Pädagogik zum Gruseln
Unsere Kinder verfügen
"über keine Frustrationstoleranz und meiden jede Anstrengung". Jeder
"zweite Azubi hat eine Psyche wie ein Kleinkind", in den Grundschulen
hinken gar "70 bis 80 Prozent der Kinder ihrer Entwicklung weit
hinterher."
Die Botschaften
kommen einem bekannt vor? Der Sound vertraut? Tatsächlich: Er ist wieder
da. Doktor Michael Winterhoff, Kinderpsychiater und Bestsellerautor hat
ein neues Buch geschrieben. Winterhoff gilt als der Thilo Sarrazin der
Erziehung in Deutschland und so heißt sein neustes Werk
konsequenterweise: Deutschland verdummt. Wie das Bildungssystem die Zukunft unserer Kinder verbaut.
Ein knappes Dutzend Werke sind mittlerweile unter seinem Namen
erschienen. Dabei war es egal, welches Buch man las. Denn Titel wie Warum unsere Kinder Tyrannen werden, Persönlichkeiten statt Tyrannen oder SOS Kinderseele ähnelten sich wie die Thesen, die Winterhoff wie Textbausteine immer neu zusammensetzt.
Die Psyche der Kinder verkümmert
Deutschlands Eltern haben es demnach verlernt zu erziehen. Statt ihrem Nachwuchs Grenzen zu setzen, behandeln sie ihn als Freund und Partner. Im Extremfall, der für Winterhoff meist die Regel ist, verbindet Erwachsene und Kinder eine Art "symbiotischer Beziehung". Die Folge: Die Sprösslinge haben keine Chance, sich zu entwickeln, ihre Psyche verkümmert auf dem Stand eines Säuglings. Wenn diese Kinder erwachsen werden, gefährden sie unseren Wohlstand, ja die ganze Gesellschaft.
Hunderttausende
Mütter und Väter haben diese Beschimpfungen gelesen – gelernt haben sie
jedoch dem strengen Therapeuten Winterhoff zufolge nichts. "Der Kampf
ist so gut wie verloren", schreibt er nun. Die letzte Hoffnung "die
Psyche der Kinder doch noch zu entwickeln, liegt also auf Kindergarten
und Schulen". Darum also geht es im neuen Buch. Aber natürlich versagen
Kitapersonal, Lehrerschaft und Bildungspolitik genauso wie die Eltern.
Das hat laut Winterhoff viele Gründe: die zu großen Klassen, die Sparpolitik, Pisa, der Föderalismus, die Kompetenzorientierung, der Digitalisierungswahn … Man kennt die Aufzählung von anderen Beschreibungen des pädagogischen Niedergangs. Doch während Autoren wie Gerald Hüther oder Richard David Precht die Schulen als verkappte Dressuranstalten geißeln, haben sie Winterhoff zufolge das Dressieren leider verlernt. Im Gegenteil, in deutschen Bildungsanstalten herrsche die offene Anarchie.
In der Kita haben
sich die Erwachsenen danach weitgehend auf den Beobachterstatus
zurückgezogen: Die Kinder entscheiden selbst, wo sie spielen, wann sie
essen und "ob und wann sie gewickelt werden" (!). Später in der Schule
lümmeln sich die Jungen und Mädchen auf "Puschelteppichen" oder
"Sitzsäcken" und greifen "je nach Lust und Laune" mal zu einer Hör-CD,
mal zu einem Lernvideo. Wagt der Lehrer doch einmal, einen Hinweis für
alle zu geben, würden die Kinder dies kaum verstehen.
Als Schuldigen macht
Winterhoff die "Ideologie des offenen Unterrichts" aus. Statt seine
Klasse wie früher mit klaren Anweisungen zu führen ("Jetzt holen alle
das Deutschbuch heraus!"), würden die Lehrer heute ihre Schüler mit
Aufgabenzetteln abspeisen und sie dann ohne Anleitung und Hilfe allein
lassen. Doch dieses "autonome Arbeiten" überfordere die Kinder und raube
ihnen die Chance, zu lernen und sich zu entwickeln.
Schlechten offenen Unterricht gibt es tatsächlich zuhauf – so wie es schlechten Frontalunterricht gibt, wo der Lehrer oder die Lehrerin über die Köpfe der Kinder hinweg redet. Ein Lehrer, der nur auf die Eigenmotivation seiner Schülerinnen und Schüler setzt und die Klasse bloß moderiert, hat seinen Job nicht verstanden. Doch verstehen sich tatsächlich so viele deutsche Pädagogen, wie Winterhoff behauptet, als passive "Lernbegleiter"? An wie vielen Schulen sind die Noten wie auch die Hausaufgaben komplett abgeschafft? Und wo ist der offene Unterricht die durchgehende Unterrichtsmethode? Glaubt man den Ergebnissen der empirischen Bildungsforschung sowie den Unterrichtsbeobachtungen durch die Schulinspektionen der Länder dürfte eher das Gegenteil der Fall sein: danach beherrscht der traditionelle Lehrervortrag (insbesondere nach der Grundschule) weiterhin den Schulalltag.
Drei Erklärungen für den Erfolg Winterhoffs
Der offene Unterricht, oder besser der schülerzentrierte Unterricht, versucht eine Antwort zu geben auf die wachsende Vielfalt in den Klassenzimmern. Schüler kommen mit unterschiedlichen Fähigkeiten in die Schule, lernen im eigenen Tempo, brauchen eigene Zugänge. Dafür gibt es unterschiedliche Methoden, ob sie nun Lernstation oder Wochenplan heißen, Projektunterricht oder Freiarbeit. Die Methoden sind anspruchsvoll und wenn Lehrkräfte sie nicht beherrschen, gibt’s Chaos im Klassenraum. Wenn es gut geht, lernen die Schüler jedoch, was sie heute am dringendsten brauchen: die Fähigkeiten, Probleme zu lösen und sich von Neuem nicht einschüchtern zu lassen.
Von
alledem scheint der Autor freilich noch nie etwas gehört zu haben.
Michael Winterhoff bastelt sich seine Schulrealität aus
Zeitungsartikeln, Meinungsumfragen und Interviews mit Praktikern, die
der Autor über das Buch streut. Da ist die "Gymnasiallehrerin Frau D.",
der "Berufschullehrer H." und der "Hausmeister S". Die Begründung für
die Anonymität seiner Kronzeugen (Angst vor Repression) ist etwas
seltsam, angesichts der Tatsache, dass gefühlt jede Woche eine Lehrerin
ihr Leid in einem neuen Buch beklagt. Die Gesprächspartner bestätigen
außerdem immer genau das, was Winterhoff vorher ausgeführt hat – oft mit
fast identischen Worten ("Früher hatten die Lehrer das Ganze im Blick,
heute werden die Kinder kaum beachtet"). Das nährt den Verdacht, dass
diese Gespräche so nie stattgefunden haben.
Darüber hinaus sollen Fallgeschichten aus der Winterhoffschen Therapeutenpraxis aus Bonn seine Thesen belegen. Dieser rein pathologische Blick erlaubt jedoch kaum allgemeingültige Aussagen über alle Kinder. Man befragt ja auch keinen Bordellbesitzer zum Zustand der Ehe in Deutschland. Immerhin eines ist besser geworden im neuen Buch: Die Anzahl der schiefen Metaphern, originellen grammatikalischen Konstruktionen oder Satzgirlanden, die irgendwo im Bedeutungsnirwana enden, hat sich merklich reduziert. Hier zeigt offensichtlich der Beistand einer im Impressum genannten Konzept- und Textberaterin Wirkung.
Nicht redigieren ließ
sich der düstere pädagogische Pessimismus, der das ganze Werk des
Autors durchzieht. Kinder und Jugendliche sind demnach rein lustbetonte
Wesen, die eine kurze Leine benötigen. Wenn Erwachsene den Kindern
erklären, warum sie etwas lernen sollen, dann ist das laut Winterhoff im
Grundschulalter "schädlich"; dass Schüler ihre Leistungen im Unterricht
selbst einschätzen "Unsinn"; Hausaufgaben: "Frühestens wenn das Kind
vierzehn Jahre alt ist, können sich die Eltern darauf verlassen, dass es
sich aus eigenem Antrieb an den Schreibtisch setzt."
Zusatzaufgaben, Nachsitzen, Wiederholungen
Nur
von welchen Kindern spricht Winterhoff hier: von seinen eigenen? Von
seinen Patienten? Oder von den Schülern von Frau D. oder Herrn H.? Schon
in seinem ersten Buch plädierte der Autor für die alte
Lenkungspädagogik, also für Zusatzaufgaben, Klassenbucheintragungen,
Nachsitzen sowie (in typischer Winterhoff-Prosa) "möglichst häufige
Wiederholungen bei der Einübung der Grundfunktionen."
Bleibt die Frage nach den Ursachen des Winterhoffschen Erfolgs. Warum kaufen Eltern, Lehrerinnen und Erzieher seine Bücher? Warum folgen sie den verschwurbelten Gedanken eines Psychiaters, dessen wichtigster Therapievorschlag darin besteht, in den Wald zu gehen? Der Kinder als "Monster" bezeichnet und tatsächlich behauptet, mehr als die Hälfte von ihnen seien psychisch gestört.
Erklärung
eins: der Expertenbonus. Als "Deutschlands bekanntester Philosoph"
(Precht) oder "Deutschlands renommiertester Hirnforscher" (Hüther) kann
man zu allem etwas sagen, zur Schule ohnehin. Das gilt für Deutschland
bekanntesten Kinderpsychiater erst recht.
Erklärung zwei:
Horrorlust. Nichts lässt einen genussvoller gruseln, als die Gewissheit,
dass die nächste Generation verloren ist. So war's schon bei Sokrates.
Erklärung drei: der
Entlastungeffekt. Wer die Winterhoffschen Alarmmeldungen liest, fühlt
sich gleich besser, denn so schlimm ist es in der eigenen Klasse,
Familie, Kitagruppe zum Glück noch nicht – und wenn doch, dann bekommt
man die Schuldigen geliefert (Monsterkinder, Versagereltern, vernagelte
Bildungspolitiker).
Insofern wird auch dieses Buch seine Leser finden. Es hat alle Zutaten zu einem pädagogischen Bestseller.
Kommentare
@Deutschlands Eltern haben es demnach verlernt zu erziehen. Statt ihrem Nachwuchs Grenzen zu setzen, behandeln sie ihn als Freund und Partner. Im Extremfall, der für Winterhoff meist die Regel ist, verbindet Erwachsene und Kinder eine Art "symbiotischer Beziehung"
Er hat doch Recht , die Probleme fangen doch erst Richtig an wenn diese Junge Menschen in die Berufswelt kommen .
da gelten dann andere Regeln , da kommt dann das böse Erwachen.
das ist aber nicht schuld der Kinder sondern die der Eltern die alles unangenehme verdrängen und keine Grenzen setzen .
Da bleibt im Berufsleben nur das Leben als Chef. Das garantiert vermeindlich den Platz an der Sonne, mein Kind soll es besser haben, sich nicht dem Chef unterordnen müssen. Eltern heilen damit oft ihr eigenes Jammertal. Hammer oder Amboss sein, dass ist neuerdings die Frage bei der Erziehung. Das wird von Eltern so nicht formuliert. Das heißt dann sich durchsetzen, seine Individualität und Interessen bewahren. Grenzensetzen würde heißen, Einschränkung für die individuellen Interessen zu akzeptieren. Ja, im Kern ist das assozial.
Es ist die große Angst vor einer intellektuellen Elite. Das scheint vielen ungerecht und deshalb bevorzugt man Mittelmaß für alle.
@destination
Es ist die große Angst vor einer intellektuellen Elite. Das scheint vielen ungerecht und deshalb bevorzugt man Mittelmaß für alle.
Glaube ich nicht , eher das Gegenteil , viele Eltern wünschen sich ja das ihr Kind eines Tages zu dieser " Elite " gehört ,
besondere Leistung bekommen Sie aber nur wenn Sie auch den Weg der Härte gehen , ist genau wie im Sport , wer sich nicht quält wird nie zur Spitze gehören
Ach Gott, das ist wie bei Casting Shows, das wird gelesen und man freut sich, dass das eigene Kind doch etwas normaler geraten ist.
Inzwischen schreibt ja jede und jeder am Untergang, ja, es gibt Probleme, aber die gab es schon immer, es hat nur nicht jeder im Sekundentakt drüber getwittert oder fühlte sich bemüßigt ein Buch zu schreiben.
Immerhin hat es der gute Mann ja auch in eine Kritik hier geschafft.
>> Der Thilo Sarrazin der Erziehung Michael Winterhoff hat wieder mal ein Buch geschrieben. Diesmal versagt das Bildungssystem. Warum kaufen Eltern und Lehrer seine Bücher? <<
Weil Winterhoff zwei, drei Schmerzpunkte trifft. Manchmal reicht das.
Die deutsche Bildung und Erziehung braucht mehr Singapur. Nicht 100% Singapur, aber doch weit mehr als heute.
In der Familie braucht es Disziplin und Autorität, auf dem Markt, Da draußen hingegen absolutes laissez-faire.
Die dekadente deutsche Gesellschaft hingegen macht es umgekehrt. Reguliert den Markt, ein nicht kapitalistisches Land, sondern ein korruptes interventionistisches Land. Jeder, der glaubt, wir lebten im Kapitalismus, betrügt sich selbst. Wir leben im John Maynard Keynes Interventionismus, mit ein bisschen Milton Friedman dabei, und aber vor allem auch viel Marx. Milton Friedman ist so la la. Keynes ist Mist, und Marx ist die Seele des Bösen.
Wir brauchen viel mehr Ludwig von Mises.
In der Familie aber mehr Amy Chua.
https://de.wikipedia.org/...
https://de.wikipedia.org/...
Mehr Singapur in der Familie, viel mehr Liechtenstein da draußen. Wir müssen außen den Altmarxismus besiegen, dazwischen den Neomarxismus besiegen (also keine offenen Grenzen mehr, denn die absolute Selbstverteidigung und Selbstbestimmung schafft mehr Grenzen, nicht weniger - im idealen Anarchokapitalismus verteidigt jeder seinen Privatbesitz mit Stacheldraht und Elektrozaun), und innen in der Familie müssen wir den falschen Liberalismus besiegen, denn der wahre Liberalismus ist laissez-faire für den Markt, nicht für die Familie.
Disziplin, Tradition, Leistung in der Familie und Freiheit auf dem Markt.
Und für das Seeleninnere brauchen wir Meister Eckhart, Lao Tse, Longchenpa, Garab Dorje, Alfred North Whitehead - libertäre Spirituelle, echte Häresie. Häresie ist generell die Lösung. Paläolibertarismus ist Häresie, Sozialismus ist Dogma.
Für das Seeleninnere ist Mohammed das übelste Dogma. Meister Eckhart, Alfred North Whitehead, Lao Tse, Garab Dorje, das ist alles so Anti Mohammed wie nur möglich, denn Mohammed und Marx sind die Seele des Bösen, schlimmstes Dogma.