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Rechtschreibreform: Aktuell
Extraseite: Icklers Gutachten (05.05.2004)


Sprachwissenschaftliches Gutachten

zur „Petition zur Beendigung des Rechtschreibreformprojekts“ sowie zur Replik des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Mecklenburg-Vorpommern

Umfang der Neuregelung
Zugunsten der Neuregelung der deutschen Rechtschreibung ist von der KMK und anderen interessierten Stellen behauptet worden, die Zahl der Regeln sei von 212 auf 112 vermindert worden, allein die der Kommaregeln von 52 (oder einer ähnlichen Zahl) auf 9. Diese Zahlen haben in der Öffentlichkeit Eindruck gemacht und werden oft zitiert. Sie sind falsch. Wie auch die Dudenredaktion (z. B. durch ihren Leiter Dr. Wermke am 12. 5. 1998 vor dem Bundesverfassungsgericht) klargestellt hat, gab es im Duden von 1991 zwar 212 numerierte Richtlinien, dies waren aber keine Regeln, sondern „Adressen“, unter denen man die eigentlichen Regeln finden konnte. Das ist bei der neuen Paragraphenzählung der Reformorthographie nicht anders. Die genaue Zahl der eigentlichen Regeln läßt sich nicht bestimmen. Für die Neuregelung ist Prof. Veith (Mainz) bei sorgfältiger Zählung auf weit über 1000 gekommen, was der Größenordnung nach richtig sein dürfte. Die angebliche „Reduzierung“ der Regeln ist am Beispiel der Groß- und Kleinschreibung nachgeprüft worden. Dabei ergab sich, daß die Zahl der wirklich identifizierbaren Regeln sich zwischen Duden und Neuregelung von 82 auf 96 erhöht hat (vgl. Theodor Ickler: „Regelungsgewalt“, 2. Aufl. St. Goar 2002, S. 53 ff.). Insgesamt umfaßt die Neuregelung (ohne Wörterverzeichnis) über 90 Seiten DIN-A4, und es gibt Paragraphen von nicht weniger als vier Seiten Umfang. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür, wie man die Zahl der Paragraphen, nicht aber die Zahl der Regeln vermindert, ist § 96: „Man setzt den Apostroph in drei Gruppen von Fällen.“ – eine Regel ohne jeden Gehalt, der vielmehr erst in den Unterabschnitten geboten wird.

Hinzu kommt (aber das ist angesichts der grundsätzlichen Irreführung durch die geänderte Numerierung kaum noch relevant), daß von den 212 Richtlinien des Duden sich ein größerer Teil entweder gar nicht auf die Rechtschreibung bezog oder aus bloßen Zusammenfassungen bestand, so daß die Zahl der orthographiebezogenen Richtlinien nur 171 betrug. Interessanterweise versuchte die Dudenredaktion in der ersten umgestellten Ausgabe des Rechtschreibwörterbuchs den Eindruck zu erwecken, die Regeln seien tatsächlich reduziert worden. In einem internen Papier für die Mitarbeiter der Dudenredaktion heißt es dazu:

    Neuregelung: Das amtliche Regelwerk ist in 112 Hauptregeln gegliedert.
    Umsetzung: Die Dudenrichtlinien werden auch künftig Hinweise enthalten, die über den rein orthographischen Bereich hinausgehen. Durch Neustrukturierung und vor allem durch Zusammenfassung einzelner Regeln und Regelbereiche wird die Zahl der Richtlinien von 212 auf 136 gesenkt.
    Begründung: Die inhaltlich falsche, aber politisch wirksame Formel ,aus 212 mach 112‘ muß auch im Duden ihren angemessenen Ausdruck finden.“

Erst mit der zweiten Auflage im Jahre 2000 wird diese Täuschung aufgegeben; es sind nunmehr wieder 169 „Kennziffern“ verzeichnet.

Falsch ist auch die Behauptung, 52 Kommaregeln seien auf 9 reduziert worden. In Wirklichkeit haben die neuen Kommaregeln den gleichen Umfang wie die alten (rund 10 DIN-A4-Seiten), nur die Numerierung hat sich geändert.

Im Duden des Jahres 2000 verteilen sich auch die vermeintlichen „9 Kommaregeln“ auf nicht weniger als 32 Kennziffern. Die Reformerin Renate Baudusch kommt in ihrer didaktischen Aufbereitung der Zeichensetzung allein für diesen Bereich auf 227 Regeln , Dieter Berger gar auf 338. (Im Bertelsmann-Band „Wahrig – Fehlerfreies und gutes Deutsch“ von 2003 umfaßt die Rechtschreibung 202 Seiten, davon 56 Seiten für die Kommasetzung.)

Das Werk ist so unübersichtlich, daß sogar seine Urheber es kaum noch überschauen. So mußte Mitverfasser Klaus Heller erst darauf hingewiesen werden, daß nochmal laut § 55 nur noch zusammengeschrieben werden darf, und Mitverfasser Hermann Zabel behauptete in einem Leserbrief, die Trennung vol-lenden sei nicht vorgesehen; sie steht aber ausdrücklich im Regelwerk unter § 112.

Defizite
Die Neuregelung enthält in der Tat „frei erfundene Regeln, die der deutschen Sprache nicht gerecht werden“. Bekannte Beispiele sind das Verbot der Zusammensetzung mit Adjektiven, die zufällig auf -ig, -isch oder -lich enden (neu: grünlich blau, fertig stellen), oder mit -einander- (auseinander setzen), oder die Auseinanderreißung von sogenannt (neu: so genannt). Hierfür gibt es in Schreibgebrauch und Sprachentwicklung keinerlei Grund. Die Reformer haben wiederholt bekundet, ihre Neuregelung solle „der Tendenz der Sprachgemeinschaft zur Zusammenschreibung entgegenwirken“. Damit ist die Sprachwidrigkeit und Rückwärtsgewandtheit zum Programm erhoben.

Die Petenten haben noch nicht einmal die schlimmsten Inkonsistenzen der Neuregelung aufgegriffen. Drei Beispiele mögen genügen:

  • „Das Wort weitgehend müßte laut § 36 nunmehr getrennt geschrieben werden, weil der erste Teil gesteigert werden kann: weiter gehend. Just dieser Komparativ steht jedoch in der geschlossenen Liste zusammenzuschreibender Zusätze unter § 34 (1), also: weitergehend. Zusammengenommen ergeben die beiden Regeln: weit wird getrennt geschrieben, weil es gesteigert werden kann; wird es jedoch gesteigert, tritt obligatorisch Zusammenschreibung ein!
  • „Noch komplizierter verhält es sich mit richtiggehend. Dies müßte zusammengeschrieben werden, weil (in der üblichen Bedeutung) keine Steigerung des ersten Teils möglich ist. Dem steht aber die schon erwähnte neue Regel entgegen, wonach Adjektive auf -ig überhaupt nicht zusammengeschrieben werden. Daraus folgt Getrenntschreibung: richtig gehend. Nun bestimmt allerdings das amtliche Wörterverzeichnis, daß es zu dieser Regel eine einzige Ausnahme gibt, eben richtiggehend. (Bezieht es sich jedoch zum Beispiel auch eine korrekt gehende Uhr, so wird es getrennt geschrieben ...)
  • „Bei den neu verordneten Getrennt- und Zusammenschreibungen adverbialer Ausdrücke läßt sich schlechterdings nicht vorhersagen, was nun richtig sein soll: zu Grunde, zu Gunsten, zugute, zulasten, zu Leide, zuliebe, zu Mute, zurate, zu Schulden, hier zu Lande, heutzutage usw. Es ist nicht einzusehen, warum unterderhand obligatorisch aufgelöst wird (unter der Hand), während vorderhand und kurzerhand unverändert bleiben. Diese willkürlichen Eingriffe hinterlassen den Eindruck, daß man jederzeit mit irgendwelchen Änderungen durch die Reform rechnen muß, aber nie sicher sein kann, welche es sein mögen und ob es überhaupt welche gibt.

Die Getrenntschreibung von kennen lernen war von den Reformern mit der Behauptung begründet worden, dieser Komplex sei strukturell nicht von tanzen lernen usw. verschieden. Das ist unhaltbar. Beispielsweise bedeutet schwimmen lernen 'lernen, wie man schwimmt', aber kennenlernen bedeutet nicht 'lernen, wie man kennt', sondern den Beginn des Kennens. Solche Unterschiede spiegeln sich intuitiv in der unterschiedlichen Schreibweise. Man kann darauf verzichten, aber ein Verlust ist es allemal, und „ohne Belang“ ist die Änderung ganz sicher nicht.

pleite gehen ist keineswegs von in die Pleite gehen abgeleitet (das es als Wendung nie gegeben hat); vielmehr handelt es sich um das Adjektiv pleite, und die Konstruktion ist genau die gleiche wie bei kaputt, verschütt, verloren, entzwei + gehen. Mit Substantiven kann gehen nicht verbunden werden. Dasselbe gilt für bankrott gehen (neu Bankrott gehen). Bei Pleite machen ist die Großschreibung selbstverständlich richtig, da es sich um eine andere Konstruktion handelt.

Bei recht haben liegt nachweisbar eine Desubstantivierung vor, vgl. wie recht du hast. Hier verbietet sich offenbar die Großschreibung.

Besonders kraß ist der Fall Leid tun. Bei leid handelt es sich um ein altes Adjektiv; auch der Komparativ leider ist ja noch vertraut. Substantiv ist es auf keinen Fall. leid tun ist genau wie weh tun, gut tun, wohl tun usw. konstruiert (die Getrennt- und Zusammenschreibung ist hier zu vernachlässigen). Schreibweisen wie so Leid es mir tut usw. verbieten sich offensichtlich von selbst. Schon für Konrad Duden war der Fall klar:
„Bei Ausdrücken wie leid tun, not tun, weh tun, schuld sein, gram sein; mir ist angst, wol, wehe, not ist von selbst klar, daß das zum einfachen Verbum hinzugetretene Element nicht als Substantivum fungiert; (man erkennt) die nicht substantivische Natur jenes Zusatzes am besten durch Hinzufügung einer nähern Bestimmung. Man sagt er (...) hat ganz recht, hat vollständig unrecht u. dgl. Die Anwendung von Adverbien, nicht von Adjektiven, zeigt, daß man einen verbalen Ausdruck, nicht ein Verb mit einem substantivischen Objekt vor sich hat.“ (Die Zukunftsorthographie, Leipzig 1876, S. 70)

Ein Akt der Willkür ist es weiterhin, wenn im vierten Bericht vorgeschlagen wird, die Kleinschreibung wieder zuzulassen, aber nur in Verbindung mit Zusammenschreibung: leidtun. Warum bleibt allein die bisher übliche Schreibweise leid tun verboten und wird durch gleich zwei Schreibweisen ersetzt, von denen eine noch dazu grammatisch falsch ist?

Daß bei Schifffahrt ist Not etwas nicht stimmt, dürfte schon ein intelligenter Gymnasiast bemerken. Im Deutschen Wörterbuch (Grimm) könnte die Kommission nachlesen, wie es vor 500 Jahren zu einem Adjektiv not = 'nötig' gekommen ist. Im dritten Bericht war bereits erwogen worden, auch nottun zur Wahl zu stellen, aber: „Die frühere Schreibung not tun (getrennt und klein) sollte nicht wiederbelebt werden.“ Das ist dieselbe Willkür wie bei leidtun.

Die wiederbelebten, sogar obligatorischen Großschreibungen im Allgemeinen, des Öfteren usw. sind zwar grammatisch möglich, führen aber tief ins 19. Jahrhundert zurück. Damals haben die Orthographen diese allmählich aufgekommenen (auf der grundschultypischen Artikelprobe beruhenden) Großschreibungen als übertrieben gebrandmarkt und allmählich wieder zurückgedrängt. Im vierten Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission wird bereits erwogen, die altertümliche Großschreibung auch auf bei Weitem und vierzehn weitere artikellose adverbiale Wendungen auszudehnen. (Zur Frühgeschichte der Einführung und Wiederabschaffung dieser Übertreibungen vgl. Karin Rädle: Groß- und Kleinschreibung des Deutschen im 19. Jahrhundert. Heidelberg 2003.)

Zur Neuschreibung heute Abend: Wie die Reformer selbst vor Jahren gezeigt haben, kann an der syntaktischen Position nach der Datumsbezeichnung kein Substantiv stehen. Es ist dabei ohne Belang, für welche Wortart man sich entscheidet: im Zweifelsfall ist nach den Grundsätzen der Neuregelung ohnehin klein zu schreiben: heute abend. Um das Sprachrichtige zu verdrängen, mußten die Reformer auch hier das Falsche obligatorisch vorschreiben und sehen auch für die Revision nicht einmal eine Variante vor. Übrigens wäre analog Dienstag Abend zu erwarten, aber hier soll nur Zusammenschreibung zulässig sein: Dienstagabend – eine weitere Inkonsequenz.

Silbentrennung
Die neue Silbentrennung ist grundsätzlich bildungsfeindlich, da sie unnötigerweise bei unzähligen durchaus noch durchschaubaren Wörtern die morphologische Trennung durch eine bewußt ignorante silbische zu ersetzen erlaubt (hi-nauf, vol-lenden, Atmos-phäre). Gerade dadurch wird aber ein Zwei-Klassen-System geschaffen, wie es ja eigentlich verhindert werden sollte: der Gebildete trennt weiterhin Re-spekt und bedient sich der so getrennten Bestandteile re- und -spekt in vielen anderen Kombinationen. Wer es nicht besser weiß, stellt sich durch Trennungen wie Res-pekt bloß, und da dies den neuen Regeln und den Intentionen der Reformer vollkommen entspricht, hat auch der Lehrer kein Argument mehr in der Hand, um die Schüler davon abzubringen.

Die Einlassung des Ministeriums, „Teenager werde (bei korrekter Aussprache) nach Sprechsilben und nach Wortbestandteilen eindeutig Teen-ager getrennt“, ist falsch. Die Trennung nach Wortbestandteilen (morphologische Trennung) ist gerade nicht mehr verbindlich, und die korrekte Syllabierung des englischen Wortes ergibt Tee-nager, das daher so auch im neuen Duden steht. Die Abtrennbarkeit einzelner Buchstaben ist ebenso überflüssig, denn es gibt gar keinen „richtigen und sinnvollen Umgang“ mit einer solchen Regel, außer sie zu ignorieren. Ihre Anwendung ergibt ausnahmslos sinnstörende Bruchstücke vom Typ Seeu-fer, Bi-omüll, Sitze-cke, a-brupt usw. Genau dies war der Grund, weshalb sie bisher nicht vorgesehen war.

Kommaregeln
Gegen die neuen Kommaregeln ist das meiste schon von führenden Reformern selbst gesagt worden, nämlich von Peter Gallmann und Horst Sitta in ihrem „Handbuch Rechtschreiben“ (Zürich 1996). Die Autoren plädieren dafür, im wesentlichen die frühere Kommasetzung vor Infinitivgefügen beizubehalten. So halten es auch alle anspruchsvollen umgestellten Texte. Daß beim Fehlen eines solchen Kommas kein Fehler angerechnet werden soll, kann, wenn es denn aus pädagogischer Sicht wünschenwert sein sollte, durch Anweisung an die Lehrer erreicht werden. Die frühere Kommaregelung war vielleicht im Duden nicht optimal formuliert, aber in ihrem Gehalt ein wertvolles Instrument der stets sinnvollen Satzgestaltung. Auch stimmt die Wiedereinführung des „rhetorischen“ Kommas anstelle des „grammatischen“ ganz und gar nicht mit der sonstigen Verabsolutierung grammatischer Kriterien für die Wortschreibung zusammen.

Die beiden neuen, aber kaum beachteten obligatorischen Kommas haben zu außerordentlich vielen Fehlern geführt: das Komma vor (auch nichterweitertem) Infinitiv nach hinweisendem es und das Komma als drittes Satzzeichen nach Anführungszeichen und Frage- bzw. Ausrufezeichen.

Drei gleiche Buchstaben
Daß drei gleiche Buchstaben schwerer lesbar sind, bedarf keines Beweises. Die bayerische Schulorthographie hatte schon vor über 100 Jahren stets zu zwei Buchstaben vereinfacht (also ohne die bekannte Ausnahme – Sauerstoffflasche – des alten Duden). Natürlich wußte man damals so gut wie heute, daß in Schiffahrt „eigentlich“ drei f stecken. Jacob Grimm rechnete die drei Buchstaben zur Bezeichnung eines einzigen Lautes zum „Pedantischen“ in der deutschen Sprache. Die „neue“ Regel ist rückschrittlich, aber insgesamt eine Marginalie. Ins Auge fallen ihre Wirkungen erst in Verbindung mit der Heyseschen s-Schreibung, wodurch sich Fälle wie Schlussstrich ungewöhnlich vermehrt haben.

[Volks-]Etymologie
Es handelt sich ausschließlich um ein Steckenpferd des Reformers Gerhard Augst. (Einige dieser sonderbaren Einfälle sollen erst nach den letzten Wiener Gesprächen, ohne Beratung und Billigung durch den Internationalen Arbeitskreis, in den Text eingefügt worden sein. Der Arbeitskreis trat bekanntlich nach 1994 nie mehr zusammen und hat auch auf das von Klaus Heller und Jürgen Scharnhorst erstellte Wörterverzeichnis keinen Einfluß mehr gehabt.)

Die neue Schreibweise – fast stets obligatorisch – hat großenteils keine Grundlage im Schreibbrauch. Außerdem ist sie widersprüchlich. Während bei schnäuzen, belämmert ein künstlicher Zusammenhang mit Schnauze, Lamm und bei behände ein zwar richtiger, aber historisch verschütteter Zusammenhang mit Hand hergestellt wird, soll bei rauh der etymologisch wohlbegründete Zusammenhang (vgl. Rauchwaren = Pelzwaren) unzulässig sein – zugunsten einer vagen Analogie zu blau, genau, übrigens lauter Wörter, die anders als rau, aber in Übereinstimmung mit anderen Vollwörtern eine Ober- bzw. Unterlänge besitzen. (Auf diese interessanten Zusammenhänge hat zuerst Friedrich Roemheld hingewiesen, dem wir Einsichten in das „Blickfang-h“ verdanken.) Das ist so willkürlich wie unnötig. Es ist leicht nachzuweisen, daß die Sprachgemeinschaft seit Jahrhunderten keinen Zusammenhang zwischen behende und Hand mehr herstellt (vgl. mit behenden Schritten usw.). Trotzdem soll diese Schreibung obligatorisch gelten. Von ähnlicher Willkür sind die übrigen Änderungen dieser Art. Es gibt Hunderte von Wörtern, die ebenfalls einer etymologischen und zwar durchaus korrekten Umlautschreibung unterworfen werden könnten, bei denen die Reform aber nichts dergleichen ändern will: Spengler (von Spange), kentern (von Kante), Heu (von hauen) usw. Geradezu unerträglich ist es, daß objektiv falsche Etymologisierungen wie Quäntchen, Zierrat, belämmert und einbläuen nun obligatorisch gelten und an Schüler vermittelt werden sollen.

Zusatz zum Partizip
Aus dem vierten Bericht geht nicht klar hervor, wie weit die Korrekturen an dem völlig mißglückten Paragraphen 36 der amtlichen Regelung reichen sollen. Erfaßt und geändert werden auf jeden Fall Hunderte von neuen Schreibweisen (Energie sparend, Eisen verarbeitend [?], zufrieden stellend ...). Die Wörterbücher haben unterderhand, aber nach Absprache mit der Zwischenstaatlichen Kommission, bereits blutsaugend und manches andere wiederhergestellt. Man braucht nur den Duden 2000 s. v. Blut (saugend usw.) mit der authentischen Regelauslegung durch Zabel (Widerworte 1997, S. 101) zu vergleichen, um das Ausmaß der stillschweigend voranschreitenden Auflösung der Neuregelung zu erkennen; vgl. die Listen in „Regelungsgewalt“, 2. Aufl. St. Goar 2002, S. 59ff. und S. 283f.
Wie brisant dieses Kapitel der Neuregelung ist, läßt sich an zahllosen Beispielen zeigen. Viel zitiert wird ein Satz von Erich Kästner, dem die erzwungene Getrenntschreibung den Garaus machen würde:

    Die Wirtschafterin kämpfte in der Küche wie ein Löwe. Doch sie brachte die heißersehnten und heiß ersehnten Bratkartoffeln trotzdem nicht zustande.

Hier erzwingt die Neuregelung in beiden Fällen Getrenntschreibung, zerstört also die Pointe.

Zusammenfassende Bemerkungen
Die Rechtschreibreform kümmert sich um die Schreibweise entlegenster Wörter (Ständelwurz), beseitigt jedoch mit ihren dichten neuen Regeln nicht einmal die so oft beschworenen Fehlerquellen der Groß- und Kleinschreibung, der (grammatischen) Unterscheidung von das und daß/dass oder der notorisch schwierigen Einzelfälle brillant, verwandt usw. Erst nach und nach werden die Folgen einer konsequenten Anwendung erkennbar, zum Beispiel – um beim Anliegen der Juristen zu bleiben –, daß die rechtsprechende Gewalt jetzt zur Recht sprechenden wird, während die gesetzgebende unverändert bleibt. Von einer systematischen, sprachgerechten Bearbeitung des komplizierten Gegenstandes kann keine Rede sein.

Während die Einführung der „gemäßigten Kleinschreibung“, immer noch das eigentliche Hauptziel der Reformer, eine zwar unerwünschte, aber in sich stimmige Maßnahme gewesen wäre, ist mit der Neuregelung und den jüngsten Korrekturvorschlägen eine willkürliche und rückwärtsgewandte Ausweitung der Großschreibung verordnet worden, die zum Teil sogar gegen die Grammatik verstößt. Die wirklich beobachtbare Großschreibung von Nominationsstereotypen („festen Begriffen“) wird dagegen vernachlässigt. Ähnliches gilt für die Getrennt- und Zusammenschreibung. Beide Bereiche sind irreparabel mißlungen, weil sich die Urheber sowohl über die sprachgeschichtliche Entwicklung als auch – nach dem Scheitern früherer Reformpläne – über ihre eigenen Überzeugungen hinweggesetzt haben.

Bei Silbentrennung und Zeichensetzung sind angeblich im Interesse von Schreibanfängern und „Wenigschreibern“ neue Regeln eingeführt worden, die sich nicht ohne Verlust an Deutlichkeit und Lesbarkeit anwenden lassen. (Eine umfangreiche Dokumentation der Folgeschäden sowie der nach dem vierten Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission entstandenen Lage findet man in Th. Ickler: „Rechtschreibreform in der Sackgasse – Neue Dokumente und Kommentare“. Leibniz Verlag St. Goar 2004.)



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