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Philosoph Omri Boehm
„Zionismus nicht vereinbar mit humanistischen Werten“
Zwischen einem jüdischen und einem demokratischen Staat besteht ein Widerspruch – diese Ansicht vertritt der israelische Philosoph Omri Boehm. Denn um jüdisch zu sein, müsse man „jüdisches Blut“ haben – und ein Staat könne keine liberale Demokratie sein, wenn er sich zugleich erlaubt, ethnisch nicht neutral zu sein, sagte er im DLF.
Natascha Freundel:
Am Mikrofon begrüßt Sie Natascha Freundel. Mir gegenüber im Studio
sitzt der israelische Philosoph Omri Boehm, der als Professor in New
York an der Universität für Sozialforschung, an der New School, unter
anderem Kant, Descartes und Spinoza unterrichtet. Herzlich willkommen,
Herr Boehm!
Omri Boehm: Hallo!
Freundel:
Omri Boehm wurde 1979 in Haifa geboren und ist in der kleinen Ortschaft
Gilon im Norden Israels aufgewachsen. Er ist ein israelischer Jude und
deutscher Staatsangehöriger, mit einer – ich zitiere ihn –
„bildungsdeutschen jüdischen Großmutter und einem traditionsverhafteten
iranischen jüdischen Großvater“. Omri Boehm hat in Tel Aviv studiert und
in Yale promoviert, über „Kants Kritik an Spinoza“. Er hat in
Heidelberg und München gelebt und geforscht und er schreibt
meinungsstarke Artikel, etwa in der israelischen Zeitung Haaretz oder
hierzulande in der ZEIT, in denen er das politische Denken und Handeln
Israels sehr heftig kritisiert. Und wir wollen mit Omri Boehm über sein
Heimatland reden und über die deutsch-israelischen Beziehungen, die –
auf diplomatischer Ebene – seit 50 Jahren bestehen. Zunächst aber möchte
ich Sie fragen, Herr Boehm, welche familiären Beziehungen Sie zu
Deutschland haben? Sie sprechen von Ihrer „bildungsdeutschen“ Großmutter
– woher stammte sie?
Boehm:
Meine Großmutter stammte aus Breslau. Sie hat Breslau ‚39 verlassen,
als sie 16 war oder so. Als ein Kind habe ich mit ihr natürlich kein
Deutsch gesprochen. Und auch sehr wenig über Deutschland. Aber dann
irgendwann als ich nach Berlin zum ersten Mal gekommen bin, das war
2001, habe ich irgendwann verstanden, ach, Berlin ist sehr interessant,
wir müssen meine Großmutter doch auch wieder nach Berlin bringen. Dann
hat mein Vater sie nach Berlin gebracht, und zusammen waren wir hier für
eine Woche. Das war sehr interessant und so haben wir angefangen, mehr
über Deutschland und so zu sprechen.
Freundel: Und inwiefern war sie eine „Bildungsdeutsche“ oder ist sie eine „Bildungsdeutsche“?
Boehm:
Es wurde doch Thomas Mann, Schopenhauer, Nietzsche zu Hause gelesen,
Wagner gehört, und so weiter und so fort. Also das, was vielleicht nicht
in allen israelischen Häusern gemacht wird. Gelesen aber auf Hebräisch
oder Englisch, nicht auf Deutsch.
„Widerspruch zwischen einem jüdischen und einem demokratischen Staat“
Freundel:
Aber man kann schon sagen, dass Ihre Großmutter einen gewissen Einfluss
darauf hatte, dass Sie sich für die deutsche Philosophie, insbesondere
für Kant interessieren?
Boehm:
Ja, das auf jeden Fall. Wobei das erste Buch, das sie mir geschenkt
hat, war Spinozas Theological-political Essay. Sie hat gesagt: „Am
Anfang versteht man nicht, warum das überhaupt Philosophie ist. Aber
irgendwann wirst du es schon verstehen.“ Irgendwann habe ich das
verstanden, und trotzdem wollte ich, als ich das schon verstanden habe,
wollte ich das doch mit Kant kritisieren. Ich dachte, die Philosophie
Kants ist viel wichtiger für uns als die Philosophie Spinozas.
Freundel: Was erscheint Ihnen so reizvoll an der Philosophie Kants?
Boehm:
Sie will nicht immanent denken. Heutzutage wollen die Philosophen
normalerweise alles immanent denken, sie wollen alles von sozusagen
„drinnen“ denken, ohne Transzendenz. Ich denke, um wirklich radikal zu
denken, muss man auch von außen denken können. Und das kann man mit
Spinoza nicht wirklich gut tun. Alles was passiert, alles was gedacht
wird, passiert oder wird gedacht von innerhalb der Welt. Mit Kant
leugnet man diese Position.
Freundel: Mit Kant fragt man nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Tatsache.
Boehm:
Genau, und das ist eine Frage von außen und nicht von innen. Das
ermöglicht wieder auch eine ganz andere Politik, radikaler, finde ich,
und, ja, Kritik wird ermöglicht dadurch.
Freundel:
Sie argumentieren außerhalb Israels, im räumlichen Sinne. Sie leben
außerhalb Israels, in New York, ich hatte es erwähnt, wo Sie an der New
School unterrichten. Und Sie gehören zu den wenigen jüdisch-israelischen
Intellektuellen, die die Möglichkeit eines zugleich jüdischen und
demokratischen Staates offen infrage stellen. Worauf gründen Sie Ihre
Zweifel diesbezüglich?
Boehm: Soll ich das vielleicht auf Englisch sagen?
Freundel: Vielleicht.
Boehm:
Wie eigentlich alle Israelis bin ich mit der Vorstellung aufgewachsen,
dass es vielleicht eine Spannung gibt, aber keinen Widerspruch in der
Rede von Israel als einem jüdischen und demokratischen Staat. Wir sagen
gern, Israel ist jüdisch, insofern es demokratisch ist und demokratisch,
insofern es jüdisch ist. So kann man es in der Schule hören. Oder sogar
von kritischen Linken. Erst nach einiger Zeit habe ich philosophisch
begriffen, dass man damit etwas sagt wie: Ein Quadrat ist quadratisch,
insofern es rund ist, und ein Kreis ist rund, insofern er quadratisch
ist. Man behauptet nichts weiter als einen Widerspruch, aber mit Pathos,
und glaubt daran. Meine Überzeugung, dass es einen Widerspruch gibt
zwischen einem jüdischen und einem demokratischen Staat, ist unabhängig
davon, dass Judentum eine Art Religion ist. Denn Israel könnte Judentum
anders interpretieren, nicht als Religion. Sie ist auch unabhängig
davon, dass Judentum eine Kultur ist. Denn ich glaube nicht, dass
liberale Demokratien kulturelle Neutralität verlangen oder voraussetzen.
Ein Staat kann nicht-neutral sein, kulturell betrachtet. Deutschland
ist nicht neutral, es ist deutsch, aber es ist eine Demokratie. Der
Widerspruch zwischen einem jüdischen und einem demokratischen Staat
liegt für mich darin, dass man sozusagen „jüdisches Blut“ haben muss, um
jüdisch zu sein.
Jüdisch
ist, wer eine jüdische Mutter hat. So verstehen religiöse Juden ihre
Identität. Problematischer für uns Israelis ist aber, dass auch säkulare
Juden ihre Identität so verstehen. Es ist eine Frage der ethnischen
Zugehörigkeit. Und ein Staat kann keine liberale Demokratie sein, wenn
er sich zugleich erlaubt, ethnisch nicht neutral zu sein. Die Tatsache,
dass man aufgrund seiner ethnischen Herkunft von der Gruppe der
jüdischen Israelis ausgeschlossen bleibt, verhindert, dass Israel eine
Demokratie ist. Vielleicht kann man es auch so sehen: Die Bezeichnung
„israelisch“ für mich zum Beispiel – wie Sie es vorhin getan haben,
glaube ich – ist nicht ganz zutreffend. Denn das Adjektiv „israelisch“
hat einen informellen Status, es ist ein Bastard. Sie sind deutsch,
nehme ich an. Wir sind hier von vielen Deutschen umgeben. Sie sind
deutsch, weil sie deutsche Staatsbürger sind und zu diesem Land gehören.
In Israel hat man zwar die israelische Staatsangehörigkeit, wird aber
als „jüdisch“ bezeichnet. Anders als Deutschland, das deutsch ist, ist
Israel kein israelischer Staat, sondern ein jüdischer Staat. Der
Vergleich zwischen nicht-neutralen, liberalen Demokratien und Israel ist
daher irreführend. Sie haben nicht den gleichen Status.
„Wir müssen anfangen, unseren Zionismus aufzugeben“
Freundel:
Aber könnte nicht die Interpretation des Begriffs „jüdisch“ so geändert
werden, dass man es dann doch kulturell auffasst, dass man wegkommt von
dieser ethnischen, blutsorientierten Bedeutung?
Boehm:
Sicher kann man Judentum eher als Kultur und weniger als Religion
interpretieren. Aber ich weiß von keinem erfolgreichen Versuch, ich weiß
von überhaupt keinem Versuch, Judentum so umzudeuten, nicht nur dass es
eher als Kultur und weniger als Religion verstanden wird, sondern dass
es unabhängig von ethnischer Herkunft ist. Zum Beispiel ich kann
Deutscher werden, indem ich hier lebe und ein Gefühl entwickle für
deutsche Musik, Philosophie, deutsche Geschichte. Das kann ich auch als
Jude oder als Muslim, zumindest ist es möglich. Es ist nicht
unproblematisch, aber möglich. Ich kenne kein Konzept von Judentum,
kulturell betrachtet, das es einem Araber erlauben würde, ja, was denn
zu entwickeln? Ein Gefühl für den Holocaust? Oder soll er
Woody-Allen-Filme mögen? Die Bibel lesen? Wäre er deshalb „jüdisch“? Ich
kenne keinen Begriff von Judentum, der das erlauben würde. Da wir einen
solchen Begriff nicht haben, kann ein Staat nicht jüdisch und
demokratisch zugleich sein. Die Frage ist, was tun wir angesichts dieser
Herausforderung? Eine Möglichkeit besteht darin, zu verstehen, dass wir
zumindest anfangen müssen, unseren Zionismus aufzugeben. Die andere
Möglichkeit wäre, das Judentum aufzugeben. So verstehe ich Ihren
Vorschlag, wenn Sie fragen, ob wir Judentum nicht so umdeuten können,
dass es nicht mehr vom Blut abhängt. Dann aber ist Israel wichtiger als
das Judentum selbst, und es geht nur darum, den Zionismus
aufrechtzuerhalten. Ich halte das für einen Irrtum.
Freundel: Sie sprechen hin und wieder, Omri Boehm von der „Tragik“ des jüdisch-israelischen Lebens heute. Was genau meinen Sie damit?
Boehm:
Wahrscheinlich genau das, was ich Ihnen eben gerade geantwortet habe:
Diesen Widerspruch zwischen zwei Werten, die aus guten Gründen sehr
wichtig sind für die meisten Juden und die meisten israelischen Juden,
auch für mich. Da ist der Wert des Zionismus, Israel als jüdischer
Staat. Ich gehöre nicht zu den Kritikern Israels, die keine Zuneigung
für den Staat als jüdischen Staat hegen. Ich sehe die historischen
Ursachen für seine Gründung, ich sehe die wunderbare Kultur und
Gesellschaft, die er hervorgebracht hat. Ich liebe Israel als
jüdisch-israelischen Staat. Auf der anderen Seite müssen wir uns fragen,
als Juden, als Menschen, ob wir eher diesen Werten verbunden sind oder
eher den Werten der Menschenrechte, der Gleichheit, der Demokratie. Ich
glaube, als Menschen und vielleicht sogar als Juden, sollten wir das
Letztere wählen. Vielleicht ist das die Lehre, die wir aus der jüdischen
Geschichte ziehen sollten. Dieser Widerspruch bedeutet eine Tragödie.
Denn er führt uns zu einer Lebensform, die Dingen widerspricht, an die
wir wirklich glauben. Es gibt keine Lösung, mit der wir uns in dieser
Tragödie einrichten können. Wir müssen die bittere Pille schlucken und
uns etwas Neues ausdenken. Ich weiß nicht, was das sein wird.
„Es gibt keine politische Kultur in Israel, die es erlauben würde, diese Haltung offen zu vertreten“
Freundel:
Das heißt, Sie beziehen den Begriff der Tragik nicht auf historische
Ereignisse, die als tragisch betrachtet werden können, wie die
Vertreibung der arabischen Bevölkerung 1948 im Unabhängigkeitskrieg bei
der Staatsgründung Israels und so weiter, alle Kriege, die daraus
gefolgt sind. Sie glauben an einen inhärenten tragischen Widerspruch?
Boehm:
Ja, ich glaube, das ist die größte Tragödie für die Juden in Israel
heute. Die Tragödie, von der Sie gerade gesprochen haben, ist vielleicht
eher ein Verbrechen. Ich würde es nicht als Tragödie bezeichnen, muss
ich sagen, sondern als ein Verbrechen, infolge der Unfähigkeit,
ernsthaft mit unserer Tragödie umzugehen. Statt ernsthaft darüber
nachzudenken, was wir als israelische Juden tun sollten, gehen wir mit
Gewalt gegen die palästinensische Bevölkerung vor. Das stimmte
vielleicht schon für 1948, wobei die Umstände damals natürlich sehr
verschieden waren so kurz nach dem Holocaust, eine völlig andere
Situation im Nahen Osten, ohne Frage. Doch man sieht an Denkern wie
Hannah Arendt und Martin Buber – Denkern, die jedenfalls nicht unberührt
waren von der Situation der Juden in Europa – dass es schon damals sehr
wohl möglich war, anderer Meinung über ein Zusammenleben im damaligen
Palästina zu sein.
Freundel:
Sie leben in New York, und ich frage mich, Omri Boehm, ob Sie Ihre
Thesen genauso offen in Jerusalem oder Tel Aviv vertreten könnten?
Boehm:
Ja also... Die Antwort ist Nein. Ich könnte diese Ansichten aus zwei
Gründen nicht vertreten. Das heißt, ich würde es tun, aber die Gefahr
und die Komplexität dabei hat zwei Gründe: Zum einen die politische
Kultur in Israel. Um es klar zu machen, ich glaube nicht einmal Haaretz,
bekanntermaßen die liberale Zeitung in Israel, die meiner Meinung nach
eine sehr gute Arbeit macht in der Verteidigung der israelischen
Demokratie – nicht einmal Haaretz und ihre Leser sind bereit, sich mit
dem, worüber wir hier reden, ernsthaft auseinanderzusetzen. Natürlich
gibt es dort ein paar Autoren, die solche Meinungen vertreten, aber nur
am Rande. Und in der Regel geht es diesen Autoren um die Besatzung,
sagen wir Gideon Levi oder Amira Hass. Sie werden gehasst, sie haben
Bodyguards, das ist allgemein bekannt. Es geht ihnen nicht besonders um
die Frage, ob Israel jüdisch und demokratisch sein kann. Sie schreiben
über die Verbrechen der Besatzung, die ja Konsens ist. Das einzige
Problem, das Israelis mit Gideon Levi oder Amira Hass haben, ist die
Klarheit, mit der sie über die Besatzung sprechen, und schon das macht
sie zu Verrätern für einige Israelis. Es ist kein Geheimnis, ich habe in
der Vergangenheit manchmal Meretz und manchmal Hadasch gewählt.
Freundel: Also sehr linke Parteien in Israel, am „linksten“ Rand, wenn man so sagen kann...
Boehm:
Meretz ist die am meisten linke, aber immer noch jüdisch-zionistische
Partei. Es gibt in Israel keine linke Partei, die nicht als „arabische
Partei“ gilt – ich betone: gilt –, die die Idee einer jüdischen
Demokratie nicht unterstützt. Die wenigen Parteien, die nicht für eine
jüdische Demokratie sind, gelten als „arabische“ Parteien. Angefangen
von Hadasch, die gar keine arabische Partei ist, eher eine
arabisch-jüdische Partei, dazu kommunistisch, weshalb mir nicht ganz
wohl dabei ist, sie zu wählen. Und dann gibt es andere arabische
Parteien, die Israels Existenz als im Kern jüdischen Staat nicht
akzeptieren. Aber es gibt keine politische Kultur in Israel, die es auch
nur erlauben würde, diese Haltung offen zu vertreten. Ich verrate Ihnen
den anderen Grund, weshalb es in Israel so schwierig ist, Meinungen zu
äußern, die nicht zionistisch sind: Die Familie und die Freunde. Sehr
wenige Menschen wissen Meinungen dieser Art zu tolerieren. Wenn man die
Beziehungen zu seinen Nächsten in Israel bewahren möchte, ist es besser,
weniger davon zu reden. Das ist eine echte Frage für Leute wie mich.
Ich fühle mich verantwortlich, über diese Dinge in Israel zu reden und
ich tue es auch. Aber mein Eindruck ist, dass solche Äußerungen ihren
Preis haben.
„Die Linke ist im Zionismus verschwunden“
Freundel:
Viele Menschen, die Israel schon länger im Blick haben, sich für
israelische Politik interessieren, fragen sich, wohin die israelische
Linke verschwunden ist. Sie haben zwei Parteien genannt, die ja durchaus
den Namen „links“ verdienen, aber auf der politischen Ebene begegnet
man linken Positionen doch nur noch selten. Friedensverhandlungen sind
nur noch eine leere Formel für ein Kreisen um die immer gleichen
Widerstände, tatsächlich einen Weg in den Frieden zu versuchen. Wohin
ist die Linke verschwunden, Omri Boehm?
Boehm:
Ich möchte nicht zu radikal klingen. Sie ist im Zionismus verschwunden.
Sogar die extreme Linke, also Meretz, solange sie am Zionismus
festhält, als ihrem wichtigsten Wert, kann sie nicht mit gutem Gewissen
linke Ideale vertreten, wie Gleichheit und Menschenrechte. Ich geb‘
Ihnen ein Beispiel: Im jüngsten Gaza-Krieg im Sommer kursierte ein
Plakat auf Facebook, eine Anzeige gegen Rassismus in Israel. Es zeigte
drei Soldaten in Uniform, drei arabische Israelis, die gerade in der
israelischen Armee dienten, in einer operativen Einheit. Auf dem Plakat
stand: „Bevor du wieder ‚Tod den Arabern‘ rufst“, – wie das bei
Demonstrationen letzten Sommer geschehen ist –, „überleg es dir noch
mal“. Das ist natürlich ein übles Plakat, das wieder mal zeigt: Was sind
die Leitlinien, sogar für Linke in Israel? Dass Loyalität zum Staat die
Voraussetzung dafür ist, als legitim anerkannt zu werden. Das war kein
offizielles Plakat etwa von Meretz oder Peace Now. Eine Woche später
tauchte aber ein neues Plakat auf, diesmal offiziell von Peace Now, der
wichtigsten außerparlamentarischen linken Organisation in Israel. Dieses
Bild zeigte eine weitere Gruppe von Soldaten in Uniform, mit Gaza im
Hintergrund. Und darauf stand: „Bevor du Linke Verräter nennst, denk
daran, dass einige der Soldaten, einige deiner Waffenbrüder, auch Linke
sind.“ Wieder war das Argument, auch wir sind loyal gegenüber dem Staat,
wie könnt Ihr uns Verräter nennen? Ich erkenne darin den Ausgangspunkt
der israelischen Linken. Sie muss sich als loyal darstellen, um sich als
legitim darzustellen. Es geht nicht nur um Darstellung, sie glauben
wirklich daran. Sie wollen sagen: Auch wir sind gute Zionisten, die den
Staat unterstützen, wie jeder andere auch, und das verleiht uns
Legitimität. Wenn man so argumentiert, und wenn der Zionismus, wie ich
meine, nicht vereinbar ist mit humanistischen Werten, dann verschwindet
die Linke. Deshalb gehen sogar Meretz-Wähler nicht auf die Straße, wenn
da ein Krieg vor sich geht, wie der letzten Sommer.
„Ich möchte ganz klar sagen: Ich liebe Israel“
Freundel:
Sie haben einen sehr scharfen analytischen Blick auf die Politik
Israels, auf die inneren Widersprüche der israelischen Staatsräson. Aber
man könnte fragen, wo Ihre Empathie ist für die Sorgen und Ängste der
jüdischen Israelis, die sich zunehmend bedroht fühlen von den arabischen
Staaten, vor allem nach dem sogenannten „Arabischen Frühling“, den
arabischen Staaten, die das kleine Land Israel umgeben und die, ja man
könnte sogar sagen, Todesangst haben vor radikalen islamistischen
Bewegungen – und möglicherweise zu Recht.
Boehm:
Zuerst möchte ich noch einmal ganz klar sagen: Ich liebe Israel, und
vor allem liebe ich die israelische Lebensart in vieler Hinsicht. Das
aufgeben zu müssen, ist keine angenehme Vorstellung für mich. Wenn man
die Details Ihrer Frage hinzufügt, die Tatsache, dass es ernsthafte
Bedrohungen gibt „in unserer Nachbarschaft“, wie man bei uns gern sagt,
dann bereitet mir das wirklich Sorgen. Und ich stimme zu: Es ist nicht
ersichtlich, dass zum Beispiel ein Ende der Besatzung unsere Situation
im Nahen Osten viel sicherer macht. Ich teile jedoch nicht die Ansicht,
dass es unsere Situation sehr viel schlechter machen wird. Ich glaube,
unsere Situation wird ähnlich und vielleicht etwas besser sein. Weil
viele Gründe, uns anzugreifen, verringert sein werden. Ich sollte
vielleicht sagen, das ist hier bisher nicht deutlich geworden: Ich bin
für eine Zwei-Staaten-Lösung. Ich glaube, idealerweise sollte es einen
demokratischen Staat für alle geben. Das ist es, was ich meine, wenn ich
sage, dass ich kein Zionist bin. Dass der Staat nicht jüdisch sein
sollte, sondern eine Demokratie für alle. Ich glaube nicht, dass das
kurz- oder mittelfristig eine wünschenswerte Option ist. In diesem Sinne
bin ich kein Revolutionär, ich glaube nicht, dass wir den jüdischen
Staat sofort beenden sollten. Wir sollten eher einen palästinensischen
Staat errichten, und zugleich eine ernsthafte Diskussion innerhalb
Israel über den Zionismus beginnen.
Freundel:
Wir wollten auch über die deutsch-israelischen Beziehungen sprechen,
Omri Boehm. Sie haben in Heidelberg, München und auch in Berlin gelebt.
Sie haben einen deutschen Pass. Fühlen Sie sich wohl in Deutschland?
Boehm:
Ja, ich bin gern hier. Und hoffentlich nicht nur, weil es ganz lustig
ist. Es ist interessant und wichtig für mich. Ich fühle mich wohl in
Deutschland, nicht als wäre ich hier zu Hause, aber ich verbringe meine
Zeit gern mit meinen deutschen Freunden und anderen Freunden, die ich
hier habe...
Freundel: ... Und Sie sprechen auch wunderbares Deutsch, obwohl wir im Laufe des Gesprächs auf Englisch umgeswitcht sind...
Boehm:
Jetzt habe ich ein Schuldgefühl, dass ich im deutschen Radio Englisch
spreche. Aber ich bin hier gern an den Unis und rede vor deutschen
Akademikern über Kant. Ich genieße es, in München oder Berlin zu sein
und deutsche Zeitungen zu lesen. Ich bin skeptisch und sogar ein
bisschen verärgert über die gegenwärtige Debatte über Israelis in
Berlin. Ich sag‘ Ihnen ganz ehrlich warum: Möglicherweise auch aus
schlechten psychologischen Gründen; es ist nicht schön, zu wissen, dass
man zu einem Trend gehört. Vielleicht muss ich zugeben, dass auch ich zu
einem Trend gehöre.
Freundel:
Obwohl Sie in New York leben und nicht in Berlin. Und New York ist ein
bisschen teuer als Berlin, es geht ja in dieser Diskussion auch darum...
Boehm: And Munich!
Freundel: Ja – und Sie leben auch in München...
Boehm:
Wir sollten sehen, dass diese ganze Diskussion von Israelis in Berlin
handelt, nicht von Israelis in Deutschland. Ich betrachte mein Leben in
Deutschland wirklich als Leben und auch als Projekt in Deutschland. In
Heidelberg, das ist zwar lange her, aber es war sehr bedeutsam für mich;
in München, das für mich beruflich und persönlich immer noch sehr
wichtig ist, und auch in Berlin. Natürlich gibt es viele Israelis an
vielen Orten in Deutschland. Aber ich glaube nicht, dass es einen Trend
von Israelis in München oder irgendwo in Baden-Württemberg gibt.
Tatsächlich glaube ich, dass viele Israelis in Berlin sehr skeptisch
darüber wären, ob sie gern in Deutschland leben würden.
„Gilt unsere Verbundenheit den Juden oder den Israelis oder der Menschheit?“
Freundel:
Aber sprechen wir auch noch einmal über die offiziellen Beziehungen
zwischen Israel und Deutschland. Vor sieben Jahren bereits sagte die
Bundeskanzlerin Angela Merkel vor der Knesset, „die besondere
historische Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels“ sei
Teil der deutschen Staatsräson. Wie verstehen Sie diesen Satz, Omri
Boehm?
Boehm:
Darüber habe ich viel nachgedacht und ich kann nicht anders, als diesen
Satz wertzuschätzen. Ich verstehe ihn und halte ihn für wichtig, weil
ich das Bedürfnis in Deutschland verstehe, alles zu tun, um Israel zu
unterstützen. Meine Zweifel an dem Satz haben mit der Frage zu tun, ob
Israel der Repräsentant aller Juden auf der Erde zu sein hat. Wenn es
zur Grundlage Deutschlands gehört, Israel zu verteidigen, Israels
Existenzrecht zu unterstützen, wenn das von der deutsch-jüdischen
Geschichte abhängt, dann steckt die Annahme dahinter, dass Israel die
Juden repräsentiert. Diese Annahme, glaube ich, sollten wir bestreiten,
auch um der Juden willen und auch um Israel willen. Wenn eine
Politikerin wie Angela Merkel das sagt, dann erkenne ich es an und
verstehe es. Solange Israel ein jüdischer Staat ist, glaube ich, sollte
sie es sagen. Ich frage mich aber, warum es keine eigene öffentliche
Diskussion gibt, jedenfalls nicht genug, zu der Frage: Gilt unsere
Verbundenheit in erster Linie den Juden oder in erster Linie den
Israelis oder in erster Linie der Menschheit? Als Deutsche, mit der
deutschen Geschichte. Wir können nicht einfach davon ausgehen, dass wir
mit Israel die Juden oder die Menschheit verteidigen. Leider hat Israel
einen Widerspruch erzeugt zwischen der Unterstützung der Menschenrechte
und der Unterstützung Israels. Vielleicht ist das kein notwendiger
Widerspruch, aber er existiert nun mal. Ich glaube, die Deutschen und
der deutsche Staat, die für mich nicht dasselbe sind, müssen sich harten
Fragen dazu stellen: Wo stehen sie in dieser Beziehung? Wenn viele
Deutsche, wie ich glaube, eine besondere Verantwortung und eine
besondere Sensibilität aufgrund der deutschen Geschichte zu haben
meinen, wie interpretieren sie dann diese Verantwortung? Zu schnell wird
angenommen, es handle sich um eine Verantwortung gegenüber Israel und
nicht eine allgemeinere Verantwortung.
Freundel:
Wenn Sie, Omri Boehm, die israelische Politik, das israelische
Bildungssystem, das Militär oder auch die Justiz so scharf analytisch
kritisieren, wie Sie es tun – haben Sie da nicht manchmal Angst, dass
Sie anti-israelischen Ressentiments das Wort reden?
Boehm: Das halte ich für unmöglich, weil ich Israel so liebe. Die Antwort ist nein.
Freundel: Omri Boehm, vielen Dank für das Gespräch.
Boehm: Thank you very much!
Der Philosoph Omri Boehm,
1979 in Haifa geboren und in Gilon im Norden Israels aufgewachsen, ist
israelischer Jude und deutscher Staatsangehöriger. Promoviert hat Boehm
über Kants Kritik an Spinoza, er hat in Heidelberg und München geforscht
und lehrt als Professor für Philosophie an der New School for Social
Research in New York.