungszonen. Darum ist die Kunst erfunden.“ –
In kontemplativer Suche nach Antworten auf die hier in den Mittelpunkt gestellte Frage empfing ich noch vier weitere Hinweise für das von Violanthe gegen alle ihre Nächsten angewandte Prinzip, ihre Eltern, ihre eigenen Produktionen und speziell ihren Vater im dunkeln zu halten: 1. die Geschichte Deutschlands nach 1933, 2. die prekäre Situation, in die ihr Vater nach der Trennung von seiner Frau geriet, 3. bestimmte mystische Deutungen, die ihr fraglos zuzutrauen gewesen wären und 4. eine ‚Trivialität‘ – die mitunter viel vordergründiger wirkt, als man zunächst immer zu denken geneigt ist:
Schon 1921 vollendet Franz Rappl seine politische Vision „Das Ende der
Entente“. In ihr extrahiert er seine ideellen und politischen Positionen und
prophezeit eine Weltentwicklung, wie sie ihm in der damaligen Lage zwangsläufig
erschien – und wie sich in den wesentlichsten Auswirkungen bis in die Neuzeit
hinein auch in dieser Ankündigung vollzog! Und obgleich dieses Buch eine – immer
noch: brandaktuelle! – messerscharfe psychologische Systemanalyse darstellt:
Die Ereignisse eskalierten weitaus schneller, radikaler und in unvorstellbare
Richtungen: Hitler…, der 2. Weltkrieg…, der Holocaust…, ‚die deutsche Schuld‘…
– und all diese ‚Ausgeburten‘ erscheinen zwanzig Jahre später derart monströs –
daß man alle ‚deutschen Visionen‘ und Bewertungen, die vor diesem furchtbaren Kapitel unserer Geschichte verkündet worden
sind, am liebsten vergessen machen wollte! Und tatsächlich hatte Franz Rappl in
seiner Schrift eine welthistorische Entwicklung so gewaltiger Dimension
entworfen und sogar einmal auch das Wort ‚Judenfrage‘ verwendet, daß derartige Provokationen in Hinsicht
der geltenden Taburegeln auch heute noch fehlgedeutet werden könnten. Diese
nicht zu unterschätzenden Erwägungen mochten zum einen Violanthe zusätzlich
bewogen haben, das Werk ihres Vaters und ihn selbst zu verbergen.
Im August 2016 entdecken wir, daß in der kanadischen Hoover Bibliothek das Heftchen von Franz
Rappl „Der rote Schrecken – Was wollen die Kommunisten (Bolschewiki)? – Zur
deutschen Märzrevolte“ zur Ausleihe angeboten wird. Wir erfahren, daß diese
Bibliothek einen großen Buchbestand pflegt, insbesondere über die russische
Revolution, die Sowjetunion, die russischen Emigranten, die Weltkriege, die
Pariser Friedenskonferenz und die politischen und ideologischen Bewegungen des
20. Jahrhunderts. Unsere Anfrage dort ist erfolgreich: Wir erhalten eine
PDF-Kopie des Werkes. – In dieser Schrift bekennt sich Franz Rappl als
Kommunist – in jenem von ihm dort erklärten Sinne. Bedenkt man, was es zehn
Jahre später in Deutschland bedeutete, ‚Kommunist‘ zu sein, daß Stalin eine
‚kommunistische Weltrevolution‘ vorschwebte und daß (wahrscheinlich nur)
Hitlers Krieg gegen Rußland verhinderte, daß sich der ‚Bolschewismus‘ in Europa
auf Dauer und als bestimmende Kraft etablieren konnte, nehmen wir dazu noch die
Gräueltaten, die im Namen des ‚Kommunismus‘ in den Gulags verübt worden sind
(die Zahlen sind umstritten: bis zu 60 Millionen Menschen könnten dort elendig
verreckt oder getötet worden sein) und legen wir oben noch die Kriegsverbrechen
der Russen drauf, plus die Verachtung, mit der der Sozialismus später in der
westlichen Welt behandelt worden ist – dann haben wir damit gewiß vielleicht
sogar den schwerwiegendsten Grund für die Vorsorge Violanthes gefunden, ihren
Vater in Unsichtbarkeit zu halten.
Außerdem könnten die prekären Verhältnisse, in materieller wie auch in privater Hinsicht, in die (nach unseren Vermutungen) Franz Rappl nach der Insolvenz der Familiendruckerei und der ehelichen Trennung geriet, für die Geheimhaltung gesprochen haben: Unter den halbaristokratischen Bedingungen, unter denen Violanthe aufgewachsen war, mochte ihr die ‚private Schande‘, die nach bürgerlichen Kriterien nun auf ihre Eltern gefallen war, wenigstens aber der ‚armselige Stand‘ ihres Vaters noch als schwerer Makel erschienen sein und sie veranlaßt haben, alle Anfragen auf diese Kapitel abzuweisen. Das wird sie gelernt haben: ‚Über Geld, Alter, Arbeit und persönliche Angelegenheiten wahrt man vornehme Diskretion!‘ So fällt z. B. auf, daß sie in der autobiographischen Geschichte Christines (in ihrem Büchlein „Walze contra Himmelreich“), die wahren Ursachen der Übersiedlung in das großväterliche Haus – nämlich die Insolvenz ihrer Eltern – durch andere Umstände ersetzt. So verheimlichte sie mir bis zuletzt auch ihr Geburtsjahr; selbst an Geburtstagen wurde meine diesbezügliche Frage stets entkräftet: ‚dies sei nicht wichtig, die Seele hätte kein Alter…‘, so lauteten für gewöhnlich ihre Entgegnungen. Auch über Geld, ob sie eine Rente beziehe oder Vermögen besäße, bewahrte sie eisernes Stillschweigen. Noch im Protokoll zur Einsetzung der Betreuung ist vermerkt, daß „die Betroffene sich weigert, ihre Kontostände mitzuteilen. Diese gehe die Betreuerin nichts an...“ Erst ganz zuletzt, als ich ihre Papiere zur Einrichtung unseres Hilfsnetzwerkes zwingend benötigte, erfahre ihr Geburtsjahr und erhalte Einsicht auch in ihre finanziellen Angelegenheiten. – Wir wissen zudem, daß Franz Rappl nach der Ehescheidung als ‚Zimmerherr‘ bei einer älteren Dame, die ihn auch versorgte, zuerst in Mülheim gewohnt hat, später bei seiner erstgeborenen Tochter Ruth in Wertheim Unterkunft fand. Und wir wissen zudem, daß er dem Tabak und dem Alkohol zusprach, im Alter stärker noch als in den Jahren der Ehe. – Angesichts der schwerwiegenden Einschnitte, die er zu verkraften hatte, verbietet sich jedes Urteil über die Strategien zu ihrer Meisterung. – Können wir überhaupt ahnen, wie es sich anfühlt, den Reflexen seiner Umgebung geistig immer voraus zu sein und ständig die eigenen Vorgriffe, wie auch die Handlungen der anderen physisch und psychisch ausbalancieren zu müssen?! Was wäre aus uns geworden, ständen wir in dieser Welt mit höchsten Fähigkeiten da – und zugleich ohne Anklang und Protektion? Zu welchen probaten Mitteln hätten wir gegriffen, für Momente unseren Schmerz und unsere Enttäuschung zu zerstreuen? Womöglich hätten wir sie gar nicht ertragen. – Anteilnahme und Achtung beherrschen mein Gefühl, blicke ich auf die übermächtigen Widerstände und Widersprüche, mit denen Franz Rappl fertig zu werden hatte – als begnadeter Dichter und Denker, der er war, ohne Resonanz und Heimat. – Wer bliebe so dumm, an den Mitteln zur Abfindung, zur Erduldung eines Unheils Anstoß zu nehmen, anstatt die Ursachen anzuklagen, die zu Kompensation oder Flucht zwingen.
Unterschlagen wir an dieser Stelle auch die bewußtseinserweiternde Wirkung des Rausches nicht – eine
kulturhistorische Konstante und Methode, die in allen Zivilisationsformen zu
instruktiven, therapeutischen oder enthemmenden Zwecken genutzt und geachtet
wurde. Wahrsager, Hellseher, Medizinmänner: der Eintritt in die visionären
Sphären, die Öffnung des geistigen Auges für die Beziehungen hinter den äußeren
Formen war selten nur ohne das ‚Gift‘ zu erlangen – das den Geist um eben jenen
Anteil befreit, um den der Leib ihn fesselt. Sich selbst und die Welt zu
vergessen, ihren Daseinskämpfen zu entfliehen, das zwanghaft-rationale- gegen
das dionysische Prinzip des wilden rauschhaften unbedenklichen Genusses zu
tauschen – als gäbe es kein Morgen, wie Nietzsche es sich erdachte: „Denn alle
Lust will Ewigkeit“ –, wer begehrte diese ‚unendliche Befreiung‘ nicht – wäre
da nur nicht das Morgen, mit seinen im Maße dieser Exzesse gleich
schwerwiegenden Folgen... Oft sogar sehnte sich die höchste Intelligenz am
meisten nach Erlösung ihrer selbst – und griff dafür am rücksichtslosesten zur
Droge: Friedrich Freiherr von Logau (1605-1655), schlesischer Barockdichter: „Es säuft
sich voll für sich kein unvernünftig Tier./ O, hätten sie Vernunft, sie tränken
auch wie wir!“ – Joachim Ringelnatz (Hans Gustav Bötticher, 1883-1934), deutscher Poet,
Schriftsteller Kabarettist und Maler: „Die besten Vergrößerungsgläser für die
Freuden der Welt sind die, aus denen man trinkt.“ – Und vor allem Goethe (von dem
gemutmaßt wird, er hätte Wein wie Wasser genossen), an vielen Stellen und in
vielen Varianten: „Der Wein, er erhöht uns, er macht uns zum Herrn/ und löset die
sklavischen Zungen.“ – Oder hier, in: Maximen und Reflexionen, Aus Kunst und
Altertum, 1821: „Es ist eine Forderung der Natur, daß der Mensch mitunter
betäubt werde, ohne zu schlafen. Daher der Genuß im Tabakrauchen,
Branntweintrinken, Opiaten.“ – Oder zwei Stellen aus dem Schenkenbuch im Diwan:
„Solang man nüchtern ist,/ gefällt das Schlechte./ Wie man getrunken hat,/ weiß
man das Rechte.“ – Und: „Wenn man nicht trinken kann,/ soll man nicht lieben./
Doch sollt ihr Trinker euch/ nicht besser dünken:/ Wenn man nicht lieben kann,/
soll man nicht trinken.“
Der Trunk, er löscht den Liebesschmerz,/ denn trinkend nur ertrag ich meine
Liebe. – Uns liegt fern, der Sucht und dem Rausch das Wort zu reden – wir
verwechseln Freude und Befreiung ja nicht mit Glück und Freiheit… Aber
genausowenig wäre es ehrlich, ihre erstaunliche Verbreitung zu unterschlagen…
Unserem Objektivitätsanspruch wegen haben wir an dieser Stelle wieder auf Entgegnungen Dritter zu verweisen – laut deren Erinnerungen Franz Rappl mehr aus gesellschaftlichen Gründen dem Rotwein frönte als aus Abhängigkeit:
„Er fiel NIE aus der Rolle. Er verkehrte in einer Mülheimer Weinstube, um
sich mit einer Gruppe von Künstlern, ehemaligen Studienräten und englischen
Offizieren zu treffen. Durch den künstlerisch-literarischen Salon namens
>Marabou< führte er Jola in den Mülheimer Kulturbetrieb ein. So begann
sie, Umgang mit etlichen Künstlern aus diesen Kreisen zu pflegen. – Franz Rappl
war ein richtig guter Opa für mich, er lehrte mich die Pilzsuche, führte mich
in literarische Kenntnisse ein und spielte trotz seiner Armprothese wunderbar
Klavier. Er spielte halt einige Akkorde anders, aber es konnte sich hören
lassen, außerdem sang er in einem Mülheimer Chor, der u. a. Händels Passionen
aufführte. Er besuchte Jola (und Ilse) nach der Separation mindestens
wöchentlich, um zu reden und zu diskutieren. – Franz Rappls Manuskripte waren
in meiner Obhut; leider wurde meine Familie 1976 Opfer einer Gasexplosion,
wobei wir unser gesamtes Eigentum inclusive aller Manuskripte verloren. – Ja,
mein Opa war ein großes Talent, und vielleicht wurde er auch deshalb von Jola
ausgeblendet. – Die Kohlezeichnung [auf der 1. Ordnerseite Franz Rappls] ist
von 1954, das daraus entstandene Ölgemälde befindet sich in meinem Besitz.“
Das mystische Paradox hinter allen Lebensgängen heißt uns zurücktreten vor
jedem Rechtsspruch über sie: Ungeheuerlich tief reichen die Ursachen aller
Phänomene im Gefüge des Einzelnen und des Einen unauflöslichen Zusammenhangs,
denen sie – er und alles – unterworfen sind. Im Moment des ‚Einbruchs‘ mag es
so aussehen als läge seine Ursache ‚in der Welt‘ – im falschen Beruf, im
falschen Partner, im falschen Körper, in der falschen Gesellschaft. Betrachtet
man diese Vorgänge aber genauer, so entdeckt man, daß alle diese ‚Unfähigkeiten
oder Krankheiten‘ eher Ausdruck der eigenen BESTIMMUNG sind, daß sie wegführen
wollen von störenden oder behindernden Faktoren – und damit näher zu uns selbst
hin... Auf diese beängstigend dunklen Gabelungen gestoßen ‚verliert‘ der Mensch
gewohnte Bedingungen, gerät in Erniedrigung, Behinderung, in Konfrontation mit
widrigen Umständen – doch immer nur soweit, soweit er auch die Entschädigungen
und Geschenke anzunehmen bereit ist, die im Verborgenen schon ruhen und ihn
locken auf die unbekannten Pfade vor ihm... – Bó Yin Rá (Joseph Anton Schneiderfranken, 1876-1943),
deutscher Schriftsteller, Maler und Philosoph: „Jedes Leid ist einer späteren
Freude vorgesandtes, geheimnisvolles Zeichen.“ – Und jede Rückschau bestätigt,
daß der ‚Einbuch‘ wieder Fügung zu eigenem Heil war... – Könnte ein Dichter
sich der geforderten Engstirnigkeit jener Prokuratoren unterwerfen, die ihn von
ihren Rechnungskanzeln herablassend beäugen?! – Hätte es einen anderen Weg für
Franz Rappl geben können – unter den eisernen Bedingungen, die seine Zeit
beherrschten? Vielleicht aber wehrte seine hochstehende inner-geistige Persönlichkeit
tatsächlich auch alle äußeren Erschütterungen ab – indes sie jeden anderen
angesichts der gewesenen und zu erwartenden Katastrophen erdrückt hätten? – Dennoch:
Es wird nicht spurlos an ihm vorbeigegangen sein, daß eine ‚verkehrte Welt‘
auch ihm, wie vielen anderen ‚Auserwählten‘, den gebührenden Platz verwehrte.
Und dabei doch ‚sich nicht zu verkaufen‘, sich nicht zu verraten, sondern seine
Identität zu schützen – das macht den Propheten, wahren Denker, Künstler,
Gelehrten, Missionar und MENSCHEN aus. Die instinktive Rebellion, in
unvermeidlicher Verteidigung der ureigenen essentiellen Fähigkeiten, überführt
die furchtbare Heuchelei unseres beschämend-entwürdigenden Daseins. Und
nochmals (wer wüßte besser, wovon er spricht!) Ludwig Hohl: „Und dies ist die
Frage: warum die größten Lehrer der Menschheit immer stellenlos sind.“ – ! –
Seit frühester Jugend wußte sich Franz Rappl in gefährdeter Stellung – als ‚Sonderling‘, dessen einzige Überlebenschance, der Treulosigkeit der Welt zu trotzen, im Geistigen lag. Von Geburt durch Fehlbildung gedemütigt schienen Verrat und Auslieferung ihm vorbestimmt. An der Brutalität der gängigen Herrschaftsformen lernt der Betroffene schnell, wie sehr unsere ‚Beziehungen‘ von Selbstsucht und Eitelkeit bestimmt sind. – Wie schwer wird Franz Rappl von anderen ob seiner Behinderung diskriminiert und verletzt worden sein; wie stark mag er sich selbst als unwert angesehen und herabgewürdigt haben? – Oder sind Ausgrenzung und Leidensfülle sogar Bedingung, damit in einem die Befähigung zu wahrhaft tiefem künstlerischen Ausdruck keime?! – Und dürfte dieses Künstlertum dann – muß es das nicht sogar? – mit den Vernachlässigungen an Kindern, Familie, Freunden und sich selbst gerechtfertigt werden? Wögen die schöpferischen Produktionen die Enttäuschungen und Verlustkomplexe auf, die sich unterdessen auf die Schutzbefohlenen und Angehörigen abladen? – Das sind die Kernfragen – und wenn das unerbittliche ‚Nein!‘, mit dem Violanthe alle Annäherungsversuche an diese Themen und Geschichten und Werke ihrer Eltern abwies, auch ein Gegenwort auf die menschlichen Ausfälle gewesen sein mochte, die mit der Bewältigung dieser Konflikte einhergingen, so brach es nie hervor ohne zugleich auch ihr Mitgefühl neu zu nähren für all die Unbarmherzigkeit, die aus aller Verbitterung hervorwächst...
Das dritte – mystische – Argument, das sie bewogen haben könnte, alle Lebensereignisse um Franz Rappl zu verschweigen: Als fortgeschrittene Schülerin in den spirituell-geistlichen Belangen wäre ihr die Überlegung zuzutrauen gewesen, daß sie den Allmächtigen Geist und Seine Unbeschränkte Gestaltungskraft in Frage stellen würde, legte sie in irgendeiner Weise gezielt selbst Hand oder Eifer an die Erhaltung oder Publikation des väterlichen Vermächtnisses. Denn nur in Unterlassung aller synthetischen indoktrinativen Bemühungen, so hätte sie denken können, kann das volle Vertrauen zur universellen Vorsorge und Vorsehung des Allwissenden bekundet werden… Doch auch hier haben wir immer zugleich die Forderung unserer irdischen Verhältnisse zu beherzigen: GOTT WILL GESTALTET WERDEN – Gott bedarf der bewußten Eingießung seiner Existenz in diese Welt – durch den Menschen! – Dennoch wäre es möglich, daß Violanthe sich gescheut hat, einzugreifen oder etwas zu erzwingen, was nicht Gott selbst als würdig oder geeignet erachtet hätte, es auf Seine Art und Weise, auf Seinen geheimnisvollen Wegen zu sichern und auszuzeichnen… Und an dieser Stelle ein weiteres Paradox: Sprachen wir früher von Unsicherheit und Selbstzweifeln und dem Wunsch nach Anerkennung im künstlerischen Charakter, so gehört diesen Dispositionen – zumindest bei Künstlern von Format – andererseits stets auch die vollkommene Unabhängigkeit von jedweder Bedingung oder Beurteilung zu. Diese mysteriöse Ambivalenz, diese „geheimnisvolle Seelenlosigkeit der ganz Großen, die, wie bei Shakespeare, das Göttliche und Unbegreifliche des vollendeten Künstlers darstellt“, wie Stefan Zweig (in einer Beurteilung über Honoré de Balzac) schrieb, wird im künstlerischen wie persönlichen Wesen sowohl Violanthes als auch ihres Vaters mitgewirkt und beiden auch geholfen haben, alle weltlichen Abweisungen zu relativieren, zu ignorieren. – Oder wie der chinesische Philosoph Konfuzius (551-479) sagte: „Der höhere Mensch empfindet keine Verbitterung darüber, wenn ihn die Menschen nicht beachten.“
Zuletzt noch diese Überlegung, die, so absurd sie erscheint und so nachträglich sie daherkommt, möglicherweise dennoch einen großen Wahrscheinlichkeitsanteil in sich birgt – gerade weil sie in ihrer Naivität und Harmlosigkeit so stark dem ganzen unberechnenden Wesen Violanthes entspräche: Solange ich Violanthe kannte, stets hatten wir mehr Themen – als Zeit, sie alle zu behandeln. So wäre möglich, daß ich mich früh damit abgefunden hatte, daß sie über ihre Familie nicht sprechen- und ich sie wiederum nicht ständig nötigen wollte, etwas zu tun, was sie nicht will. Insofern gab es ‚nie‘ einen Grund, das Thema weiter zu verfolgen. Es kann also sein, so banal es klingt, daß wir einfach ‚vergessen haben‘, darüber zu sprechen. Hätte ich das Heftchen „Der Wandersmann der Liebe“ früher gefunden, und hätte ich sie darauf angesprochen, gewiß hätte sie darauf auch geantwortet. Insofern könnte der Umstand, daß Violanthe ihren Vater verschwiegen hat, viel zu sehr exponiert worden sein. Und die ‚zwanghafte‘ Suche nach Antwort auf diese Frage vielmehr durch den ‚Schock‘ hervorgerufen, daß ein derart wesentliches Ereignis, wie die Wiederentdeckung Franz Rappls, überhaupt nur ans Tageslicht kam – aufgrund eines Zufalls… Möglicherweise war ihre Ausschließung also nichts weiter als reine lautere Bescheidenheit, sich nicht mit fremden Federn schmücken zu wollen.
Vom Vater sind fünf mittelgroße Porträts erhalten, ein erstes zeigt Violanthe 1955 in der Weihnachtsausstellung der Mülheimer Stadtbücherei. – Im vollen Bewußtsein der Unfreiheit und schicksalhaften Bürde ihres Vaters hat sie ihn trotz all der Dürftigkeit ihrer Kindheit, an der er sicher Anteil trug, niemals beschuldigt oder verachtet. Zu gut wußte sie, wie es sich anfühlt, ganz allein dazustehen – in Zwiesprache lediglich mit dem inneren Gott. In ihrem gesamten Künstlerleben hat sie wahrscheinlich keine zehn Bilder verkauft (oder verschenkt) – genauso wie ihre Bücher keine Leser fanden: Wegen „Unwirtschaftlichkeit und fehlender Lagerkapazitäten“ kündigt ein Verlag 2008 den Vertriebsvertrag und entledigt sich aller Restbestände. – Wie gesagt, ein typisches Schicksal derjenigen, die ihre ‚Vermarktung‘ und äußerliche Anerkennung nicht vor ihre künstlerische Intention zu stellen vermögen. Trotz mehrerer Ausstellungen blieb auch die Resonanz auf ihre Bilder und kulturkritischen Anliegen mehr als gering. Genau wie über ihren Vater äußerten sich ihr nahestehende Personen sogar spöttisch und hämisch über ihre Werke, hielten sie für ‚verrückt‘ oder ‚nichtsnutzig‘. So wie sie selbst, ist auch ihr Vater vom damaligen und heutigen Literaturestablishment so gut wie nicht wahrgenommen worden: Vor den Veröffentlichungen zur Familie Rappl auf unserer Netzseite ergab die Suche nach seinem Namen (bis auf die Anzeigen der beiden letzten antiquarischen Bücher von ihm) keinen einzigen relevanten Treffer. Aber nicht nur vom Kulturbetrieb erfuhr er Mißachtung: Aus Gesprächen mit Frau Schindler, der wir, wie schon gesagt, die wichtigsten Informationen über die Rappl-Familie verdanken, erfuhr ich, daß auch seine Angehörigen seine dichterischen Neigungen und Talente verhöhnt haben, sie abtaten oder zu degradieren versuchten. Wir können nicht einmal sicher sein, ob seine Bücher überhaupt gedruckt worden wären, hätte es nicht die eigene Druckerei gegeben. Auch Violanthe mußte ihre Schriften im Selbstverlag, auf eigene Rechnung, herausbringen. Ihr eigenes und das Werk ihres Vaters durch Tabuisierung vor jeder Art erneuter Entweihung zu schützen, schien ihr nach der unausgesetzten zwillingsverwandten Ablehnung zweier Leben zwingend geboten. ‚Das Schicksal hatte gesprochen‘ – oder sollte sprechen: Womöglich waren ihre und die Werke ihres Vaters ‚zu recht‘ vergessen oder ignoriert worden – auch aus solcher Befangenheit könnte sie alle Hinweise auf ihren Vater hermetisch verschlossen haben: Seine Erniedrigung sollte sich postum nicht wiederholen.
Ich erinnere mich jenes Momentes, als wir (im Sommer 2013) eine seit Jahren in Violanthes Keller unbeachtet gelegene Rolle von etwa 80 Bildnissen, hauptsächlich Porträts und Monochrome, begutachteten: Schnell und strikt sortierte sie etwa zehn Bilder aus und bat mich, sie in den Müll zu geben. Ich tat es ohne Widerspruch, da ich ihren Entscheidungen beipflichten konnte: Sie hatte einen untrüglichen Maßstab, etwas als wert oder (künstlerisch) unwert zu betrachten. Auch war sie eher bereit ein Werk zu verwerfen, wenn es ihren Ansprüchen nicht genügte, als irgendeiner Eitelkeit oder Anhänglichkeit nachzugeben. Auch von Dritten wird bestätigt, daß sie wiederholt ganze Teile ihrer künstlerischen Produktion vernichtet habe.
Lesen wir abschließend Worte vom Dichter selbst – eingedenk seines urtiefsten Anliegens: die Einzigartigkeit eines Menschen zu beschwören, der seine Aufmerksamkeit und Arbeit der Geistlichen Gegenwart widmet:
Wenn ein Mensch zu einem Worte kommt und es
ausspricht, so ist
dies viel. Denn ein Wort kann
sein wie ein Saatkorn, es
fällt in die Erde und keimt
und wird ein großer Baum.
Da werden die Halme zuschanden, die sich brüsten und sprechen, was
will dieses winzige Körnchen
bei uns hohen Halmen.
Aber der Baum überdauert tausendmal die Zeit der Halme.
Es kann auch sein wie ein Wind, er beginnt die Wellen unmerklich
zu rühren und plötzlich wird
er gewaltig und schleudert Fluten
über die Länder.
Darum spottet keines Menschen, der nach einem Worte ringt. Wenige
sind, die ein eigenes Wort
haben und die Kraft, es auszu-
sprechen. Aber, die es haben,
werden von den Leeren ver-
höhnt. Denn die Vielen reden
aus den Büchern, die alle be-
sitzen und plappern nach ohne
Geist und Erlebnis. Denn es
wird niemand erfüllt von eines
Wortes Geist, der nicht das
Wort besitzt. Viele deuten und legen aus, aber wenige erfassen
und erleben es.
Oft geschieht es, daß einer ein großes Wort spricht,
dem die Toren
mit Gelächter und Geschrei
erwidern. Denn die Toren hassen,
was sie nicht begreifen.
Das ist aber die große Sünde wider den Geist: das Wort des an-
deren zu verdrehen und seinen
Geist zu schänden.
Denn durch die Zungen der Menschen spricht sich der Geist.
(Botschaft vom Geiste, S. 14)
Du bist das Kind mit einer Blume.
Die Blume blühte irgendwo im Wald.
Als irgendwo Du gingst im Walde,
hast du gefunden, die vergebens viele suchen.
Jedoch, was hilft dem Kinde eine Blume,
wenn niemand kommt,
dem es die Blume schenken kann?
(O, wenn die Menschen es erfahren müßten,
wie schwer die Blume wird in Händen eines Kindes!)
Du aber wurdest von dem Duft der Blume
sanft wie sie
und wurdest selbst die Blume,
das war ihr Dank.
Der Apfelbaum hält unter seinem Blühen
ein Geheimnis:
Das Nest des Vogels,
der die Morgenlieder weiß.
Der Baum beschützt es gut mit vielen Händen,
daß nicht ein Sturm das Nest beschade,
daß nicht ein böses Tier es finde.
Und einmal habe ich gehört:
(Der Baum hat mirs in seinem Traum verraten)
Das Nestchen ist es, wo die Lieder,
die wunderbaren Lieder wachsen.
O, welches Wunder hält in sich der Baum!
(Das Märchen Du)
Diese tiefinnerliche Sehnsucht des Dichters nach Gott, die er in seine Worte eingesenkt hat, berührt uns ebenso tief – weil sie an unsere eigene Sehnsucht nach Gott erinnert. Was der Dichter fühlt und sagt, es ist in uns allen gleich angelegt – weil es universeller Teil unserer aller Herkunft ist. Gott ist da – in uns selbst. Wie aber können wir Ihn finden, denken, Ihn sehen und hören, Ihn fühlen und begreifen, so unsichtbar wie Er tief verborgen in uns wohnt? – Wir müssen Ihn voraussetzen und wahr machen – indem wir uns als das übernatürliche Wesen Seiner Selbst anerkennen lernen: Wir kommen aus der Vollkommenheit Gottes und verlieren beim Eintritt in diese Welt die Erinnerung an unsere wahre Herkunft – und jagen seitdem dem unstillbaren Hunger nach unserer seelischen Heimat hinterher – weil wir tiefinnerlich wissen, daß es diesen Zustand der Vollkommenheit gibt und daß wir irgendwie nur herausgefallen sind aus ihm. Diese psychische Erschütterung tragen wir ein Leben lang mit uns; sie begründet unsere Angst und Ohnmacht. Wir spüren: Etwas Wesentliches ist uns verloren gegangen, wir müssen es wiedererlangen – doch wie? – Und so beginnt der Mensch zu ringen, zu kämpfen, zu schreien – zu schreiben – nach dem, was als Ausdruck dieser seligen Er-inner-ung schemenhaft in uns auftaucht und zurückgeblieben ist. Und dann erschafft sich der Mensch im Äußeren Hilfen, Zeichen, Symbole, auch Krücken, sich zu erinnern und zu bekräftigen, daß es diesen himmlischen Ort seiner Phantasie gibt (in Sanskrit: Sat Lok: Wohnstatt der Wahrheit, die ewige Heimat der Seele in Gott). Und in der Expedition und der Expression nach dieser Sehnsucht entsteht – die Kunst. Schrei ist sie wie Kuß – nach und von Gott. – „Wenn ein Mensch zu einem Worte kommt und es ausspricht, so ist/ dies viel. Denn ein Wort kann sein wie ein Saatkorn, es/ fällt in die Erde und keimt und wird ein großer Baum...“ – Ja, es ist dieses ‚Paßwort‘, das uns fehlt, der Heilige Name, der uns Zugang zum ersehnten Land verschafft, wo wir wieder frei und glücklich atmen dürfen. Dieses WORT – es ist zum einen das gesprochene Wort, zum anderen der Geist, der allem innewohnt, die Kraft, die alles bewegt, zum dritten auch der heilige Schlüssel, der das Tor nach Sat Lok aufschließt (in Sanskrit: Sat Shabdha: der Energiestrom, der Lichtklang bzw. Sat Naam: das Heilige Wort, das wahre Wort, das ursprüngliche Naam, die rein-geistige Kraft der sich zum Ausdruck bringenden positiven Schöpferkraft, die die Seele zum Ursprung zurückführt). Erhält oder erringt ein Mensch dieses Wort – diese W-örtliche Weisung –, so ist er verbunden mit der inneren Führung zu seinem Ursprunge zurück... Das ‚Wort‘ steht in dieser Beziehung auch für den inneren Ton und Klang, die transzendentale Verbindung der Seele mit Gott…
Die folgenden Zeilen des russischen Schriftstellers Konstantin Georgijewitsch Paustowski (1892-1968) über den Maler Vincent van Gogh (zitiert aus: Die goldene Rose, Gedanken über die Arbeit des Schriftstellers, 1956) passen in so vielen Facetten und Anklängen auch auf das Leben, das Werk und Wesen Franz Rappls, daß ich sie hier beigeben und mit ihnen dieses Kapitel beschließen möchte:
„Es läßt sich schwer ein Beispiel größerer Selbstentsagung im Namen der Kunst finden als das Leben van Goghs. Sein Traum war, in Frankreich eine >Malerbruderschaft< zu gründen, eine Art Kommune, in der nichts die Maler vom Dienst an der Malerei ablenken sollte./ Van Gogh hat viel gelitten. In seinen >Kartoffelessern< und dem >Anstaltshof< ist er in die tiefsten Tiefen der menschlichen Verzweiflung hinabgestiegen. Er sah die Aufgabe des Künstlers darin, den Leiden mit seiner ganzen Kraft, mit seinem ganzen Talent entgegenzutreten./ ... Er war bettelarm, stolz und unpraktisch. Er teilte das letzte Stück Brot mit dem Obdachlosen und wußte aus eigener, leiblicher Erfahrung, was soziale Ungerechtigkeit ist. Er machte sich nichts aus billigem Erfolg./ Gewiß, er war kein Kämpfer. Sein Heroismus bestand in dem tiefen, unerschütterlichen Glauben an eine schöne Zukunft der tätigen Menschen – der Landleute und der Arbeiter, der Dichter und der Gelehrten. Er konnte kein Kämpfer sein, aber er wollte zu den Schätzen der Zukunft das Seine beitragen – seine Gemälde, die die Erde besingen. Und er hat es geschafft.“
Am Ausgang dieser Betrachtungen stehen neben einem erweiterten Blick auf die Motive des Schaffens der Malerin Violanthe Rappl drei große mystische Fragen Franz Rappls betreffend:
1. Ob er zuletzt – trotz allem und vielleicht sogar ekstatisch – sein Leben
anders als ‚verpfuscht‘ bezeichnet hätte, anders also als es Violanthe bei
seiner Beerdigung empfand? (Bedauerlicherweise dürfen wir die diesbezüglichen
uns durch Frau Schindler in Ihren Antwortbriefen gegebenen Informationen nicht
öffentlich machen.) Ob er die ‚Prüfungen und Übungen‘ nicht eher als
Bestätigung seiner kosmischen Kontemplationen anzusehen vermochte, als
Gnadenlehre und Zutrauensbeweise Gottes? – Möglicherweise hätte sein Leben
weniger aufzehrend verlaufen können niemals aber mit schönerem Werke gekrönt
werden – ohne die konfliktbeladene Abgeltung oder Kompensation auch all der
Opfer, all der Bewußtseinsschmerzen, die er – wie alle Liebenden in zeitloser
Ewigkeit – darzubringen und zu ertragen hatte.
2. Ob es gar nicht Violanthe sondern ‚der Geist Franzens‘ gewesen war, der vor
Jahren insistierte und mich inspirierte, das künstlerische Erbe seiner Familie
zu sichern?
3. Ob uns Irdischen die Freude und Erschütterung erdenklich wären, die vor
allem Vater und Tochter bei ihrer seelischen Wiederbegegnung ergriffen haben
mochte?
Vielleicht aber um eine Antwort hätten wir die Lückenhaftigkeit dieser Zeugnisse, die wir aus dem Leben Franz Rappls sichern konnten, vor allem zu bedauern: um die Frage nämlich, wie weit ihn die geistigen Offenbarungen, die ihm zuteilgeworden waren, vor der menschlichen Verzweiflung bewahren halfen: Ob seine numinose Gewißheit, auf die er sich in seinen Werken berief, die schweren Anfechtungen, die er zu bestehen hatte, abwehren konnte? Ob es ihm trotz äußerster Bedrängnisse gelungen war, wissend und frei aller Zweifel an seinen Einsichten festzuhalten, dem Wahrheitslicht seiner inneren Schau zu vertrauen? Leuchtete es ihm verläßlich durch die dunklen Zeiten hindurch?
Wir hätten diese Fragen zu stellen – gäbe es seine Werke nicht! – Dann aber stellten wie sie überhaupt nicht! – „Das Ende der Entente“ – dieses politische Manifest, das nicht aktueller sein könnte und auch nicht allgemeiner das Wesen des Deutschtums und darüber hinaus seine einzigartige Stellung im weltkosmischen Plane enthüllt! – dieses eines seiner ersten Werke kann daher sogar als ‚letzter‘ Beweis gelten, so wir ihn nötig hätten, daß sein Autor sehr früh schon unangreifbar und jenseits aller Besorgnisse stand: Er ist 27 Jahre alt – und nichts in seiner geistigen oder literarischen Entwicklung vollzog sich nacheinander; weder entwickelt sich seine Poesie aus der Prosa noch umgekehrt: Alles ist zugleich und in voller Kraft und Blüte und eigener Form verfügbar, der weltkluge epische Charakter seiner Deklarationen genauso wie die spirituelle Melodie seiner Lyrik: Vier Werke wenigstens dieser unterschiedlichsten Genres entstehen allein zwischen 1920 und 1922: Sein geistlicher Standpunkt und sein künstlerischer Maßstab sind früh und ehern ausgebildet.
In ihren kindlichen und elterlichen Defiziten fand die Malerin Violanthe Rappl unzweifelhaft ihre Urbilder, sich mit den komplexen Themen menschlicher Deformation, der Sucht und des Selbstbetrugs auseinanderzusetzen; sie begründen später das zentrale Motiv vor allem ihrer metaphorischen Bilddarstellungen. Das eigene und das väterliche Schicksal verdichteten sich wie in einem Katalysator zu tiefgreifenden Anschauungen und Gestaltungen über die tragische Verkettung und Weitergabe emotionaler und physischer Konflikte: Die Erniedrigten und Beherrschten lernen zu erniedrigen und zu herrschen, die Bedrohten zu bedrohen, die Geschlagenen zurückzuschlagen, die Betrogenen sich selbst und andere zu belügen, die Unwillkommenen zu fliehen, sich zu verkapseln...
Meinungen Dritter zufolge wäre das Sinnbild, das Franz Rappl auf einem Gemälde seiner Tochter als Bettler darstellt, fehlgedeutet. Ich zitiere dazu aus den mir vorliegenden Entgegnungen:
„Mein Opa war KEIN Bettler, er zog, nach der Pleite des Tagewerk Verlages in Donauwörth NICHT in das Haus meines Urgroßvaters zusammen mit Ilse und den Kindern, sondern in eine Wohnung in der Mülheimer Heinrichstraße. Nach ein paar Jahren wurde in eine herrschaftliche Wohnung in die Goethestraße 11 umgezogen. Dort wohnte die ganze Familie zusammen von Anfang der 30er Jahre bis 1954, wo Ilse und Franz separiert wurden (sie wurden nie geschieden). Franz zog dann in die Direktorenvilla einer Lederfabrik, mit Verpflegung, und später zu meiner Mutter nach Wertheim am Main. Das >Bettlerbild< entstand in Verbindung mit einem Karnevalsfest.“
Diesen Erklärungen stelle ich meine Interpretation wertungsfrei gegenüber:
Eines der fünf Porträts, die Violanthe von ihrem Vater gemalt hat, zeigt ihn als Bettler. In Blick und Ausdruck auf diesem Bilde schwingen alle Antworten auf die hier gestellten Fragen: ‚Ist mein Anzug auch geflickt, so kann dies jedoch niemals meiner inneren Majestät etwas antun!‘ Auf Stirn und Brillengläsern verklärter Glanz, um seinen Mund sogar ein Lächeln von Dankbarkeit. Dieses prophetische Lächeln – vergegenwärtigen wir es uns stets – leuchtet aus jeder Zeile seines Werkes. – ‚Glänzend…‘, ‚leuchtet…‘, ‚Dankbarkeit…‘? – obwohl ihm alles, wovon er in seinen Büchern träumte, in physischer Existenz versagt blieb?! – Daher um so sicherer: Woran sonst könnte sich eine Überzeugung messen, wenn nicht am Widerspruch, der sie anzweifelt! Könnte ich je eine sichere Stellung begründen, ohne vorher eben an den Gewalten, die ihr entgegenstehen, meine Augen, Sinne und Kräfte verfeinert oder gestählt zu haben? Kann es Bewegung geben ohne Widerstand – von dem aus sie abstößt? – Nach Monaten der Beschäftigung mit diesen Fragen um Franz Rappl und der Entdeckung der reich blühenden Wunderwiesen, die er hinterlassen, wage ich fest an seine mentale und ideelle Souveränität zu glauben: sich trotz aller äußeren Störungen in unerschütterlichem inneren Gleichgewicht befunden zu haben – da er wußte: „Dies ist eine Prüfung und Übung, die ich bestehe!“
Diese Prüfungen und Übungen scheinen wir unausgesetzt bestehen zu müssen: um der Sache treu zu bleiben, sich der vermeintlichen Sicherheit wegen nicht von ihr abzuwenden, uns aufrecht – beharrlich – zur eigenen Wahrheit zu bekennen, nicht sie um Schein und Reputation zu verkaufen. Das fordern die Bruchstellen unserer Existenz ein: die vor meinem Verantwortungsgefühl vertretbare Anschauung, meine Idee vom Wirken des Geistes in seinen wahren Forderungen nicht zu veräußern – trotz des drohenden ‚Zusammenbruchs‘, der Ablehnungen und Ausgrenzungen, die mir als Reaktion auf meine Gewissenstreue entgegenschlagen werden. Verteidigt der Künstler diese Intention seiner Berufung oder liefert er sie aus – eines kurzen und gefälschten Ruhmes oder seines ‚Überlebens‘ wegen? Beschützt er die heilige Verehrung des Geistes im Herzen, die Reinheit der eigenen schöpferischen Kraft, den unermeßlichen Wert der Hingabe an die Forderungen des Gefühls, oder schändet er sie, sobald es Not und Eitelkeit gebieten? – Diese existentielle Frage stellt Gott in jedem Moment – zumindest und unausweichlich jedem Künstler. Daher auch tragen die wenigsten ihren Namen zu Recht: Sie dienen dem Massengeschmack, dem ideologischen Konsens – sie müssen es, angesichts ihrer geistigen und materiellen Abhängigkeit. KUNST aber IST REVOLUTION, ist kompromißloser Aufstand gegen jede etablierte Position – die nicht die höchste Verwirklichung des Geistigen Menschen erstrebt. Und so auch ist ein Werk erst dann ein WERK, wenn es dem Geist dient, gleichgültig, wie es momentan ‚in der Welt‘ dasteht! Und ein Beruf ist erst dann ein Beruf, wenn er dem Geiste dient und nicht den Pseudomotiven der Systemfunktionäre. Denn des höchsten Menschen Wort ist Verläßlichkeit – die Deckung seiner Aussagen mit seinem Tun. Und Franz Rappl verfügte eine Zeit lang über all dieses: den Maßstab, das Talent, das Handwerk und die notwendige Apparatur; er durfte stolz sein – und war zu recht Visionär. 1927 gingen ihm diese materiellen Bedingungen verloren, seine vielseitigen Begabungen voll entfalten zu können – und gerade in diesem Moment erblickt seine 2. Tochter, Violanthe, das Licht der Welt. – Wie hat er diese Herausforderung gemeistert, wie sich all der früheren Demütigungen, des Zusammenbruchs des Geldberufs, der Ehe-Separierung, der Vergessenheit und der Misere seines nachfolgenden Lebens erwehrt? – Wirkte eine unbegreifliche Vorsehung vielleicht nicht sogar bis auf seinen Vater zurück, den es aus Affinität zum Buchgewerbe sein ganzes Leben lang gedrängt hatte, die eigene Druckerei zu gründen? Nun erst waren ihm, Franz Rappl, alle Voraussetzungen geschaffen, sein herausragendes Talent auch ‚veröffentlichen‘ zu können. (Allerdings haben auch die Buchhandlung Ludwig Auer in Donauwörth und die C. H. Beck’sche Buchdruckerei in Nördlingen Drucke von ihm hergestellt.) Doch die Verhältnisse zwingen ihn in eine andere Richtung: Er muß den ‚Tagewerkverlag Donauwörth‘ aufgeben – nachdem er dort sein letztes Werk noch drucken läßt: die „Botschaft vom Geiste“. Fortan kümmert sich Franzens Bruder Gotthard, der Vater Frau Schindlers, um den Fortbestand und die spätere Abwicklung des Betriebs. Unter der Wirtschaftskrise, der Inflation und der übermächtigen Konkurrenz durch den Auer-Verlag brach 1933 endgültig alles zusammen: Der Vater Franz Rappls, Carl Rappl, zieht sich zurück; 1934 tritt auch Gotthard seine neue Stelle als Verlagsleiter in Günzburg an. Franz Rappls literarische Reputation hat vielleicht nicht ausgereicht, andere Verlage oder Druckereien zu finden; hinzu die emotionalen Entkräftungen, die ihm die Fortsetzung seiner schriftstellerischen Tätigkeit versagt haben könnten...
Über alle individuell-persönlichen Widersprüche hinaus, in die sich Menschen aus psychischer oder emotionaler Überforderung flüchten, bleiben und wirken als Sichtbares, als Existentiell- und Existent-Greifbares die Werke von Franz und Violanthe Rappl. Aus ihnen sprechen ihre Grundmotive und Idealmaxime deutlichere Sprache – als aus allen ihren vermeintlich-offenkundigen Verhaltensweisen, deren letzte Ursachen uns Außenstehenden nie vollständig erklärlich sein werden. Wer sich auf die psychologische Bildsprache Violanthes einläßt und damit den künstlerisch-intuitiven Weg betritt, dem erhellen sich gewiß auch auf anderen Ebenen die komplexen Gründe sowohl für die kognitiven Dissonanzen in ihrer Persönlichkeit als auch für ihre introspektive Veranlagung.
Vor allem diese Erkenntnis hat nun schärfere Kontur gewonnen: daß das bildnerische Werk Violanthe Rappls – weit mehr als bisher gedacht – eine tiefe und liebesreiche Hommage auch an ihren Vater ist: ihn zu verteidigen, zu erklären, zu rehabilitieren. Ihre resolute Verweigerung, weder ihrer ältesten Lebensfreundin noch mir, dem Kameraden der letzten Jahre, Auskünfte über ihn zu geben, kam ihrem Wunsch nach Selbst- und Vaterschutz nach, die Erschütterungen, die das Leben ihnen beiden zugefügt hatte, zu bewältigen. Nie war sie Ausdruck von Geringschätzung – zu viel hatte sie ihrem Vater zu verdanken und von ihm übernommen. Dafür empfand sie liebevolle Verehrung. Vor allem Respekt und Verständnis hat sie schweigen lassen, sich selbst und ihrem Vater den wohlverdienten Frieden zu schenken...
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Ursprünglich:) Berlin, im Oktober 2015.
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