WEITERE MATERIALIEN
zur zeitgeschichtlichen und künstlerischen Rezeption der Werke Franz Rappls.
Einen Eindruck vom geistigen Klima der Zeit um 1930, zumindest in philosophisch und metaphysisch aufgeklärten Kreisen, geben anschaulich die beiden folgenden Zitate wieder. Sie entstammen dem Kommentartext des deutschen Esoterikers und Neugeistlers Karl Otto Schmidt (1904-1977) auf die zwischen 1930 und 1940 vom Johannes Baum Verlag herausgegebene Schillersche „Theosophie des Julius“. (Pfullingen in Württemberg, in der Reihe ‚Deutsche Theosophie‘, Neugeistbücher Nr. 10.) K. O. Schmidt hat diesen Text kommentiert und mit einer Einleitung versehen. Da die Rechteinhaber unansprechbar sind, können wir (unter: Beiwerke/Literatur/Bewusstsein-Spiritualität) lediglich den Urtext bereitstellen, wie er als Fragment der „Philosophischen Briefe“ in der von Schiller herausgegebenen „Thalia“ 1786 erschienen war, und nicht den vollständigen Kommentartext Schmidts. Hier die beiden Zitate aus seinen Erläuterungen:
„Alles, was ist, ist Gott; nichts ist, was nicht
Gott ist; die logische Konsequenz dieser Erkenntnis ist die der absoluten
TODLOSIGKEIT alles Seins. - Durch alles Leben pulst und braust in ewigem
Rhythmus der eine ewig gleiche Strom GÖTTLICHEN Lebens und GÖTTLICHER Kraft;
alles Sein atmet GOTTES LEBEN, welches LIEBE ist.
Mit dieser GEIST-ERKENTNIS,
der Grundlage jeder Mystik und jeder auf praktische Mystik gegründeten
spirituellen Weltanschauung setzt sich ebenso wie Neugeist auch Schillers >Theosophie<
in bewussten Gegensatz zum MATERIALISMUS unserer Zeit; jenem Materialismus, der
uns nur wenig gegeben, aber unendlich viel entrissen hat, so notwendig er
vielleicht - mit kosmischen Augen gesehen - im Plane der Evolution auch sein
mochte. Denn erst der Materialismus, herausgeboren aus der allzu innigen
Verschmelzung der Seelen mit dem Stoff, hat in die Menschheit die Unsumme von
Leid und Not, von Körper- und Seelenschmerzen, von Elend und Krankheit gebracht;
er hat den Menschen den Glauben an den ihnen innewohnenden FLAMMENGEIST geraubt
und sie müde und hoffnungsarm gemacht. Seine Frucht ist der Egoismus mit all
seinen leidverhafteten Folgen: materielle Besitzgier, Neid, Streitsucht und als
letztes der KRIEG mit seiner ganzen entsetzlichen Unsumme von Gräueln und
Unmenschlichkeiten. Mit einem Wort: Der Materialismus hat den Menschen in die
TIERHEIT zurückgeschleudert. >Verinnerlichung< und >Vergeistigung<
hat er zu kernlosen Begriffen gemacht; er hat den Menschen veräußerlicht und
alles Seelisch-Geistige in ihm fast erstickt.
. . . Erst in unseren Tagen
erwacht die Menschheit voll zu der ganzen grausigen Erkenntnis ihrer Irrfahrt,
ihres inneren Zerrissenseins und ihrer äußeren Leere . . . Ein Schrei nach
Hilfe durchhallt die Welt; ein zitterndes Suchen setzt ein nach der verloren gegangenen
Seele . . .“
„Schon spürt unsere Zeit ahnend das gewaltige Wehen des Geistes einer neuen Zeit. Wir fühlen es alle: Wir leben in der Zeit der Agonie des Materialismus, in der er noch einmal sich gewaltig aufbäumt zu letztem Kampfe, aber nur, um schließlich in sich selbst - das heißt: zu NICHTS - zusammenzusinken.“
In der Deutschen Nationalbibliothek
Leipzig fand sich (im August 2015) noch ein Büchlein mit dem Autorennamen Franz Rappl versehen: „Franz Josef I. Findelkind“, verfasst -
so zumindest lautet die Unterschrift unter dem Titel - von der nichtlegitimen
Tochter Franz Joseph I. „Julie Maria (Stiegmaier) Wadsak“, geborene Maria
Theresia Rappl. (54 Seiten, Frakturschrift, Selbstverlag Wien, Borschkegasse
18, 1920 erschienen.) Franz Rappl hat das ‚Vorwort‘ dazu
geschrieben - oder ist er zudem noch der Autor dieser anklagenden Biografie - der ‚Ghost-Writer‘
selbst??
Mir erscheint diese Annahme wahrscheinlich:
Nicht nur, dass der Stoff das nach Gerechtigkeit und Wahrheit lechzende
Herz Franz Rappls in Wutglut versetzt haben muss, auch zeugt der formale Aufbau der
hier offenbarten Verbrechen, die poetisch-philosophischen Einsprengsel und
die rebellische Bloßstellung der politischen Ordnung mit ihren alltäglich-abgrundhässlichen
Lügen und Delikten von edelstem Menschengeist. - Ob Maria Wadsak
ihre tragisch-wundersame Geschichte tatsächlich so vollendet, so vollständig in
ihren Dimensionen hätte vortragen können?
Enthalten in diesem Heftchen auch
Aufsätze und Gedichte des deutschen klassischen Philologen und Epigrafikers Ernst Willibald
Emil Hübner (1834-1901).
Das „Vorwort“ Franz Rappls geben wir
hier direkt wieder, das gesamte Heft hier in Kopie. - Über eine Verwandtschaft zwischen Maria Theresia
Rappl und Franz Rappl konnten wir nichts Näheres in Erfahrung bringen.
Vielleicht ist die Namensvetternschaft nur Zufall, vielleicht war der Name
Rappl in Bayern und Österreich damals verbreiteter als heute gemeinhin zu vermuten.
Kaiser Franz Josef I. von Österreich lebte von 1830-1916.
*
Franz Josef I. Findelkind
(von Maria Theresia Wadsak)
mit einem Vorwort von Franz Rappl.
Der Arbeiter als Volksbeschützer, Dichter, Schriftsteller und Freiheitskämpfer.
*
Vorwort von Franz Rappl:
In diesem Büchlein folgt die
schlichte Erzählung eines außerehelichen Kindes des verstorbenen Kaisers von
Österreich und Apostolischen Königs von Ungarn usw. Franz Josef I., Maria
Therese Wadsak, geborene Rappl.
Nicht dem Verstorbenen soll es übel
vermerkt werden, dass er den weiblichen Reizen der Senderinnen [evtl. ein
Schreibfehler: Sennerinnen?] bei seinen Jagden nicht widerstehen konnte und so
vielleicht der Vater von mehr als einem Dutzend Kinder wurde, sondern die
Ruchlosigkeit einer auf Heuchelei, Betrug und Kerker aufgebauten
Gesellschaftsordnung soll der Nachwelt aufgezeigt werden. Wäre die Kindesmutter
als Weglegerin des Kindes eruiert worden, so wäre sie zu einer Mindeststrafe
von sechs Monaten Kerker von den vom Kaiser ernannten Richtern verurteilt
worden. Hätte sie bei der Geburt gesagt, dass der Kaiser der Kindsvater sei,
hätte ihr das Irrenhaus oder der Kerker wegen Majestätsbeleidigung geblüht. Und
so musste die Bedauernswerte schweigen, bis sie ein
bürgerlich-kapitalistisches-monarchisches Strafgesetz aus Not und Verzweiflung
zur nicht-eruierten VERBRECHERIN gemacht, die den Sanktionierer des Gesetzes
zum einnächtigen LIEBHABER gehabt hatte. Hätte sie ein sogenanntes Verbrechen
am keimenden Leben begangen: Kerker wäre die bürgerliche Sühne, Ächtung und
Verdammung des „Schlampens“ hätte eine hohe Geistlichkeit über sie
ausgesprochen und der TRÄGER DER KRONE dieser Gesellschaftsordnung hätte sie vor
nichts geschützt.
Man glaube nicht, dass es anders
geworden sei. Dieselbe bürgerliche Gesellschaft bezeichnet Fehltritte von
Proletariern immer als Charakterlosigkeiten, währen sie dieselben Dinge aus
ihren Reihen mit einem Lächeln als Seitensprünge abtut. Man glaube nicht an die
nichtsnutzige Heuchelei der Jesuiten von der Unmoral der „Habsburger“, sondern
man glaube an die Unmoral des Papsttums, an die ganze Pfaffenunmoral aller
Bekenntnisse, angefangen beim Kirchenkonzil (Versammlung der Bischöfe) im Jahre
325 n. Chr. in Nicäa unter dem Vorsitze des heidnischen römischen Kaisers
Konstantin, der sich aus geschäftlichen Gründen taufen ließ.
(Dieser Abdruck von der letzten Seite des Büchleins. - Es ist
die einzige Frontalaufnahme, die wir von F. Rappl besitzen.)
Als konsequenter Gegner des
monarchischen Regierungssystems soll hier meine Ansicht unvergänglich
niedergeschrieben sein, dass die jeweiligen Monarchen der ganzen Erde nur die
vorgeschobenen Strohmänner, träge, denkfaule Werkzeuge, mit Ausnahme des
Kaisers Josef II. von 1764 bis 1790, des römischen Imperiums waren, und dass
KEIN Gott, sondern der GERECHTE Zorn der SOLDATEN und tyrannisierten VÖLKER,
den Sturz der Strohmänner des Kapitalismus und Klerikalismus herbeigeführt hat,
dem der Sturz des die ganze Menschheit entmoralisierenden Papsttums
unvermeidlich folgen muss.
Welches Urteil immer die Leser über
mich fällen werden, so will ich doch für immerwährende Zeiten als Kind der
Liebe von Dienstboten, daher materiell Entgüteter, daran festhalten, dass Karl
Habsburg ein Opfer der im Dienste des Klerikalismus stehenden Parma-Familie wurde
und dass es nichts als menschliche Schwäche war und ist, dass er den Krallen
der weiblichen Furien nicht zu entkommen vermag. Nicht in ihm, sondern in
seiner militaristisch-klerikalen Umgebung sind die Volksfeinde zu suchen.
Über Emil Hübner habe ich zu sagen:
Er ist das geborene Sicherheitsorgan in einem modernen Volksstaat. Nicht nach
Erfolgen oder Ansehen durstet seine Seele, sondern nach Aufklärung und
Veredelung der Menschheit überhaupt. Nach Aufklärung vor allem, dass es in
einem angeblich demokratischen Staatswesen nicht zweierlei Menschen geben kann:
eine Gattung, die gar nichts arbeitet, dafür aber umso üppiger lebt und eine
Gattung, die viel und sogar übermenschlich arbeitet und an allen physischen,
rechtlichen und kulturellen Gütern darbt.
Mit diesen Worten übergebe ich das
Büchlein meinen Mitbrüdern und Schwestern nicht zum GEDANKENLOSEN Durchlesen,
sondern zum STUDIUM ZEILE FÜR ZEILE, WORT FÜR WORT, in der Hoffnung, dass es
die weiteste Verbreitung finden und Licht bringen werde in die vom
Klerikalismus umgürteten Höllen der menschlichen, leider noch geistigen
Finsternis.
WIEN, am 14. Juli 1920
Franz Rappl.
(Und beileibe kein Einzelfall, wie hier zu vergleichen.)
Ich zitiere im Folgenden aus: Egon Friedell, „Kulturgeschichte Ägyptens und des alten Orients“ (Erstauflage 1936: „Kulturgeschichte des Altertums“), C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung München, Vierte Auflage, 1953.
S. 32:
„Sophistes“
heißt der „Weisemacher“, also soviel wie der Weise, und dafür galten auch
ursprünglich die Lehrer der Sophistik, während „Philosoph“ bloß der „Weisheitliebende“
war; aber unter dem Einfluss des Platonismus haben diese beiden Vokabeln ihre
Rangordnung getauscht: Sophistik bedeutet später geradezu das Gegenteil von Weisheit.
„Liberalismus“ war im neunzehnten Jahrhundert das edle Bekenntnis zu
Fortschritt und Freiheit; heute befindet sich das Wort schon ganz merklich auf dem
Wege zur Ehrenbeleidigung. „Jesuit“ bezeichnet das höchste Ideal, das überhaupt
einem Irdischen vorzuschweben vermag, nämlich Genosse Jesu; aber diesen
Wortsinn fühlt heute niemand mehr, vielmehr muss man, wenn man den Ausdruck
nicht als Kränkung gebraucht wissen will, dies ausdrücklich hinzubemerken.
Es handelt sich
aber in diesen und zahllosen anderen Fällen nicht um Privaturteile,
austauschbare Gesichtswinkel, Wahlansichten, auch nicht um die Anschauungen
gewisser Gruppen, die etwa durch tiefere Geschichtserkenntnis oder
umfassenderes Geschichtswissen zu neuen Ergebnissen gelangt wären, sondern um die
Meinung des Z e i t a l t e r s s e l b e
r. Sie kommt und geht; aber wodurch sie sich verändert, warum sie sich
überhaupt verändert, das wissen wir nicht. Die Verwandlung ihres Antlitzes ist
ein ebenso großes Rätsel wie das Verschwinden der Saurier, die Geburt der
Sprache, das Aufleuchten eines neuen Sterns.
Man kann also
sagen: Geschichte ist Dichtung und ihr Autor das Menschengeschlecht. Aber dies
bedeutet nicht etwa, dass sie eine beliebige „Fantasie“ ist, vielmehr trägt
sie, wie jede echte Dichtung, den Charakter der Notwendigkeit. Was Kant in der
„Dialektik der ästhetischen Urteilskraft“ sagt: dass das Genie völlig
reflexionslos oder naiv handle, absichtslos wie eine Naturkraft, und eben
dadurch die Macht besitze, Regeln zu geben, das gilt auch vom Genius des
Zeitalters, der sich jeweils sein Geschichtsbild schafft. Dieses Geschichtsbild
ist eine geistige Tatsache, hell erleuchtet vom Tageslicht der Gegenwart und
tief verwurzelt im dunkeln Gemeingefühl der Kulturmenschheit; ebenso unendlich
und in sich begrenzt, gesetzgeberisch und einmalig wie jedes große Dichtwerk,
ebenso real und ebenso unbegreiflich.
S. 34-35:
Geschichte ist
uns nicht gegeben, sondern aufgegeben. Geschichte deckt sich daher nicht
einfach mit „Geschehenem“. Geschichte entsteht erst, wenn etwas zu den
Ereignissen hinzukommt, nämlich wir. Ereignis ist, was in unseren Geist
eingegangen ist. An dieser Skala allein misst sich die historische Wahrheit. „Was
nicht geschehen sein kann“, sagt Bachofen, „ist jedenfalls gedacht worden. An die
Stelle der äußeren Wahrheit tritt also die innere. Statt der Tatsächlichkeiten
finden wir Taten des Geistes.“ Und Novalis lässt den Grafen von Hohenzollern in
„Heinrich von Ofterdingen“ sagen: „Es ist für unseren Genuss und unsere
Belehrung gewissermaßen einerlei, ob die Personen, in deren Schicksal wir dem
unserigen nachspüren, wirklich einmal lebten oder nicht. Wir verlangen nach der
Anschauung der großen einfachen Seele der Zeiterscheinungen, und finden wir
diesen Wunsch gewährt, so kümmern wir uns nicht um die zufällige Existenz der
äußeren Figuren.“ Und in einem nachgelassenen Fragment bemerkt er: „Das
Vergangene wirkt so wunderbar auf uns, weil, je unabhängiger ein Objekt von
unserer Wirksamkeit ist, desto freier unsere Wirksamkeit spielt; daher auch die
sonderbare Alltäglichkeit der Gegenwart. Hier wird das Gemüt zu einer bestimmten
Wirklichkeit gezwungen.“
Wir machen nicht
bloß u n s e r e Geschichte: auch die, welche uns voraufgegangen ist. Man sagt:
die Gegenwart steht im Schatten der Vergangenheit. Aber ebenso gut kann man
behaupten: die Vergangenheit ist der Schatten, den die Gegenwart wirft. Hier
gilt nicht das Gesetz von der Nichtumkehrbarkeit des Zeitablaufs. Geschichte
ist nicht etwas, wobei wir uns etwa rein empfangend und passiv verhalten,
sondern der Kontakt zwischen zwei geistigen Kraftströmen. Sie verwandelt uns,
und wir sie. Auch Huizinga spricht einmal vom „historischen Kontakt, den eine
unbedingte Überzeugung der Echtheit, Wahrheit begleitet“ und bemerkt dazu: „Auf
dem Grabe Michelets hat man dessen Worte angebracht: ‚L’histoire c’est une résurrection’.
[Die Geschichte ist eine Auferstehung.] Taine sagte: ‚L’histoire c’est à peu près voir les
hommes d’autrefois’. [Die Geschichte erscheint wie alte Männer.] In ihrer Unbestimmtheit sind diese beiden
Aussprüche brauchbarer als sorgfältige erkenntnistheoretische Definitionen. Auf
das ‚à peu près‘ [fast, beinahe] kommt es an.“ Dieses „Erleben des Historischen“
sei nahe verwandt „mit dem Begreifen von Musik, oder besser der Welt durch
Musik“. Verhält es sich so, und wir können es kaum bezweifeln, so liegt die
Analogie zwischen historischem und ästhetischem Empfinden klar zutage. Etwas
ganz Ähnliches meinte Kant, als er sagte: „Das Geschmacksurteil gründet sich
auf Begriffe von umfassender Geltung, aber auf unbestimmte.“
Wie erklärt sich
diese Fähigkeit des Menschen zur historischen Vision? Georg Simmel denkt dabei,
allerdings nicht ohne Zögern, an vererbte Gattungserinnerungen. „Wie unser
Körper in den rudimentären Organen unmittelbar die Spuren früherer Epochen
bewahrt, so enthält unser Geist die Resultate und die Spuren vergangener
psychischer Prozesse von den verschiedenen Stufen vergangener
Gattungsentwicklung her.“ So materialistisch-biologisch lässt sich das Rätsel
freilich nicht lösen. Sondern durch Gottes prästabilierte Harmonie stehen wir
mit allen Kreaturen, die er je geschaffen, in dauernder Kryptogamie. Oder
vielmehr: diese Harmonie ist latent; sie kann jederzeit zum Leben erweckt
werden. Vielleicht dachte Ranke an etwas dergleichen, wenn er sagte, die Taten
Gottes zu erkennen, sei die Aufgabe des Geschichtsschreibers. Aber diese Taten
Gottes - sie sind nichts anderes als die berühmten rankeschen „Ideen“ - können,
das betont Ranke oft und mit Nachdruck, nicht in Begriffen ausgedrückt, nur „angeschaut“
werden; nur ein Mitgefühl ihres Daseins kann man in sich erzeugen.
Aber nicht nur
diese Ideen wandeln sich, indem jede aus ihrem Schoße eine neue gebiert,
sondern auch unsere Ideen von diesen Ideen. „Dass die Weltgeschichte“, sagt
Goethe in der „Farbenlehre“, „von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse,
darüber ist in unseren Tagen wohl kein Zweifel übriggeblieben. Eine solche Notwendigkeit
entsteht aber nicht etwa daher, weil viel Geschehenes nachentdeckt worden,
sondern weil neue Ansichten gegeben werden, weil der Genosse einer
fortschreitenden Zeit auf Standpunkte geführt wird, von welchen sich das
Vergangene auf eine neue Weise überschauen und beurteilen lässt.“ Alle
Geschichte ist Gegenwart. „Indem wir es also nur mit der Idee des Geistes zu
tun haben und in der Weltgeschichte alles nur als seine Erscheinung betrachten“,
lautet eine Kernstelle in Hegels „Philosophie der Geschichte“, „so haben wir,
wenn wir die Verhangenheit, so groß sie auch immer sei, durchlaufen, es nur mit
Gegenwärtigem zu tun; denn die Philosophie, als sich mit dem Wahren
beschäftigend, hat es mit ewig Gegenwärtigem zu tun. Alles ist ihr in der
Vergangenheit unverloren, denn die Idee ist präsent, der Geist unsterblich, das
heißt, er ist nicht vorbei und nicht noch nicht, sondern ist wesentlich i t z t
[auch ‚itzo‘ oder ‚itzund‘: veraltet für ‚jetzt‘].“
S.103-105:
Auch die „Bosniaken“,
ein uralter, fast rein gebliebener südslawischer Menschenschlag, der einstmals
den Kern des großserbischen Reichs bildete, gelten allgemein als Türken, weil
sie unter deren Herrschaft Mohammedaner geworden sind. Das stärkste Beispiel
für ein unbestimmtes Mischvolk, das lediglich durch seinen Glauben zur Nation
geworden ist, bilden die Juden. Sie waren viel radikalere Antisemiten, als es
spätere Völker jemals gewesen sind, indem sie sich von allen semitischen
Nachbarstämmen mit einer Verachtung und Strenge abschlossen, die in der
Geschichte einzig dastehen dürfte: hat zum Beispiel jemals ein christlicher
Antisemit auch nur theoretisch gefordert, man dürfe nicht aus einem Geschirr
essen, das ein Jude benutzt hat? Es gibt eine mohammedanische Rasse: ihr
Schöpfer ist der Koran; es gibt eine mosaische Rasse: ihr Schöpfer ist der
Talmud. Es gibt aber auch eine katholische, eine protestantische, eine
puritanische, eine griechisch-orthodoxe Rasse. Wenn man an Calderon und Greco die
katholischen Rassenmerkmale aufgezeigt hat, an Cromwell und Carlyle die
puritanischen, an Kant und Bach die protestantischen, an Dostojewski und Peter
dem Großen die byzantinischen, so hat, man von ihrer Eigenart und
Gegensätzlichkeit alles Wesentliche ausgesagt. Dies wird besonders sinnfällig,
wenn man die angeblichen homines irreligiosi, die „Freigeister“, „Konfessionslosen“
und „Atheisten“ ins Auge fasst, die scheinbar alle dasselbe, nämlich nichts,
glauben: so gehört zweifellos Lenin zur orthodoxen, Shaw zur puritanischen,
Spengler zur protestantischen, Flaubert zur katholischen und Freud zur
mosaischen Rasse. Religionslose Menschen gibt es überhaupt nicht, und es darf
in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, dass gegenwärtig an den beiden
Enden der Erde zwei T e u f e l s r e l i g i o n e n im Begriff sind, sich
auszubilden und zu befestigen und zwei neue Rassen zu erzeugen: der
Bolschewismus und der Amerikanismus, die sich voneinander nur durch
entgegengesetzte Vorzeichen unterscheiden. Sie bedeuten eine ungeheure Gefahr
für das Schicksal des Planeten, die, im Fall eines Sieges, nur in einer
Katastrophe, vergleichbar dem Untergang der Atlantis, enden könnte.
Es handelt sich
bei den genannten Varianten jedes Mal um eine bestimmte Gruppe von
Vorstellungen, die sich zunächst zu gewissen geistigen und seelischen
Eigenschaften kristallisieren, schließlich aber sogar in physiologischen
Merkmalen niederschlagen. Wenn durch eine Anzahl von Generationen eine Religion
geglaubt (nicht bloß bekannt) wird, so müssen die Sprösslinge unfehlbar den
puritanischen Gesichtsschnitt, das buddhistische Phlegma, den mosaischen
Tonfall, die römische Nase, den griechischen Blick, die konfuzianische Gebärde
bekommen. Auf ganz ähnliche Weise entstehen die einzelnen Nationen: durch
Weltanschauung. Die plastische Potenz, die ein Volk formt, bindet und abgrenzt,
ist das gemeinsame Schicksal. So bildet sich allmählich eine Summe von
Elementarvorstellungen, Monaden im leibnizischen Sinne, die, für jedes Volk
spezifisch, die Sternenwelt seines „Nationalgefühls“ aufbauen. Die Volksglieder
erkennen wie Geheimbündler einander an diesen Elementarzeichen, die die „andern“
meist gar nicht verstehen und misstrauisch, ja feindselig betrachten. Jedes
Volk hat seine eigene Klaviatur und Kategorientafel: bestimmte Gesten,
Vokabeln, Begriffe, Tonarten, Seelenfarben. Vom rein biologischen Standpunkt
ist die Entstehung einer neuen Nation oder Rasse gar nicht zu erklären, denn
Kreuzung und Vererbung der seit undenklichen Zeiten über die Erde wirr
verstreuten Komponenten könnten nur ein immer charakterloseres Chaos ergeben.
Wann wird aus einem Agglomerat von Bastarden eine Rasse? Wenn es eine Seele
bekommen hat.
Und dabei haben
wir die ebenso großartige wie geheimnisvolle Möglichkeit noch ganz außer Acht
gelassen, dass auch ganz von selbst, nicht durch Kreuzung, nicht durch
Vererbung erworbener neuer Eigenschaften, nicht durch geistige Umwelt, sondern
spontan, plötzlich, konvulsivisch neue Rassen, Völker, Kulturen emportauchen
können, aus dem „Unsichtbaren des Hades“, dem dunkeln Schoße der Zeit und
Ewigkeit, der nichts von Züchtung und Anpassung weiß! Ja vielleicht ist sogar
die Geburt jeder neuen Menschenvarietät eine solche Genesis im wahrsten und
erhabensten Sinne des Wortes, eine Schöpfung aus dem Nichts.
Jede Schöpfungstheorie,
die mit der Biologie allein auszukommen meint, ist darwinistischer Materialismus
und mit der Unzulänglichkeit dieser Interpretationsweise behaftet. Der
Lamarckismus, obgleich ein halbes Jahrhundert älter als der Darwinismus, ist
zweifellos das universellere und vorurteilslosere System. Auch Fechner betonte
gegen den Darwinismus, sogleich bei dessen Debüt, die Wichtigkeit des „psychischen
Strebens“ für die Ausbildung neuer Organe, und Schopenhauer erklärte lange vor
Darwin sehr treffend und anschaulich, jedes Organ sei eine „fixierte Sehnsucht“,
der Ausdruck eines Willensakts. Dies lässt sich ja auch in der Tat im kleinen
alltäglich beobachten. Der oft Zornige bekommt die Zornader, der Rührselige
Tränensäcke, der Denker ein „durchgeistigtes“ Antlitz, der Fromme ein „weltabgewandtes“,
der Habgierige, Neidische, Rachsüchtige ein „verzerrtes“; alte Ehepaare werden
einander ähnlich. Es gibt intelligente, brutale, sensitive, asketische Hände,
nicht vererbt, sondern als Charakterprodukt (auch bin ich fest überzeugt, dass gerade
denkende Menschen niemals krumme Beine haben). Sollten diese Dinge, die jedes
Kind weiß, bei der Entstehung der Arten keine Rolle gespielt haben? Was man
andauernd und intensiv sich denkt, sich vorstellt, wird man schließlich: das
schöne deutsche Wort „sich etwas einbilden“ drückt dieses Verhältnis zwischen
geistiger Ursache und physischer Wirkung sehr plastisch aus. Der 1891 verstorbene
amerikanische Philosoph Prentice Mulford, ein genialer Dilettant wie seine
Landsleute Whitman und Emerson, hat über dieses Thema einige unsterbliche
Essays verfasst. Nach seiner Überzeugung gibt es keine Grenzlinie zwischen
Geist und Materie: „Die Materie ist nur die Form des Gedankens, die sich den
äußeren Sinnen offenbart“; „jeder unserer Gedanken ist eine Realität, eine
Kraft (bitte sich das zweimal vorzusagen)“; „jede Imagination ist eine
unsichtbare Realität, und je länger, je intensiver sie festgehalten wird, desto
mehr von ihr wird sich in jene Form des Seins umsetzen, die man fühlen, sehen,
berühren, wahrnehmen kann“. Kurz: „Ein Gedanke ist so wirklich wie ein
Telegraphendraht.“ Hässlichkeit der Mienen entspringt stets der unbewussten
Übertretung eines Gesetzes; ist der herrschende Ausdruck auf einem Gesicht die
Grimasse, dann grimassieren auch die Gedanken hinter dieser Stirn: „Die Rolle,
die wir am häufigsten spielen, wird dem Leib, der Maske dieser Rolle, den
herrschenden Ausdruck verleihen.“
S. 109:
Als Goethe Schiller
die Urpflanze aufzeichnete, schüttelte dieser den Kopf und sagte: „Das ist
keine Erfahrung, das ist eine Idee!“ was Goethe zwar nicht sogleich, aber wenige
Jahre später einsah, indem er erklärte, das Urbild, das er von der Pflanze
entworfen habe, gelte „nicht den Sinnen, doch dem Geiste“; und noch später
gestand er geradezu: „Die Idee ist in der Erfahrung nicht darzustellen, kaum
nachzuweisen; wer sie nicht besitzt, wird sie in der Erscheinung nirgends
gewahr.“ Die Idee ist eine Wunderlampe, die, von einem höheren Lichte gespeist,
in die dunkle Wirklichkeit hineinleuchtet. Sie gestaltet sowohl unser Wissen
wie unser Leben: jenes, indem sie uns zur tieferen unsichtbaren Wahrheit des
Tatsächlichen leitet, dieses, indem sie uns erzieht, zu sich hinanzieht. Sie
ist eine moralische Forderung oder, wie Kant es ausdrückt, „ein Postulat der
praktischen Vernunft“: die Ideen, sagt dieser, geben keine Gesetze, sondern nur
eine Richtschnur, sie sind nicht konstitutive, sondern regulative Prinzipien;
was sie feststellen, ist kein Gegenstand, sondern ein Ziel, eine Aufgabe.
Rasse ist
anfangs nicht einmal eine Idee, sondern noch weniger: ein Ideal; aber dieses
stets gegenwärtige Ideal, aus dem Leben geboren und Leben zeugend, bewirkt,
dass schließlich wirklich eine Rasse entsteht. Dies klingt wie ein Zirkelschluss,
aber Natur und Geschichte arbeiten sehr oft mit Zirkelschlüssen, ja man kann
fast sagen: es ist ihre charakteristische Methode. Schwindet, zerfällt, „atrophiert“
dieses Ideal, indem es seine Stärke und Reinheit einbüßt, so geht die Rasse,
die Nation, das Gemeinwesen unter. Rom, Athen, Sparta starben; nicht durch das
Gift der Vermischung mit Barbaren, sondern weil ihr Ideal dahinsank.
Rasse ist ein
Imperativ. Weil die Rasse eine Idee ist, kann sie niemals voll verwirklicht
werden. Weil die Rasse eine Idee ist, s o l l sie verwirklicht werden. Der
Mensch ist dazu da, das Unmögliche zu wollen. Dies ist seine Begnadung, sein
heiliges Privileg. Er ist, angefüllt mit allen seinen Widersprüchen, die
wandelnde Utopie und immer auf dem Wege zu noch höheren, noch paradoxeren, noch
unmöglicheren Utopien. Er hat eine große Liebe zur Vergangenheit, eine noch
größere zur Zukunft, diesen beiden Irrealitäten, die nur in der Idee erreichbar
sind, eine sehr geringe zur Nähe und Gegenwart. Wir sind Wesen, die ewig
werden. Was wir sind, geht uns nichts mehr an.