Dino Buzzati. Eine
Weihnachtsgeschichte. Übersetzung von Ernst Pepping:
Düster und
spitzbögig der alte bischöfliche Palast, salpeterdurchtränkt die Mauern. Dort
zu weilen ist in den Winternächten eine Strafe. Die anliegende Kathedrale ist
ungeheuer groß, ein Leben genügt nicht, sie völlig kennenzulernen, und sie
besteht aus einem solchen Knäuel von Kapellen und Sakristeien, daß selbst nach
Jahrhunderten der Benutzung einige von ihnen fast unbemerkt geblieben sind. Was
tut am Weihnachtsabend – so fragte man sich – der abgezehrte Erzbischof so ganz
allein, während die Stadt das Fest begeht? Wie kann er sich der Melancholie
erwehren? Alle haben einen Trost: Der Knabe hat den Zug und den Hampelmann, das
Schwesterchen hat die Puppe, die Mutter hat die Kinder um sich, der Kranke eine
neue Hoffnung, der alte Junggeselle die Gesellschaft des Freundes, der
Gefangene die Stimme eines anderen aus der benachbarten Zelle. Don Valentino,
der pflichteifrige Sekretär des Erzbischofs, lächelte, wenn er die Leute so
sprechen hörte. Der Erzbischof hat am Weihnachtsabend Gott. Kniend,
mutterseelenallein inmitten der kalten, leeren Kirche, auf den ersten Blick
könnte es einem leid tun, aber wenn man wüßte! Er ist nicht allein, ihm ist
auch nicht kalt und er fühlt sich nicht verlassen. Gott ist, für den
Erzbischof, am Heiligenabend über alle Ufer getreten, die Kirchenschiffe sind
von ihm buchstäblich überschwemmt, so sehr, daß die Türen Mühe haben, ihn
eingeschlossen zu halten, und wenn auch Öfen fehlen, ist es doch so warm, daß
die weißen Nattern in den Särgen der historischen Äbte erwachen, durch die
Luftlöcher der Kellergeschosse hochsteigen und von den Balustraden der
Beichtstühle freundlich den Kopf vorstrecken.
So an diesem Abend
der Dom, überströmend von Gott. Und obwohl er wußte, daß es ihm nicht zustand,
hielt sich Don Valentino besonders gern damit auf, das Betpult herzurichten.
Wie hätten sich damit Weihnachtsbaum, Truthahn und Champagner vergleichen
können. Das tat er auch an diesem Weihnachtsabend, als er, mit solchen Gedanken
beschäftigt, an ein Portal des Domes klopfen hörte. „Wer klopft an den Türen
des Domes“, fragte sich Don Valentino, „am Heiligabend? Haben sie noch nicht
genug gebetet? Von welcher Ungeduld sind sie besessen?“Und so mit sich
sprechend, ging er, um zu öffnen, und mit einem Windstoß trat ein armer, in
Lumpen gehüllter Mann ein.
„Welche Überfülle
von Gott!“ rief der sich umschauend aus. „Wie schön! Man fühlt ihn sogar von
draußen. Monsignore, könnten Sie mir nicht ein wenig von ihm abtreten? Bedenken
Sie, es ist Weihnachtsabend.“
„Er gehört seiner
Exzellenz, dem Erzbischof“, antwortete der Geistliche. „Er braucht ihn in
einigen Stunden. Seine Exzellenz führt bereits das Leben eines Heiligen. Ihr
dürft wirklich nicht erwarten, daß er jetzt auch noch auf Gott verzichtet. Und
außerdem bin ich nie Monsignore gewesen.“
„Nicht einmal ganz
wenig, Reverendo? So viel von ihm gibt es hier! Seine Exzellenz würde es nicht
einmal merken!“
„Ich habe Nein
gesagt … Du kannst gehen … Der Dom ist für das Publikum geschlossen“,
verabschiedete er den Armen mit einem Fünf-Lire-Schein.
Aber als der
Unglückliche den Dom verließ, verschwand gleichzeitig auch Gott. Bestürzt
schaute Don Valentino umher, richtete den Blick hinauf zu den finsteren
Gewölben: Nicht einmal dort oben war Gott. Die ganze großartige
Zurschaustellung von Säulen, Altären, Katafalken, Armleuchtern,
Wanddrapierungen, sonst so geheimnisvoll und mächtig, war plötzlich ungastlich
und unheilvoll geworden. Und in ein paar Stunden würde der Erzbischof
herabkommen. Erregt öffnete Don Valentino ein wenig eine der Außentüren und
schaute auf den Platz hinaus. Nichts. Auch draußen keine Spur von Gott, obwohl
es Weihnachtsabend war. Aus tausend erleuchteten Fenstern drang das Echo von
Gelächter, Gläsergeklirr, Musik und sogar von Verwünschungen. Nicht Glocken,
nicht Gesang.
Don Valentino ging
in die Nacht hinaus, er durchschritt die vom Lärm ausgelassener Festmahle
erfüllten Straßen der Stadt. Doch kannte er die richtige Adresse. Als er das
Haus betrat, setzte sich die befreundete Familie gerade zu Tisch. Alle schauten
sich freundlich an, und um sie herum war ein wenig von Gott.
„Fröhliche
Weihnachten, Reverendo“, sagte der Familienvater. „Dürfen wir Sie einladen?“
„Ich bin in Eile,
Freunde“, erwiderte er. „Wegen meiner Unachtsamkeit hat Gott den Dom verlassen,
und seine Exzellenz kommt in kurzer Zeit, um zu beten. Könnt Ihr mir nicht den
Euren geben? Ihr habt ihn nicht so sehr nötig, da Ihr in Gesellschaft seid.“
„Mein lieber Don
Valentino“, sagte der Vater. „Sie vergessen, möchte ich meinen, daß heute
Heiligabend ist. Gerade heute sollten meine Kinder Gottes weniger bedürftig
sein? Ich muß mich wundern, Don Valentino.“ Im gleichen Augenblick, in dem der
Mann dies sagte, glitt Gott aus dem Zimmer. Das fröhliche Lächeln erlosch, und
der gebratene Kapaun fühlte sich zwischen den Zähnen wie Sand an.
Von neuem weiter
durch die Nacht, durch verlassene Straßen. Weit mußte Don Valentino gehen, bis
er ihn schließlich wiedersah. Er war an den Toren der Stadt angelangt, und vor
ihm dehnte sich im Dunkel das Land aus, ein wenig erhellt vom Schimmer des
Schnees. Und über den Wiesen und den Reihen der Maulbeerbäume wogte Gott, wie
wenn er ihn erwarte. Don Valentino fiel nieder auf die Knie.
„Aber was tun Sie da,
Reverendo“, fragte ihn ein Bauer.„Wollen Sie sich in dieser Kälte eine
Krankheit holen?“
„Sieh dorthin, mein
Sohn, siehst Du nichts?“
Der Bauer schaute
ohne Staunen. „Er gehört uns“, sagte er. „Jedesmal zu Weihnachten kommt er und
segnet unsere Felder.“
„Hör zu“, sagte der
Geistliche. „Könntest Du mir nicht ein wenig von ihm geben? In der Stadt sind
wir ohne ihn geblieben, sogar die Kirchen sind leer. Gib mir ein wenig ab,
damit wenigstens der Erzbischof ein angemessenes Weihnachten verleben kann.“
„Aber nicht einmal
im Traum, mein lieber Reverendo! Wer weiß, was für ekelhafte Sünden Ihr in
Eurer Stadt begangen habt. Eure Schuld. Seht zu, wie Ihr fertigwerdet.“
„Gewiß hat man
gesündigt. Wer sündigt nicht? Aber Du kannst viele Seelen retten, mein Sohn, wenn
Du ja sagst.“ „Ich habe gerade genug damit zu tun, die meine zu retten“, lachte
der Bauer auf, und im gleichen Augenblick, in dem er dies sagte, erhob sich
Gott von seinen Feldern und entschwand im Dunkel. Immer weiter noch ging er
suchend. Gott schien sich immer rarer zu machen, und wer ein wenig von ihm
besaß, wollte es nicht abtreten (aber sobald er nein sagte, verschwand
gleichzeitig Gott und entfernte sich immer weiter).
Und nun war Don
Valentino am Rande einer großen Heide angelangt, und im Hintergrund, gerade am
Horizont, leuchtete Gott in sanftem Lichte, wie eine längliche Wolke. Der arme
Geistliche warf sich auf die Knie nieder in den Schnee. „Warte auf mich, o
Herr“, flehte er, „durch meine Schuld ist der Erzbischof allein geblieben, und
heute Abend ist Weihnachten.“
Er hatte eiskalte
Füße, machte sich im Nebel auf den Weg, versank bis zu den Knien, stürzte von
Zeit zu Zeit langhingestreckt zu Boden. Wie lange noch würde er aushalten
müssen?
Bis er einen
feierlich getragenen Chorgesang hörte, Engelsstimmen, ein Lichtstrahl drang
durch den Nebel. Er öffnete eine kleine Holztür und befand sich in einer
gewaltig großen Kirche, in deren Mitte beim Schein weniger kleiner Lichter ein
Geistlicher betete. Und die Kirche war voll des Paradieses.
„Bruder“, stöhnte
Don Valentino, am Ende der Kräfte, vom Bart hingen ihm Eiszapfen herab, „hab
Mitleid mit mir. Mein Erzbischof ist durch meine Schuld allein geblieben und
hat Gott nötig. Gib mir ein wenig von ihm, ich bitte Dich.“
Langsam drehte sich
der Betende um. Und Don Valentino, ihn erkennend, erblaßte noch mehr, wenn dies
überhaupt möglich war.
„Frohe Weihnacht,
Don Valentino!“ rief der Erzbischof ihm entgegentretend aus, ganz von Gott
umgeben. „Verwünschter Junge, wo hast Du dich nur herumgetrieben? Darf man
wissen, was Du bei diesem Hundewetter draußen zu suchen hattest?“
Dino Buzzati: Eine Weihnachtsgeschichte.
„Gott schien sich
immer rarer zu machen, und wer ein wenig von ihm besaß, wollte es nicht
abtreten (aber sobald er nein sagte, verschwand gleichzeitig Gott und entfernte
sich immer weiter).“ Vor 1960.
Dino Buzzati, 1906 in San Pellegrino geboren, 1972 in Mailand gestorben, er wurde 66 Jahre alt. Nach Jurastudium und Offiziersschule arbeitete er als Autor, Maler, Zeichner, Bühnenbildner und war viele Jahre Redakteur des ‚Corriere della Sera‘. Die folgende Kurzgeschichte entdeckten wir in den „Weihnachtserzählungen des 20. Jahrhunderts“, einer Ausgabe des Insel-Verlags, herausgegeben von Gottfried Natalis, Frankfurt a. M. und Leipzig, 2003. In der Fassung umfangreicher und in der Poetik der Übersetzung von Ernst Pepping vielleicht auch etwas ansprechender ist sie ebenfalls zu finden in „Sieben Erzählungen“, erschienen im Worpsweder Verlag, 1985: Dino Buzatti: Sieben Erzählungen. „Aus Freude an der italienischen Sprache und dem Stil Buzzatis übersetzte Ernst Pepping 1961 die vorliegende Auswahl. Eine Arbeit, die nicht zur Veröffentlichung gedacht war, die es aber verdient, gelesen zu werden, um der Faszination der Geschichten und um der gelungenen Übersetzungen willen.“ (Andrea Rückert.) Worpswerder Verlag, 1985.
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Einblick in die Geistige Welt: Wie die Angst uns versklavt.
Rudolf Steiner sagte: „Es gibt in der geistigen Welt Wesenheiten, für die Angst und Furcht, die von dem Menschen ausströmen, wie eine willkommene Nahrung sind. Hat der Mensch nicht Angst und nicht Furcht, dann hungern diese Wesen. […] Alles, was sich nährt von negativen Gefühlen, von Angst, Furcht und Aberglauben, von Hoffnungslosigkeit, von Zweifel, das sind in der geistigen Welt dem Menschen feindliche Mächte, die grausame Angriffe auf ihn führen, wenn sie von ihm genährt werden. / Daher ist es vor allen Dingen notwendig, daß der Mensch, der in die geistige Welt eintritt, vorerst sich stark mache gegen Furcht, Hoffnungslosigkeit, Zweifelsucht und Angst. Das sind aber gerade Gefühle, die so recht moderne Kulturgefühle sind, und der Materialismus ist geeignet, weil er die Menschen abschneidet von der geistigen Welt, durch Hoffnungslosigkeit und Furcht vor dem Unbekannten diese dem Menschen feindlichen Mächte gegen ihn aufzurufen. […] Sobald der Mensch den unsterblichen Kern in sich selber findet, durch die Geheimwissenschaft, erzieht er sich mehr und mehr zu der Überwindung aller solcher Gefühle, zuletzt auch zur Überwindung dessen, was man Todesfurcht nennt. Je materialistischer aber der Mensch wird, desto todesfürchtiger wird er.“ (Vgl. ggf. hier.)
Dazu eine kleine Geschichte: Der Tod sitzt auf einer Stadtmauer und wartet. Ein Gelehrter kommt vorbei, setzt sich zu ihm und fragt: Was tust du hier? Der Tod antwortet: Ich gehe jetzt in die Stadt und hole mir hundert Menschen. Der Gelehrte rennt in die Stadt und ruft aufgeregt: Der Tod wird kommen und hundert Menschen mitnehmen. Daraufhin rennen alle Menschen panisch in ihre Häuser und sperren sich über viele Wochen ein – 5.000 Menschen sterben. Als der Gelehrte die Stadt verläßt, sitzt der Tod immer noch dort und der Gelehrte sagt zornig: Du wolltest hundert Menschen holen, es waren aber 5.000! Der Tod antwortet: Ich hab hundert geholt, Alte und Kranke, wie jede Woche. Den Rest hat die Angst geholt, für die du zuständig bist...
(Vgl. ggf.: Axel Burkart: Angst Ade – Vortrag in der Fastenzeit: ‚Angstfasten‘, siehe auch hier.)
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Drei Geschichten zum Erntedank – zur Einkehr (06.10.2024):
Jüdisches Märchen, aus: Israel Zwi Kanner (Hg.), Jüdische Märchen, Frankfurt a.M. 1976: Das Feld der Bruderliebe.
Ein Vater ließ seinen zwei Söhnen ein Getreidefeld als Erbstück zurück. Sie teilten das Feld ehrlich unter sich. Der eine Sohn war reich und unverheiratet, der andere arm und mit Kindern gesegnet. Einmal, zur Zeit der Getreideernte, lag der Reiche in der Nacht auf seinem Lager und sagte zu sich: „Ich bin reich; wozu brauche ich die Garben? Mein Bruder ist arm, und das einzige, was er für seine Familie braucht, sind die Garben.“ Er stand vom Bette auf, ging auf seinen Feldanteil, nahm eine ganze Menge von Garben und brachte sie auf das Feld des Bruders. In derselben Nacht dachte sein Bruder: „Mein Bruder hat keine Frau und keine Kinder. Das einzige, woran er Freude hat, ist sein Reichtum. Ich will ihn vermehren.“ Er stand von seinem Lager auf, ging auf seinen Feldanteil brachte seine Garben auf das Feld seines Bruders. Als beide in der Frühe ihr Feld besuchten, staunten sie darüber, daß das Getreide nicht weniger geworden war. Ihr Staunen nahm kein Ende. Auch in den folgenden Nächten taten sie dasselbe. Jeder brachte seine Garben auf das Feld des anderen. Und da sie jedem Morgen merkten, daß nichts weniger geworden war, waren sie davon überzeugt, daß der Himmel sie für ihr Güte beschenkt hatte. Aber in einer Nacht geschah es, daß beide Brüder, die Hände voller Garben, sich auf ihrem Wege begegneten. Da erkannten sie, was geschehen war, sie fielen einander um den Hals und küßten sich. Da hörten sie eine Stimme vom Himmel: >Dieser Platz, auf dem sich so viel Bruderliebe offenbart hat, soll würdig sein, daß auf ihm mein Tempel errichtet werden soll – der Tempel der Bruderliebe.< Und tatsächlich wählte König Salomon diesen Platz für den Tempelbau.
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Eine Fabel, Leonardo da Vinci zugeschrieben: Die Ameise und das Weizenkorn.
Ein Weizenkorn, das von der Ernte allein auf dem Feld übriggeblieben war, erwartete den Regen, um in die bergende Erde zurückzukehren. Eine Ameise entdeckte es, lud es auf und schleppte es mit großer Anstrengung zur weit entfernten Behausung. Sie ging und ging, das Weizenkorn schien immer schwerer zu werden auf den müden Schultern der kleinen Ameise. „Warum läßt du mich nicht liegen?“, sprach das Korn. Die Ameise antwortete: „Wenn ich dich liegen lasse, werden wir keine Vorräte für diesen Winter haben. Wir sind viele, wir Ameisen, und jede von uns muß in die Vorratskammer so viel bringen, wie sie nur findet.“ „Aber ich bin nicht nur geschaffen, um gegessen zu werden“, sagte das Weizenkorn darauf. „Ich bin ein Same, voll von Lebenskraft, und meine Bestimmung ist es, eine neue Pflanze wachsen zu lassen. Höre, liebe Ameise, machen wir einen Vertrag!“ Die Ameise war zufrieden, ein wenig ausruhen zu können, legte das Korn ab und fragte: „Was für ein Vertrag soll das sein?“ „Wenn du mich auf meinem Feld beläßt“, sagte das Korn, „und davon abstehst, mich in deine Behausung zu tragen, werde ich dir in einem Jahr hundert Körner meiner Art zurückerstatten.“ Die Ameise starrte ungläubig. „Ja, liebe Ameise. Glaub, was ich dir sage! Wenn du heute auf mich verzichtest, werde ich mich dir hundertfach geben: ich werde dir hundert Weizenkörner für dein Heim schenken.“ Die Ameise dachte: Hundert Körner im Tausch gegen ein einziges – das ist ein Wunder. Sie fragte das Weizenkorn: „Und wie wirst du das machen?“ „Es ist ein Geheimnis“, antwortete das Korn, „das Geheimnis des Lebens. Heb eine kleine Grube aus, begrab mich darin und komm nach einem Jahr zurück!“ Ein Jahr später kehrte die Ameise wieder. Das Weizenkorn hatte sein Versprechen gehalten.
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Unbekannter Autor, Der Suchende.
Es war einmal ein Suchender. Er suchte nach einer Lösung für sein Problem, konnte sie aber nicht finden. Er suchte immer heftiger, immer verbissener, immer schneller und fand sie doch nirgends. Die Lösung ihrerseits war inzwischen schon ganz außer Atem. Es gelang ihr einfach nicht, den Suchenden einzuholen, bei dem Tempo, mit dem er hin- und herraste, ohne auch nur einmal zu verschnaufen oder sich umzusehen. Eines Tages brach der Suchende mutlos zusammen, setzte sich auf einen Stein, legte den Kopf in die Hände und wollte sich eine Weile ausruhen. Die Lösung, die schon gar nicht mehr daran geglaubt hatte, daß der Suchende einmal anhalten würde, stolperte mit voller Wucht über ihn! Und er fing auf, was da so plötzlich über ihn hereinbrach und entdeckte erstaunt, daß er seine Lösung in Händen hielt.
Bernhard von Clairvaux (1090-1153), mittelalterlicher Abt, Kreuzzugprediger und Mystiker, er verhalf dem Zisterzienserorden zu seiner Verbreitung, von der katholischen Kirche heiliggesprochen, in einem Brief an seinen Zögling Papst Eugen III. (1080-1153): Die Schale der Liebe.
„Wenn du vernünftig bist, erweise dich als Schale, nicht als Kanal, der fast gleichzeitig empfängt und weitergibt, während jene wartet, bis sie gefüllt ist. Auf diese Weise gibt sie das, was bei ihr überfließt, ohne eigenen Schaden weiter, denn sie weiß, daß der verflucht ist (es bereuen wird), der seinen Teil (unverhältnismäßig) verringert. Wir haben heutzutage viele Kanäle (in der Kirche), aber sehr wenige Schalen. Diejenigen, durch die uns die himmlischen Ströme zufließen, haben eine so große Liebe, daß sie lieber ausgießen wollen, als daß ihnen eingegossen wird, daß sie lieber sprechen als hören, daß sie bereit sind zu lehren – was sie nicht gelernt haben, und sich (doch) als Vorsteher über die anderen aufspielen, während sie sich (selbst) nicht regieren können. Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen, und habe nicht den Wunsch, freigebiger als Gott zu sein. Die Schale ahmt die Quelle nach. Erst wenn sie mit Wasser gesättigt ist, strömt sie zum Fluß, wird sie zur See. Die Schale schämt sich nicht, nicht überströmender zu sein als die Quelle. Du tue das Gleiche! Zuerst anfüllen, und dann ausgießen. Die gütige und kluge Liebe ist gewohnt überzuströmen, nicht auszuströmen. Ich möchte nicht reich werden, wenn du dabei leer wirst. Wenn du nämlich mit dir selbst schlecht umgehst, wem bist du dann gut? Wenn du kannst, hilf mir aus deiner Fülle, wenn nicht, schone dich.“
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Karl Heinrich Waggerl (Karl Waggerl, 1897-1973), gehört als österreichischer Schriftsteller mit Übersetzungen seiner Werke in mehr als ein Dutzend Sprachen zu den meistgelesenen Autoren des 20. Jahrhunderts. Kaum ein anderer hat die lichte Wärme der von tausend wunderbaren Geheimnissen umstrahlten Weihnacht so berührend ins Erleben gesetzt, das Himmelsheilige in Worte gefaßt und uns Botschaft gebracht und Hoffnung aus einer anderen Welt gespendet, wie dieser Krippenbauer des dichterischen Barock, Karl Heinrich Waggerl. Wer Zuspruch und Anregung sucht, und spürt, daß er diese eher im Geistlichen als im Weltlichen finden könne, der greife nach seinen Büchern: „Fröhliche Armut“, „Als den Hirten der Stern erschien“, „Du und Angela“, „Die Kunst des Müßiggangs“, „Heiteres Herbarium“ – und viele andere. Zum Weihnachtsfeste 2022 geben wir unseren Freunden und Lesern zwei kurze Auszüge aus Waggerls Erzählungen zur Aufnahme (Sämtliche Werke, Otto Müller Verlag Salzburg, 1956/1972; 1. Lizenzausgabe von Herder spektrum, Band 5073, „Als den Hirten der Stern erschien“, 1998, „Die stillste Zeit im Jahr“, S. 33-35; 2. Otto Müller Verlag Salzburg, Sonderausgabe für Lindner Arnstorf, „Fröhliche Armut“, S. 17):
„….Kindheit und Jugend, das liegt weit zurück. Aber die
Christnacht ist noch immer voll von Geheimnissen, sie blieb die Nacht der
Offenbarung. Lang vor der Mettenzeit tritt man gern einmal vor die Tür und
steht allein unter dem Himmel, nur um zu spüren, wie still es ist, wie alles
gleichsam den Atem anhält und auf das Wunder wartet. Auf den Höhen sieht man
schwebende Lichter, als hätten sich Sterne vom Firmament gelöst und wanderten
nun ins Tal. Das sind die Laternen der Leute, die von den Bergen herab zur
Kirche gegen. Einmal fand ich auf dem Weg zur Mette eine erfrorene
Kuckucksblume am verschneiten Bach. Unzählige braune Samenkörner rieselten mir
in die Hand, und während ich sie wieder verstreute, dachte ich bei mir, wie
tröstlich es doch ist, daß sich Gottvater nicht auch von den Errungenschaften
der Technik erschrecken läßt, sondern daß er nach wie vor seine altmodischen
Kuckucksblumensamen erzeugt.
Denn wie ist es in Wahrheit, liebe Freunde? Leben wir nicht in einer Weltzeit
des Advent? Scheint uns nicht alles von der aufkommenden Finsternis bedroht zu
werden, das karge Glück unseres Daseins? Wir warten bang auf den Engel mit der
Botschaft des Friedens und vergessen so leicht, daß diese Botschaft nur denen
gilt, die guten Willens sind. Es ist kein Trost und keine Hilfe bei der
Weisheit der Weisen und der Macht der Mächtigen. Denn der Herr kam nicht zur
Welt, damit die Menschen klüger, sondern damit die gütiger würden. Und darum
sind es allein die Kräfte des Herzens, die uns vielleicht noch einmal werden
retten können.“
„…Denn es ist schon so: Nur ein erfülltes Leben gibt einem Menschen wirklich Wert und Festigkeit in seinem Wesen, nicht Bildung oder feine Lebensart oder was wir sonst noch für wichtig halten, – nur ein erfülltes Leben. Ein Mensch muß ins Ganze wachsen wie ein Baum, der sich streckt bis zum Äußersten seiner Gestalt und keinen Zweig in seiner Krone verkümmern läßt, den ihm der Himmel zu tragen erlaubt. Was uns ansteht, will getan sein, nicht nur gedacht. Wohin führt uns am Ende alles Geschwätz über Gott und die Welt, kann es trösten, zufriedener machen, weiser? Heute noch, wenn ich einmal abends über die Felder laufe, mit meiner Unruhe im Leibe, und ich treffe den Nachbar unterwegs und lehne mich eine Weile neben ihm auf den Zaun, dann ist, was mir der Mann sagen kann, freilich keine Offenbarung für mich. Er hat auch nur Sorgen, denkt an sein Korn, oder eine Kuh wird kalben, darauf läßt sich nichts Geistvolles erwidern. Und doch, es rührt mich an, es ist kein hohler Mund, der da plappert, sondern ein ganzer Mensch redet aus der runden Fülle und Breite seiner Welt. Und mit einem Male bin ich selber nicht mehr so verzagt, ich gehe heim und nehme auch meine Arbeit wieder auf.“
*
Khalil Gibran (1883-1931), libanesisch-amerikanischer Maler, Dichter und Philosoph, in: Der Prophet, Von der Ehe:
„Dann sprach al-Mitra wieder und sagte: Und was ist mit der Ehe, Meister? Und er antwortete und sagte: Ihr wurdet zusammen geboren, und zusammen werdet ihr für immer bleiben. Ihr werdet zusammen sein, wenn die weißen Schwingen des Todes eure Tage zerstreuen. Ja, selbst im schweigenden Gedächtnis Gottes werdet ihr beisammen sein. Aber laßt Raum zwischen euch. Und laßt die Winde des Himmels zwischen euch tanzen. Liebt einander, aber macht die Liebe nicht zur Fessel: Laßt sie eher ein wogendes Meer zwischen den Ufern eurer Seelen sein. Füllt einander den Becher, aber trinkt nicht aus einem Becher. Gebt einander von eurem Brot, aber eßt nicht vom selben Laib. Singt und tanzt zusammen und seid fröhlich, aber laßt jeden von euch allein sein, so wie die Saiten einer Laute allein sind und doch von derselben Musik erzittern. Gebt eure Herzen, aber nicht in des anderen Gewahrsam. Denn einzig die Hand des Lebens kann eure Herzen umfassen. Und steht zueinander, doch nicht zu dicht beieinander: Denn die Säulen des Tempels stehen für sich, und Eichbaum und Zypresse wachsen nicht jedes in des anderen Schatten.“
*
Daniel Defoe (Daniel Foe, 1660-1731), englischer Kaufmann, Essayist, Schriftsteller der frühen Aufklärung; er gilt durch seine 1719 erschienene Erzählung ‚Robinson Crusoe‘, die ihn schlagartig berühmt machte, als Begründer des englischen Romans.
Aber auch das war er: ein ‚Stehaufmännchen‘, von keiner Niederlage zu bedrücken, zu entmutigen. Am Ende seines abenteuerlichen Lebens dichtete er:
„Kein Mensch ward so
vom Mißgeschick erlesen:
Dreizehnmal arm und
wieder reich gewesen.“
Nach Wunsch des Vaters soll er Geistlicher werden. Er aber möchte Geschäfte machen – und sei es mit dem Teufel. Er heiratet die Tochter eines reichen Londoner Weinhändlers. Mit der Mitgift gründet er sein erstes Kaufmannsgeschäft. Zugleich versucht er politisch Fuß zu fassen, er schließt sich einem Königsspekulanten an, muß aber nach Frankreich fliehen als dieser hingerichtet wird. Nach England zurückgekehrt, erprobt er sich als Kolonialhändler, mit dürftigem Erfolg. Von Berufe zwar ‚Kaufmann‘, fühlte er sich gleichwohl als Intellektueller. Anstatt sich in seine Buchhaltung zu vertiefen, schreibt er Aufsätze und erweitert seine Bibliothek. Aber auch hier bleibt sein Erfolg mäßig. Nach dem Verlust mehrerer Schiffsladungen muß er seinen Bankrott erklären. Nach diesem Unglück setzt er sich umfassend mit den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen seiner Zeit auseinander. Seine Ansichten veröffentlicht er in verschiedenen Essays. Unterdessen gelangt er durch Übernahme öffentlicher Dienste und Gründung einer Ziegelei wiederum zu erklecklichem Einkommen und Ansehen. Aber eine anonyme Satire auf die klerikalen Verhältnisse in England wird ihm zum Verhängnis. Nach Bekanntwerden seiner Autorenschaft stellt man ihn an den Pranger, konfisziert sein Vermögen, sperrt ihn ein. Aus dem Gefängnis entlassen steht er erneut ruiniert da. Jetzt helfen nur noch liebedienerische Lobeshymnen auf die verhaßte neue Regierung. Nebenbei erfindet er die erste Unterhaltungszeitschrift der Welt und etablierte sich als wirtschaftspolitischer Journalist. Als er die ‚Geschichte des vereinigten Königreichs‘ veröffentlich, ist er erneut zu Wohlstand gelangt. Jetzt erst, im Alter von 59 Jahren, schreibt er seinen atemberaubenden Welterfolg ‚Robinson Crusoe‘. Wieder profitiert er auch finanziell. Vor allem aber ist ihm endlich der Platz in den Ruhmeshallen der Dichtkunst sicher. Da müßte sich doch eine ‚Politische Geschichte des Teufels‘ wagen lassen? – Geirrt! – Abermals wird er mit Gefängnis bedroht. Überdies einer hohen Schuldensumme bezichtigt, flieht er nochmals, kurz vor seinem Tod, aus London…
Was lehrt uns dieses Leben? – An deinen eigenen Haaren vermagst du dich immer wieder aus den tiefsten Abgründen herauszuziehen, sofern du nur dein Selbstvertrauen und deinen Glauben an die eigene Schöpferkraft nicht verlierst. Gott hilft dem Tüchtigen, oder wie es Sophokles sagte: „Wenn du nicht handelst, wird dir auch der Himmel nicht helfen.“ Und sollte sich der hohe Mut des Tüchtigen in Hochmut wandeln, so hilft Gott abermals – durch ein Unglück, auf das sich der Übermütige besinnt und neu wieder-er-findet…
Daniel Defoe wurde auf dem Friedhof ‚Brunhill Fields‘ in London beigesetzt. Überlieferungen zufolge pflegten Unbekannte nach dem Ableben seiner Verwandten noch über viele Jahre seine Grabstädte. Es sollen die ersten Anhänger der englischen Arbeiterbewegung gewesen sein…
*
„Als das Leben am Anfang stand, fielen unzählige Kugeln auf
die Erde. Bei ihrem Aufprall zersprangen sie in zwei Hälften. Uneben und frei
auseinandergeteilt symbolisieren sie die unterschiedlichen Charaktere zweier
Menschen. Doch jede dieser auch noch so verschiedenen Halbkugeln ist für ein
Gegenstück bestimmt, so wie auch zwei Menschen füreinander bestimmt sind.
Wir alle sind auf der Suche nach unserer anderen Hälfte,
eben nach der anderen halben Kugel. Wenn ihr glaubt, ihr habt Eure andere
Hälfte gefunden, dann werdet ihr feststellen, daß die beiden halben Kugeln oft
nur an einer einzigen kleinen Stelle passen, was Ihr durch sorgfältiges Drehen
und Probieren herausfinden könnt. Es ist ganz natürlich, daß es am Anfang hakt
und hängen bleibt. Aber genau das macht Sinn – denn: nicht alles kann von
vornherein passen und übereinstimmen.
Nun müssen beide an ihrer halben Kugel arbeiten, schleifen
und feilen. Nur langsam und in kleinen Schritten ebnet sich dieser kantige
Bruch durch das Geben und Nehmen in der Liebe.
Nach einiger Zeit, wenn sich beide Hälften abgeschliffen
haben, lassen sie sich fast reibungslos zu einer Kugel formen. Aber eben nur
fast, genau passen – wie am Anfang unserer Zeit – darf es nie, sonst verliert
man seine Persönlichkeit und das, was den Menschen an Eurer Seite ausmacht.
Jedoch eines vergeßt nie: Ihr sollt nicht an der anderen,
sondern stets an der eigenen Hälfte feilen.“
Platon (latinisiert: Plato, 428-348), griechischer Philosoph: Fabel von den Kugelmenschen:
„Es war in alten Zeiten, da war die Beschaffenheit der
Menschen eine andere. Damals waren die Menschen kugelförmig mit zwei Gesichtern
und jeweils vier Armen und vier Beinen. Sie waren von großer Kraft und großer
Stärke und sie waren so vollkommen, daß sie die glücklichsten und
freundlichsten Wesen auf Erden waren.
Doch dies erregte bei Zeus und den anderen Göttern Neid und
Mißfallen, fürchteten sie doch, daß ihnen die Menschen zu ähnlich seien und sie
ihnen deshalb nicht mehr die gebührende Verehrung zuteilwerden ließen. So
berieten sie, was sie mit den Menschen anfangen sollten. Lange wußten sie sich
keinen Rat, denn sie wollten die Menschen nicht töten und zugrunde richten.
Nach langen Überlegungen sprach Zeus: >Ich glaube, einen Weg gefunden zu
haben, wie die Menschen erhalten bleiben können, wie sie aber gehindert werden,
uns zu ähnlich zu sein. Ich will jeden von Ihnen in zwei Hälften zerschneiden
und sie so schwächen. So werden sie als schwache Menschen uns lieben und uns
verehren.<
So wurden die Menschen zusammen gerufen, indem die Götter
ihnen ein neues, großes Abenteuer versprachen. Stattdessen aber schleuderte
Zeus Blitze vom Himmel, die jeden Menschen in zwei Hälften zerschnitten. Und
damit sich die zusammengehörigen Hälften nicht wieder zusammentun konnten,
zerstreuten die Götter die Menschen überdies über die ganze Erde.
Als nun so ihre Körper in zwei Teile zerschnitten waren, da
sehnte sich jede Hälfte mit unendlichem Verlangen nach ihrer anderen Hälfte. Zu
spät erkannten die Götter, daß sie aus Selbstsucht großes Leid unter die
Menschen gebracht hatten. Und so gelobten sie, daß sich zwei zueinander
gehörige Kugelhälften wieder untrennbar vereinen dürften, wenn sie einander
gefunden hätten.
So sucht seit damals jeder Mensch den zu ihm gehörenden
Menschen, um sich mit ihm wieder zu verbinden. Seit so langer Zeit ist demnach
die Liebe zueinander den Menschen eingeboren. Sie ist die Kraft, die den
Menschen nach seiner anderen Hälfte suchen läßt. Durch die Liebe erkennt er den
Menschen, der zu ihm gehört. Und die Liebe macht aus den zweien wieder eins. So
kommt es, daß sich immer wieder zwei zueinander gehörende Menschen wiederfinden
und sich glücklich vereinen. Und wenn sich ein Kugelmensch so wiedergefunden
hat, kann ihn nichts mehr wieder auseinanderreißen.“
*
Ein Märchen der Karatschaien, vgl. ggf. hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Karatschai-Tscherkessien
oder die Quelle: https://www.maerchenstiftung.ch/de/maerchen_/erwachsenenmaerchen/die_ehre.
Vor langer Zeit lebte in einem Gebirgsdorf ein
alter Mann mit seiner ganzen Sippe. Glücklich und zufrieden wohnte diese große
einträchtige Familie in ihrem Haus. Gemeinsam mühten sich alle auf dem Feld,
gemeinsam setzten sie sich zu Tisch, gemeinsam teilten sie Leid und Freud.
Einmal stand der alte Mann ganz früh am Morgen auf
und ging auf den Hof, um die Pferde zu füttern. Da sah er, daß über Nacht der
Winter gekommen war. Ringsum war alles weiß, der Hof war tief verschneit und
zum Tor lief eine frische Spur durch den Schnee. Das wunderte den Alten, denn
die ganze Sippe war daheim, sie hatten keine Gäste gehabt, die Söhne, die
Schwiegertöchter und die Enkel waren alle im Haus. Er beschloß festzustellen,
wohin die rätselhafte Spur führte. Der Alte trat durch das Tor und verfolgte
die Spur. Sie lief durch das ganze Dorf, dann aufs Feld hinaus und hörte auch
dort nicht auf. In der Mitte des Feldes stand ein einzelner Rosenbusch. Hier
brach die Spur ab. Der alte Mann blieb vor dem Rosenbusch stehen und rief: „Du,
der du heute morgen mein Haus verlassen und dich in diesem Busch versteckt hast,
sei so gut und antworte mir!“
„Ich, dein Glück, habe beschlossen, dein Haus zu
verlassen. Ich möchte mich jetzt in dem Haus dort drüben niederlassen. Aber da
du mich nun einmal eingeholt hast, will ich dir einen Wunsch erfüllen. Sag, was
ist dir am liebsten: Vieh, Land oder prächtige Kleider?“
„Ich bitte dich um folgendes“, antwortete der
Alte, „warte, bis ich mich mit den Meinen beraten habe, ich bin bald wieder da.“
„Gut“, antwortete das Glück, „ich will solange
warten, halte dich aber nicht allzu lange auf.“
Der Alte eilte nach Hause und erzählte, daß das
Glück von ihnen gegangen sei, daß er es jedoch eingeholt habe und vor welche
Wahl es ihn gestellt habe. Nun begannen alle zu beraten. „Du solltest um viel
Land bitten, dann bringen wir gute Ernte ein und brauchen uns keine Sorgen zu
machen“, sagte die Frau. „Vielleicht sollten wir lieber um gute Pferde bitten“,
sagte der älteste Sohn. „Es wäre doch gar nicht übel, wenn wir schöne und
prächtige Kleider bekämen“, sagten die Töchter des Alten. Die Geschwister
begannen zu streiten, denn jeder wollte beweisen, daß sein Wunsch der
vernünftigste sei. Da meldete sich die jüngste Schwiegertochter, deren Stimme
man bisher noch kaum vernommen hatte: „Wenn möglich, so bittet doch um Ehre!“ „Du
hast recht, Töchterchen!“, sprach der Alte erfreut. „Wieso bin ich alte Frau
nicht gleich auf diesen Gedanken gekommen!“, rief die Alte. Nun erklärten alle,
daß die jüngste Schwiegertochter recht habe. Der alte Mann eilte aufs Feld
zurück und trat zum Rosenbusch.
„Ihr habt euch aber lange beraten!“, meinte das
Glück. „Sag, wofür hat sich deine Familie entschieden?“
„Wenn du gehst, so nimm alles“, antwortete der
Alte, „doch laß uns unsere Ehre.“
„Da werde ich dein Haus nicht verlassen können“,
sprach das Glück, „denn wo Ehre ist, da ist auch das Glück.“
So kehrte das Glück in das Haus des alten Mannes
zurück und so lebt die Familie bis heute glücklich und zufrieden.
*
Soll ich heiraten?
Eine Metapher, von unbekanntem Autor:
Ein
Mann, der sich unsicher war, ob er heiraten sollte, ging zu einem Priester um
sich Rat einzuholen. Die Antwort des Priesters: „Wenn du glücklich werden
willst: Nein. Wenn du glücklich machen willst: Ja.“
*
Der besondere Tag.
Gefunden in einem
Jahresbuch mit Tagesgebeten, geschrieben und herausgegeben vom deutschen
Evangelisten und Pfarrer Axel Kühner:
Der besondere Tag.
Es lebten einst
sieben Brüder zusammen. Sechs davon gingen zur Arbeit, der siebte besorgte den
Haushalt. Wenn die sechs Brüder müde von der Arbeit zurückkehrten, fanden sie
das Haus geordnet, das Essen bereitet. Darüber freuten sie sich und lobten den
siebten Bruder.
Aber einer der
Brüder wollte klüger sein als die anderen. Er schalt den siebten Bruder einen
Faulenzer und Tagedieb, der auch mit zur Arbeit gehen und sein Brot verdienen
sollte. Das böse Wort fand leider bei den anderen Gehör. Sie beschlossen
einmütig, daß ihr siebter Bruder nicht länger seines bisherigen Amtes walten
sollte. So nötigten sie ihn denn, gleich ihnen Axt und Karst zu nehmen und früh
am Morgen mit ihnen an die Arbeit zu gehen.
Als nach langer
schwerer Arbeit endlich der Feierabend kam, traten sie alle sieben zusammen den
Heimweg an. Müde und abgespannt kehrten sie nach Hause zurück. Aber kein heller
freundlicher Lichtschein winkt ihnen entgegen. Keine fürsorgende Hand hatte das
Hauswesen geordnet und den Tisch gedeckt. Kein Bruder stand an der Haustür und
empfing sie mit einem herzlichen Wort. – Jetzt erst merkten sie, wie töricht
sie gehandelt hatten, als sie ihren siebten Bruder seines stillen Dienstes
enthoben. Sie fühlten sich, weil es ihre eigene Schuld war, doppelt elend und
verlassen. Da beschlossen sie, ihn wieder in sein Amt einzusetzen. Das
verlorene Glück des Bruderkreises kehrte mit seinem heimlichen Segen zu ihnen
zurück.
Diese Geschichte
wiederholt sich jede Woche. Der Sonntag ist unter seinen Werktagsbrüdern der Tag, der den anderen
sechs Tagen Licht, Heil und Segen bringt. Heute aber haben wir ihn verstoßen.
Nun kommt von ihm keine Kraft, keine Ruhe, kein Frieden mehr. Wir müssen den
Sonntag wieder in sein Amt einsetzen. Gott gab uns in der Reihe der Alltage
einen besonderen Tag. Er ordnete nach den Arbeitstagen den Ruhetag. Er stiftete
in der Abfolge der Werktage den Feiertag. Gott segnete und heiligte den siebten
Tag und vollendete seine Schöpfung im Ruhen und Feiern.
Wer sich diesen Tag
von Gott und für Gott nicht mehr gönnt, schneidet sich selbst von der Quelle
und dem Ziel des Lebens ab. Er vergißt, daß das Leben nicht im Haben, sondern
im Empfangen besteht. Er gewinnt keinen Tag, sondern verliert alle Tage. Wir
müssen den Sonntag also wieder in sein Amt einsetzen: „Gedenke des Sabbattages,
daß Du ihn heiligest.“ (2. Mose 20.8.)
*
Eine Lektion in Demut.
Eine Indische Fabel, nacherzählt von Selvarajan Yesudian (1916-1998); in Südindien geboren, war er einer der ersten europäischen Yogalehrer. Zusammen mit der ungarischen Künstlerin, Mystikerin und Autorin Elisabeth Haich (1897-1994) hat er mehrere Yogaschulen in der Schweiz gegründet. (Hier entnommen dem Buch: „Indische Fabeln – erzählt und illustriert von Selvarajan Yesudian“, erschienen im Drei Eichen Verlag, dritte Auflage 1985.)
Eine Lektion in Demut.
Ein Hirtenknabe bewunderte die Ruhe und den inneren Frieden eines Heiligen und wünschte sehnlichst dessen Jünger zu werden. Eines Tages ging er zu dem heiligen Mann und bat „Verehrter Herr, nimm mich als Jünger auf!“ Der Heilige antwortete: „Bringe mir zuerst etwas, das geringer ist als du.“ „Ah, das ist eine leichte Aufgabe“, dachte der Hirtenknabe. Er lief geradewegs zu einer seiner mageren und kränklichen Kühe und schickte sich an sie wegzuführen. „Was tust du mit mir?“ fragte die Kuh. „Ich führe dich zu meinem Lehrer. Er wird mich, wenn ich ihm etwas Geringeres, als ich es bin, bringe, zu seinem Jünger machen“, erwiderte der Hirtenknabe. „Mein Sohn“, sagte die Kuh, „weißt du nicht, daß die Kuh die Mutter der Menschen ist? Weißt du nicht, daß die Menschen ohne unsere Milch nicht überleben können? Wie also kann ich geringer sein als du?“
Der Knabe sah seine Torheit ein und setze sich nieder, um über das Gehörte nachzudenken. Alsbald fiel sein Blick auf das umherwachsende Gras. Er war überzeugt etwas Geringeres als er sei gefunden zu haben. Doch als er sich niederbeugte, um davon zu pflücken, sprach das Gras „Was tust du mit mir?“ „Ich bringe meinem Lehrer etwas, das geringer ist als ich, damit ich sein Jünger werde“ antwortete er. „Was meinst du damit? Weißt du nicht, daß wir das Futter der Kühe sind, die den Menschen ihre Milch geben? Wie also kann ich so gering sein?“ fragte das Gras. „Das ist allerdings wahr“, sagte der Knabe und ging traurig davon. Am Ufer eines Flusses angelangt, setzte er sich hin und dachte über sein Problem nach.
Plötzlich bemerkte er ein Häufchen Exkremente auf dem Strom treibend. Dies ist sicherlich das Geringste, das es unter der Sonne gibt, dachte er. Überglücklich in der Vorfreude, bald der Jünger des Heiligen zu sein, streckte er seinen Hirtenstab nach dem Häufchen aus. Doch als er es an das Ufer ziehen wollte, rief es entrüstet aus: „Was machst du mit mir?“ „Ich bringe dich zu meinem Lehrer. Er wünscht, daß ich ihm etwas bringe, das geringer ist als ich. Nur dann wird er mich als Schüler aufnehmen. Wie glücklich bin ich doch, denn nichts kann geringer sein als du!“ erwiderte der Hirte. „Wie kannst du es wagen mich zu berühren?“ rief das am meisten Verabscheute aller Dinge empört aus. „Wisse, daß der Mensch die Ursache unserer Besudelung ist. Von den Menschen gepriesen und den Göttern gnädig aufgenommen, waren wir die Opferspeise für den Himmel; denn wir bestanden zuvor aus den erlesensten Speisen, Getränken, Früchten und Süßigkeiten. Es war die Berührung der Menschen, die uns degradiert hat. Deshalb mach dich davon! Verschwinde!“
Auf diese Äußerung hin wurde es dem Hirtenknabe klar, daß es in der ganzen weiten Welt nichts gibt, auf das man herunterblicken und das man als widerwärtig und gering verachten dürfte.
Zu
Füßen seines Meisters gebeugt sagte er demütig „Verehrter Herr, nichts ist
geringer als ich! Unter all den Geringen bin ich der Geringste!“ Als der
Heilige diese Worte vernommen hatte, wußte er, daß Milde und Demut im Herzen
des Knaben geboren waren und nahm in als Jünger auf.
*
Was ist Glück?
Übersetzt und nacherzählt aus den Upanischaden, einer zu
den ältesten heiligen Schriften des Hinduismus gehörenden und die vedische
Religion begründenden Sammlung philosophisch-theologischer Abhandlungen über
die Erlösung des Menschen. Entstanden ist die vedische Literatur zwischen
1200-600 v. Chr. Der Buddhismus bricht mit ihrer religiösen Autorität,
übernimmt aber ihre Wiedergeburtslehre, ersetzt jedoch das Ziel der Erlösung aus
vedischer Tradition vermittels des Erkennens der Identität von Brahman und
Atman durch das buddhistisch überlieferte Nirvana - des Verwehens, der
Vernichtung des Leidens, des Verlöschens des Durstes und der Lebensgier.
Was ist Glück?
Ein kleiner Junge fragte seinen Vater: „Papa, alle suchen
das Glück, was aber bedeutet Glück?“ – „Ein Zeichen von Glück besteht darin,
mein Sohn, daß jemand, der glücklich ist, tätig wird. Jemand, der nicht
glücklich ist, mag nichts tun. Sein Geist ist eng und sein Wille schwach. Was
weit und grenzenlos ist, das macht glücklich. In dem, was klein und endlich
ist, ist keine wahre Freude zu finden. Ich kann dir versichern, mein Sohn: Nur
das Unendliche enthält das Glück. Doch mußt du dir aus vollem Herzen wünschen,
dieses Unendliche zu verstehen.“ – „Ich möchte es verstehen, Papa“, sagte der
Junge. – „Gut, dann mußt du genau zuhören, was ich dir jetzt sage und darüber
nachdenken: Es gibt zweierlei – das Endliche und das Unendliche. Ein Mensch,
der erkennt, daß nichts und niemand von ihm getrennt ist, daß er mit allen
anderen Menschen, Tieren und Dingen im Universum eins ist und er nichts anders
sieht, hört und kennt - das ist das Unendliche. Wer sich aber von den anderen
getrennt fühlt – das ist das Endliche; dieser Mensch hat das Unendliche noch
nicht entdeckt. Das Endliche wird vergehen, das Unendliche währt ewig. Wer das
versteht, der hat die Grundlage allen Glücks gefunden.“
*
Hermann Karl Hesse (1877-1962), deutschsprachiger Schriftsteller, Dichter, Maler, Literaturnobelpreis 1946, hier entnommen seinen ‚Phantasien‘ von 1918: Die Normalen:
Auf dem Wege vom Fisch, Vogel und Affen bis
zum kriegführenden Tier unserer Zeit, auf dem langen Wege, auf dem wir mit der
Zeit Menschen und Götter zu werden hoffen, konnten es nicht die ‚Normalen‘
sein, die von Stufe zu Stufe vorwärts gedrängt hatten. Die Normalen waren
konservativ, sie blieben gern beim Gesunden, Bewährten. Eine normale Eidechse
kam nie auf den Gedanken, es einmal mit dem Fliegen zu versuchen. Ein normaler
Affe dachte nie daran, den Baum zu verlassen und aufrecht auf der Erde zu
wandeln. Der das zuerst getan, der das zuerst probiert, zuerst davon geträumt
hatte, der war unter den Affen ein Phantast und Sonderling, ein Dichter und Neuerer
gewesen, und kein Normaler. Die Normalen, so sah ich, waren dazu da, die gefundene
Form einer Lebensweise festzuhalten, zu schützen und zu befestigen, damit
Rückhalt und Lebensvorrat da sei. Die Phantasten aber waren dazu da, ihre
Sprünge zu machen und das nie Erdachte zu träumen, damit vielleicht einmal aus
dem Fisch ein Landtier und aus dem Affen ein Affenmensch werden könne.
Also war ‚normal‘ eigentlich auch nichts
Ideales, es war auch nur der Name für eine Funktion, nämlich für die konservative,
arterhaltende. ‚Begabt‘ oder ‚Phantast‘ aber war der Name für die Funktion des
Spielens und Probierens, des Ballspielens mit Problemen. Man konnte dabei
kaputtgehen, wahnsinnig werden, dem Selbstmord verfallen. Man konnte aber unter
Umständen auch Flügel erfinden, Götter schaffen. Kurz: während der Normale
dafür sorgte, daß die Art, wie sie war, erhalten bleibe, war es Amt des
‚Geistigen‘, dafür zu sorgen, daß der andere, gegenteilige Besitz der Menschheit,
nämlich ihr Ideal, ebenfalls erhalten bleibe und nicht eingehe. Zwischen beiden
Polen spielte das Leben der Menschheit. Festhalten, was man erreicht hat, und
Erreichtes wegwerfen, um Weiteres anzustreben! Das war es. Und des Dichters
Funktion war die, auf der idealen Seite mitzutun, Ahnungen zu haben, Ideale zu
schaffen, Träume zu haben.
*
Khalil Gibran (1883-1931), libanesisch-amerikanischer Maler, Dichter und Philosoph, in: Das Reich der Ideen, erschienen (z.B. auch) im Walter Verlag, Olten, 1987, dort S. 66, Über die Kunst:
Als
ich zu zeichnen und zu malen anfing, da sagte ich nicht zu mir selbst: ‚Schau
an, Khalil Gibran. So viele Wege der Kunst liegen vor dir: der klassische, der
moderne, der symbolistische, der impressionistische und andere. Wähle einen
davon.‘ Ich tat nichts dergleichen. Mein Pinsel und meine Feder zeichneten ganz
von alleine die Symbole meiner Gedanken, Gefühle und Vorstellungen auf. Manche
glauben, daß es die Aufgabe der Kunst sei, einfach eine Abbildung der Natur
darzustellen. Aber die Natur ist viel zu großartig und viel zu fein, als daß
man sie erfolgreich imitieren könnte. Kein Künstler ist je imstande, auch nur
die geringste Schöpfung der Natur oder eines ihrer Wunder getreu abzubilden.
Und außerdem: welch einen Gewinn bringt es, die Natur zu imitieren, wenn sie
offen zugänglich für alle ist, die zu sehen und zu hören verstehen? Vielmehr liegt
die Aufgabe der Kunst im Verstehen der Natur. Die Kunst soll den Sinn der Natur
denjenigen erschließen, die nicht imstande sind, sie zu verstehen. Es geht
darum, die Seele eines Baumes wiederzugeben, nicht das Aussehen eines Baumes,
vollbeladen mit Früchten. Es geht darum, das Bewußtsein des Meeres zu
enthüllen, und nicht so und soviele schaumgekrönte Wellen oder eine Menge
blauen Wassers darzustellen. Es ist die Sendung der Kunst, das Unbekannte aus
dem allzu Bekannten hervorzuheben.
Habe
Mitleid mit einem Auge, das im Sonnenlicht nicht mehr wahrzunehmen vermag als
einen Wärmequell und eine Fackel, die den Weg zwischen der Wohnstätte und dem
Büro erhellt. Solch ein Auge ist blind, auch wenn es imstande ist, eine Fliege
auf einen Kilometer Entfernung zu sehen. Hab Mitleid mit dem Ohr, das im Gesang
einer Nachtigall nicht mehr hört als eine bestimmte Anzahl von Noten. Solch ein
Ohr ist taub, auch wenn es imstande ist, das Kriechen der Ameisen in ihren
unterirdischen Labyrinthen zu vernehmen.
*
Die folgende
Geschichte trug sich zur Zeit Laotses in China zu. Laotse liebte sie sehr.
Ein
alter Mann lebte in einem Dorf, sehr arm, aber selbst Könige waren neidisch auf
ihn, denn er besaß ein wunderschönes weißes Pferd. Könige boten sagenhafte Summen
für das Pferd, aber der Mann schlug immer aus: „Dieses Pferd ist für mich kein
Pferd, sondern ein Mensch, und wie könnte man einen Menschen, einen Freund
verkaufen?“ Der Mann war arm, aber sein Pferd verkaufte er nie. Eines Morgens
fand er sein Pferd nicht im Stall. Das ganze Dorf versammelte sich, und die Leute
sagten: „Du dummer alter Mann! Wir haben immer gewußt, daß das Pferd eines
Tages gestohlen würde. Es wäre besser gewesen, es zu verkaufen. Welch ein
Unglück!“ Der Mann widersprach: „Geht nicht so weit, das zu sagen. Sagt
einfach: Das Pferd ist nicht im Stall. Soviel ist Tatsache, alles andere ist
Urteil. Ob es ein Unglück ist oder ein Segen, weiß man nicht, denn alles ist
nur ein Bruchstück. Wer weiß, was folgen wird?“ Die Leute lachten den Alten
aus. Sie hatten schon immer gewußt, daß er ein bißchen verrückt war.
Als nach fünfzehn
Tagen aber das Pferd eines Abends zurückkehrte, war das Erstaunen groß: Es war
nicht gestohlen worden, sondern nur in die Wildnis ausgebrochen. Und nicht nur
das, es brachte ein Dutzend wilder Pferde mit. Wieder versammelten sich die
Leute und sagten: „Alter Mann, du hattest recht. Es war kein Unglück, es hat
sich tatsächlich als Segen erwiesen.“ Der Alte entgegnete: „Wieder geht ihr zu
weit. Sagt einfach: Das Pferd ist zurück. Wer weiß, ob das ein Segen ist oder
nicht? Es ist nur ein Bruchstück. Ihr lest nur ein einziges Wort in einem Satz,
wie könnt ihr über das ganze Buch urteilen?“ Dieses Mal wußten die Leute nicht
viel einzuwenden, aber innerlich glaubten sie dennoch, der Alte sei im Unrecht.
Zwölf herrliche Wildpferde waren gekommen und sein einziger Sohn begann, sie zu
trainieren. Eine Woche später fiel er vom Pferd und brach sich die Beine.
Wieder versammelten sich die Leute und wieder urteilten sie: „Du hattest unrecht!
Es war ein Unglück. Dein einziger Sohn kann nun seine Beine nicht gebrauchen,
und er war die einzige Stütze deines Alters. Jetzt bist Du ärmer als je zuvor.“
Der Alte antwortete: Ihr seid besessen vom Urteilen. Geht nicht so weit. Sagt
nur, daß mein Sohn sich die Beine gebrochen hat. Niemand weiß, ob dies ein
Unglück oder ein Segen ist. Das Leben kommt in Fragmenten, und mehr bekommt ihr
nicht zu sehen.“
Es ergab sich, daß
das Land nach ein paar Wochen einen Krieg begann. Alle jungen Männer des Ortes
wurden zwangsweise zum Militär eingezogen. Nur der Sohn des alten Mannes blieb
zurück, weil er verkrüppelt war. Der ganze Ort war von Klagen und Wehgeschrei erfüllt,
weil dieser Krieg nicht zu gewinnen war und man wußte, daß die meisten der
jungen Männer nicht nach Hause zurückkehren werden. Die Leute kamen zu dem Alten
und sagten: „Du hattest recht, alter Mann, es hat sich als Segen erwiesen. Dein
Sohn ist zwar verkrüppelt, aber immerhin ist er noch bei dir. Unsere Söhne sind
für immer fort.“ Der alte Mann antwortete wieder: „Ihr hört nicht auf, zu
urteilen. Niemand weiß! Sagt nur dies: daß man Eure Söhne in die Armee eingezogen
hat und daß mein Sohn nicht eingezogen wurde. Doch nur Gott, nur das Ganze
weiß, ob dies ein Segen oder ein Unglück ist.“
Hermann Hesse hat für dieser Parabel eine sehr schlichte Form gefunden:
Ein alter Mann mit Namen Chunglang, das heißt >Meister
Felsen<, besaß ein kleines Gut in den Bergen. Eines Tages begab es sich, daß
er eins von seinen Pferden verlor. Da kamen die Nachbarn, um ihm zu diesem
Unglück ihr Beileid zu bezeigen. Der Alte aber fragte: „Woher wollt ihr wissen,
daß es ein Unglück ist?“ Und siehe da: einige Tage darauf kam das Pferd wieder
und brachte ein ganzes Rudel Wildpferde mit. Wiederum erschienen die Nachbarn und
wollten ihm zu diesem Glücksfall ihre Glückwünsche bringen. Der Alte vom Berge
aber versetzte: „Woher wollt ihr wissen, daß es ein Glücksfall ist?“
Seit nun so viele Pferde zur Verfügung standen, begann der
Sohn des Alten eine Neigung zum Reiten zu fassen, und eines Tages brach er das
Bein. Da kamen sie wieder, die Nachbarn, um ihr Beileid zum Ausdruck zu
bringen. Und abermals sprach der Alte zu ihnen: „Woher wollt ihr wissen, daß
dies ein Unglücksfall ist?“
Im Jahr darauf erschien die Kommission der >Langen
Latten< in den Bergen, um kräftige Männer für den Stiefeldienst des Kaisers und
als Sänftenträger zu holen. Den Sohn des Alten, der noch immer seinen
Beinschaden hatte, nahmen sie nicht. Chunglang mußte lächeln.
*
Romano Guardini (1885-1968), deutscher katholischer Religionsphilosoph und Priester, in seiner Sammlung „Von heiligen Zeichen“: Die Asche.
Am Waldrand steht ein
Rittersporn. So eigenwillig gerundet seine dunkelgrünen Blätter. Fein biegsam
und fest geformt die schlanken Stängel. Die Blüte wie aus schwerer Seide
geschnitten, und eine Bläue hat sie, so edelsteinleuchtend, daß sie die ganze
Luft ringsumher erfüllt. Und nun käme einer, und bräche die Blume, und dann
würde er ihrer überdrüssig und würfe sie ins Feuer ... wenige Augenblicke, und
die ganze leuchtende Pracht wäre ein schmales Streifchen grauer Asche.
Was aber das Feuer
hier in kurzen Augenblicken getan, das tut die Zeit immerfort an allem, was
lebendig ist: am zierlichen Farn, an der hohen Königskerze, an der gewaltig
stehenden Eiche. Sie tut's am leichten Schmetterling wie an der raschen
Schwalbe. Am kleinflinken Eichkätzchen und am schweren Stier. Immer ist's das
gleiche, ob es nun rascher geht oder langsamer; mag's eine Wunde sein oder eine
Krankheit, Feuer oder Hunger oder was sonst: Einmal wird aus all dem blühenden
Leben Asche.
Aus der starken
Gestalt ein schütteres Häufchen Staub, das jeder Wind zerweht. Aus den
leuchtenden Farben grauliches Mehl. Aus dem warm schwellenden, fühlenden Leben
kärgliche, tote Erde; weniger als Erde: Asche.
So geht es auch uns.
Wie fröstelt uns, wenn wir in ein geöffnetes Grab schauen und sehen neben
einigen Gebeinen eine Handvoll grauer Asche.
„Denke daran,
Mensch:
Staub bist du,
Und zu Staub kehrst
du zurück!“
Vergänglichkeit, das
bedeutet die Asche. Unsere Vergänglichkeit; nicht die der anderen. Unsere;
meine! Mein Vergehen spricht sie mir, wenn der Priester am Beginn der
Fastenzeit mit der Asche der einst frisch grünenden Zweige vom vergangenen
Palmsonntag mir das Kreuz auf die Stirn schreibt:
Memento homo,
Quia pulvis es
Et in pulverum reverteris!”
Alles wird Asche.
Mein Haus, mein Gewand und Gerät und Geld; Acker, Wiese und Wald. Der Hund, der
mich begleitet, und das Tier im Stall. Die Hand, mit der ich schreibe, und das
lesende Auge und mein ganzer Leib. Die Menschen, die ich geliebt; und die
Menschen, die ich gehaßt; und die Menschen, die ich gefürchtet habe. Was mir
auf Erden groß erschienen und was klein, und was verächtlich, alles Asche,
alles ...
(Gelesen am
Urnengrab der Mama.)
*
Autor unbekannt: Zwei Wölfe.
Ein alter Indianer saß mit seinem Enkelsohn am Lagerfeuer. Es war schon dunkel geworden und das Feuer knackte, während die Flammen in den Himmel züngelten. Der Alte sagte nach einer Weile des Schweigens: „Weißt du, wie ich mich manchmal fühle? Es ist, als ob da zwei Wölfe in meinem Herzen miteinander kämpfen. Der eine ist rachsüchtig, aggressiv und grausam. Der andere hingegen liebevoll, sanft und mitfühlend.“ – „Welcher der beiden wird den Kampf um dein Herz gewinnen?“, fragte der Junge. – „Der Wolf, den ich füttere“, antwortete der Alte.
*
Aurelia Spendel: Zeitfenster, 15.02.2016.
Wenn ein Mensch geradezu ‚kinderleicht‘ eine
Sprache oder das Lesen lernen soll, steht in seiner Entwicklung dafür nur ein
schmales Zeitfenster zur Verfügung. Genauso wie bei dramatischen Ereignissen,
zum Beispiel einem Schlaganfall, nur ein kleines Zeitkontingent für die
unkomplizierte Genesung des Betroffenen zur Verfügung steht. Wird es nicht
genutzt oder kann es nicht gefüllt werden, sind Lesen lernen oder Genesen viel
schwieriger, wenn nicht sogar unmöglich.
Doch nicht nur für die außergewöhnlichen oder einmaligen Dinge des Lebens gibt
es Zeitfenster, die ideale Bedingungen bieten. Jeder Tag hat ein spezifisches,
ein ganz persönliches Zeitfenster für jeden und jede von uns. Heute gilt es zu
tun, was nur heute getan werden kann. Vielleicht ist es eine schon länger
ausstehende Bitte um Vergebung, vielleicht ein klares Wort, das endlich gesagt
werden will. Vielleicht kann nur heute diese oder jene Entscheidung gefällt
werden, die aus Fremden Freunde werden läßt, statt sie zu Feinden zu machen.
Vielleicht kann ein Mensch nur heute über seinen Schatten springen, der ihn
oder andere schon so lange verfolgt. Die persönlichen Zeitfenster unserer
kleinen Welten sind genauso einmalig und unwiderruflich wie die in der großen
Politik, sind ebenso chancenreich und anspruchsvoll, wie sie zugleich schlicht
und einfach sind.
Wenn es mir schwerfällt, das Zeitfenster für
diesen Tag zu erkennen und zu nutzen, lasse ich mich von Papst Johannes XXIII
motivieren, der seine 10 Gebote der Gelassenheit einleitet mit immer dem gleichen
Satzanfang: „Nur für heute…“. Nur für heute sage ich mir also: „Öffne das
Fenster. Schau über dies und jenes hinweg in die Weite und sieh genau hin.
Nutze den Zeitrahmen, der sich dir öffnet und laß das gute Leben ein. Es wird
gehen. – Auch heute.“
*
(Diese
Kurzgeschichte wurde von einem unbekannten Autor in Anlehnung an Heinrich Bölls
„Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ aus dem Jahre 1963 verfaßt:)
Ein
Investmentbanker stand in einem kleinen mexikanischen Fischerdorf am Pier und
beobachtete, wie ein kleines Fischerboot mit einem Fischer an Bord anlegte; er
hatte einige große Thunfische geladen. Der Banker gratulierte dem Mexikaner zu
seinem prächtigen Fang und fragte, wie lange er dazu gebraucht habe. Der
Mexikaner antwortete: „Ein paar Stunden nur. Nicht lange.“ Daraufhin fragte der
Banker, warum er denn nicht länger auf See geblieben sei, um noch mehr zu
fangen. Der Mexikaner sagte, diese Fische reichten ihm, um seine Familie die
nächsten Tage zu versorgen. Der Banker wiederum fragte: „Aber was tun Sie denn
mit dem Rest des Tages?“ Darauf der Fischer: „Ich schlafe morgens aus, gehe ein
bißchen fischen; spiele mit meinen Kindern, mache mit meiner Frau Maria nach
dem Mittagessen eine Siesta, gehe ins Dorf spazieren, trinke dort ein Gläschen
Wein und spiele Gitarre mit meinen Freunden. Sie sehen, ich habe ein
ausgefülltes Leben.“ Der Banker erklärte:
„Ich bin ein Harvardabsolvent und könnte Ihnen ein bißchen helfen. Sie sollten
mehr Zeit mit Fischen verbringen und von dem Erlös ein größeres Boot kaufen.
Dann könnten Sie mehrere Boote kaufen, bis Sie eine ganze Flotte haben. Statt
den Fang an einen Händler zu verkaufen, könnten Sie direkt an eine Fischfabrik
verkaufen oder schließlich sogar eine eigene Fischverarbeitungsfabrik eröffnen.
Sie könnten Produktion, Verarbeitung und Vertrieb selbst kontrollieren. Dann könnten
Sie dieses kleine Fischerdorf verlassen und nach Mexiko City oder Los Angeles
oder sogar nach New York City umziehen, von wo aus Sie dann Ihr florierendes
Unternehmen leiten.“
Der Mexikaner fragte: „Und wie lange wird dies alles dauern?“ Der Banker antwortete: „So etwa 15 bis 20 Jahre.“ Der Mexikaner fragte: „Und was dann?“ Der Banker lachte und sagte: „Dann kommt das Beste. Wenn die Zeit reif ist, könnten Sie mit Ihrem Unternehmen an die Börse gehen, Ihre Unternehmensteile verkaufen und sehr reich werden. Sie könnten Millionen verdienen.“ Der Mexikaner sagte: „Millionen? – Und dann?“ Der Banker erwiderte: „Dann könnten Sie aufhören zu arbeiten. Sie könnten in ein kleines Fischerdorf an der Küste ziehen, morgens lange ausschlafen, ein bißchen fischen gehen, mit Ihren Kindern spielen, eine Siesta mit Ihrer Frau machen, in das Dorf spazieren, am Abend ein Gläschen Wein genießen und mit Ihren Freunden Gitarre spielen.“ Der Mexikaner lächelte und antwortete leise: „Aber das tue ich doch schon jetzt ...“
*
Jeder Mensch stellt sich die Frage: Was ist wirklich Liebe? Denn das Glück jedes Menschen hängt an der Liebe, die er kennt, die er sucht, die er erlebt und erfährt. – Suche die Liebe nicht dort, wo sie als Sex zur Schau gestellt wird, wo sie die Fingerabdrücke gewissenloser Geschäftsleute trägt. Sie haben die Liebe wie einen Diamanten in die Kloake geworfen. Echte Liebe hat mit Gabe und Hingabe zu tun. Sie hat ihre Freude daran, einander gegeben zu sein, ein Herz füreinander zu haben. Sie hat mit Zärtlichkeit zu tun, mit Freundlichkeit und Vergebungsbereitschaft. Sie hält Abstand zu Macht, Gewalt und Besitz, ja sie vermag Abstand zu nehmen von sich selbst. Vor zweitausend Jahren schrieb ein gewisser Paulus – vor allem durch die Christen gut bekannt – die Magna Charta der Liebe, die auch heute noch aktuell ist. Wenn Du wissen willst, wie viel Du von dieser Liebe besitzt, dann brauchst Du nur für das Wörtchen Liebe Deinen eigenen Namen einzusetzen. Da heißt es: „Die Liebe sucht überall das Gute. Die Liebe ist nicht neidisch. Die Liebe bildet sich nichts ein. Die Liebe sucht nicht sich selbst. Die Liebe läßt sich nicht verbittern und rechnet das Böse nicht an. Die Liebe hat keine Freude an den Fehlern anderer. Sie freut sich am Guten, das getan wird. Sie erträgt alles. Sie glaubt alles. Sie hofft alles. Sie duldet alles.“ Glaub mir, dies ist die einzige Liebe, die Bestand hat. Diese Liebe geht niemals in die Brüche. – Mit herzlichen Grüßen und Gottes Segen.
*
Russisches Gleichnis.
Ein Rabbi bat Gott einmal darum, den Himmel und die Hölle sehen zu dürfen. Gott erlaubte es ihm und gab ihm den Propheten Elia als Führer mit. Elia führte den Rabbi zuerst in einen großen Raum, in dessen Mitte auf einem Feuer ein Topf mit einem köstlichen Gericht stand. Rundum saßen Leute mit einem langen Löffel und schöpften alle aus dem Topf. Aber die Leute sahen blaß, mager und elend aus. Denn die Stiele ihrer Löffel waren viel zu lang, als daß sie das herrliche Essen in den Mund bringen konnten. Als die Besucher wieder draußen waren, fragte der Rabbi den Propheten, welch ein seltsamer Ort das gewesen sei. Es war die Hölle. Daraufhin führte Elia den Rabbi in einen zweiten Raum, der genau aussah wie der erste. In der Mitte des Raumes brannte ein Feuer, auch dort kochte ein köstliches Essen. Leute saßen ringsum mit langen Löffeln in der Hand. Aber sie waren alle gut genährt, gesund und glücklich. Sie versuchten nicht, sich selbst zu füttern, sondern benutzten die langen Löffel, um sich gegenseitig zu essen zu geben. Dieser Raum war der Himmel!
*
Das Wiesel und der Löwe oder: Warum die Weisheit über der Wahrheit steht.
Dem Löwen war ein Junges entlaufen, und er
befürchtete, daß es einem anderen Raubtier zum Opfer gefallen ist. Da kam das
Wiesel gelaufen und sagte dem Löwen: Dein Junges wurde gefunden; es ist wohlauf
und wird noch heute von der Hyäne zurückgebracht. Über die frohe Nachricht
geriet der Löwe außer sich und soff sich einen gewaltigen Rausch an. Als er so
voll war, daß er nicht mehr auf den Beinen stehen konnte und unanständige
Lieder zu singen begann, brachte die Hyäne das Löwenjunge, es war aber schon tot.
In seinem Rausch brauchte der Löwe einige Zeit, bis er
das begriffen hatte. Na warte! drohte er jetzt dem Wiesel: wenn ich wieder auf
den Beinen bin, sollst du die Lüge büßen.
Die Lüge hat Dich, entgegnete das Wiesel, in einen
Zustand versetzt, in dem Du die Wahrheit ertragen konntest; was soll ich da
büßen?
Als der Löwe wieder nüchtern war, sagte er zu dem
Wiesel: Du warst nicht nur klug, du warst auch mutig. Hätte ich die Wahrheit
erfahren, als ich noch einigermaßen nüchtern war, es wäre um Dich geschehen gewesen.
*
Der Sprung in der Schüssel – eine alte chinesische Weisheit.
Es war einmal
eine alte chinesische Frau, die zwei große Schüsseln hatte, die von den Enden
einer Stange hingen, die sie über ihren Schultern trug. Eine der Schüsseln hatte
einen Sprung, während die andere makellos war und stets eine volle Portion Wasser
faßte. Am Ende der langen Wanderung vom Fluß zum Haus der alten Frau war die
andere Schüssel jedoch immer nur noch halb voll. Zwei Jahre lang geschah dies
täglich: Die alte Frau brachte immer nur anderthalb Schüsseln Wasser mit nach
Hause. Die makellose Schüssel war natürlich sehr stolz auf ihre Leistung, aber
die arme Schüssel mit dem Sprung schämte sich wegen ihres Makels und war
betrübt, weil sie nur die Hälfte dessen verrichten konnte, wofür sie gemacht
worden war. Nach zwei Jahren, die ihr wie ein endloses Versagen vorkamen,
sprach die Schüssel zu der alten Frau: „Ich schäme mich so wegen meines
Sprungs, aus dem den ganzen langen Weg zu deinem Haus immer Wasser herausläuft.“
Die alte Frau
lächelte. „Ist dir aufgefallen, daß auf deiner Seite des Weges Blumen blühen,
aber auf der Seite der anderen Schüssel nicht? Ich habe auf deiner Seite des
Pfades Blumensamen gesät, weil ich mir deines Fehlers bewußt war. Nun gießt du
sie jeden Tag, wenn wir nach Hause laufen. Zwei Jahre lang konnte ich diese
wunderschönen Blumen pflücken und den Tisch damit schmücken. Wenn du nicht
genauso wärst, wie du bist, würde diese Schönheit nicht existieren und unser
Haus beehren.“
Jeder von uns
hat doch seine ganz eigenen Macken und Fehler, aber es sind die Macken und
Sprünge, die unser Leben so interessant und lohnenswert machen. Man sollte jeden
Menschen einfach so nehmen, wie er ist und das Gute in ihm sehen.
An alle also,
mit einem Sprung in der Schüssel: Habt einen wundervollen Tag und vergeßt
nicht, euch an den Blumen auf eurer Seite des Pfades zu freuen!
*
Khalil Gibran (1883-1931), libanesisch-amerikanischer Maler, Dichter und Philosoph: Von den Kindern.
Eure
Kinder sind nicht eure Kinder.
Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber.
Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,
Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.
Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken,
Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben, aber nicht ihren Seelen,
Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen, das ihr nicht besuchen könnt, nicht
einmal in euren Träumen.
Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein, aber versucht nicht, sie euch ähnlich
zu machen.
Denn das Leben läuft nicht rückwärts, noch verweilt es im Gestern.
Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt
werden.
Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit,
und Er spannt euch mit Seiner Macht, damit seine Pfeile schnell und weit
fliegen.
Laßt euren Bogen von der Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein;
Denn so wie Er den Pfeil liebt, der fliegt, so liebt er auch den Bogen, der
fest ist.
*
Autor unbekannt: Das Besondere, das Du bist.
Eines Tages bat eine Lehrerin ihre Schüler, die Namen aller
anderen Schüler der Klasse auf ein Blatt Papier zu schreiben und ein wenig
Platz neben den Namen zu lassen. Dann sagte sie zu den Schülern, sie sollten
überlegen, was das Netteste ist, das sie über jeden ihrer Klassenkameraden
sagen können und das sollten sie neben die Namen schreiben. Es dauerte die
ganze Stunde, bis jeder fertig war und bevor sie den Klassenraum verließen,
gaben sie ihre Blätter der Lehrerin. Am Wochenende schrieb die Lehrerin jeden
Schülernamen auf ein Blatt Papier und daneben die Liste der netten Bemerkungen,
die ihre Mitschüler über den Einzelnen aufgeschrieben hatten. Am Montag gab sie
jedem Schüler seine oder ihre Liste. Schon nach kurzer Zeit lächelten alle. „Wirklich?“,
hörte man flüstern. „Ich wußte gar nicht, daß ich irgendjemandem was bedeute!“
und „Ich wußte nicht, daß mich andere so mögen“, waren die Kommentare.
Niemand erwähnte danach die Listen wieder. Die Lehrerin wußte nicht, ob die
Schüler sie untereinander oder mit ihren Eltern diskutiert hatten, aber das machte
nichts. Die Übung hatte ihren Zweck erfüllt. Die Schüler waren glücklich mit
sich und mit den anderen.
Einige Jahre später war einer der Schüler gestorben und die
Lehrerin ging zum Begräbnis dieses Schülers. Die Kirche war überfüllt mit
vielen Freunden. Einer nach dem anderen ging am Sarg vorbei und erwies ihm die
letzte Ehre. Die Lehrerin ging zuletzt und betete vor dem Sarg. Als sie dort
stand, sagte einer der Anwesenden, die den Sarg trugen, zu ihr: „Waren Sie
Marks Mathelehrerin?“ Sie nickte: „Ja“. Dann sagte er: „Mark hat sehr oft von
Ihnen gesprochen.“ Nach dem Begräbnis waren die meisten von Marks früheren
Schulfreunden versammelt. Marks Eltern waren auch da und sie warteten offenbar
sehnsüchtig darauf, mit der Lehrerin zu sprechen. „Wir wollen Ihnen etwas
zeigen“, sagte der Vater und zog eine Geldbörse aus seiner Tasche. „Das wurde
gefunden, als Mark verunglückt ist. Wir dachten, Sie würden es erkennen.“ Aus
der Geldbörse zog er ein stark abgenutztes Blatt, das offensichtlich zusammengeklebt,
viele Male gefaltet und auseinandergefaltet worden war. Ohne hinzusehen, wußte
die Lehrerin sofort, daß dies eines der Blätter war, auf denen die netten Dinge
standen, die seine Klassenkameraden über Mark geschrieben hatten. „Wir möchten
Ihnen so sehr dafür danken“, sagte Marks Mutter. „Wie Sie sehen können, hat
Mark das sehr geschätzt.“ Alle früheren Schüler versammelten sich um die Lehrerin.
Charlie lächelte und sagte: „Ich habe meine Liste auch noch. Sie ist in der
obersten Schublade in meinem Schreibtisch“. Die Frau von Heinz sagte: „Heinz
bat mich, die Liste in unser Hochzeitsalbum zu kleben.“ „Ich habe meine auch
noch“, sagte Monika. Sie ist in meinem Tagebuch.“ Dann griff Irene, eine andere
Mitschülerin, in ihren Taschenkalender und zeigte ihre abgegriffene und ausgefranste
Liste den anderen. „Ich trage sie immer bei mir. Ich glaube, wir alle haben die
Listen aufbewahrt.“ Die Lehrerin war so gerührt, daß sie sich setzen und weinen
mußte. Sie weinte um Mark und für alle seine Freunde, die ihn nie mehr sehen
würden.
Im Zusammenleben mit unseren Mitmenschen vergessen wir oft,
daß jedes Leben endet und daß wir nicht wissen, wann dieser Tag sein wird. Deshalb
sollte man den Menschen, die man liebt und um die man sich sorgt, sagen, daß
sie etwas Besonderes und Wichtiges für uns sind. – Sagt es ihnen, bevor es zu
spät ist. Tun wir es nicht, so haben wir eine Gelegenheit verpaßt, die vielleicht
nie wiederkehrt. Wie sehr freuen wir uns doch selbst, etwas Nettes und Schönes über
uns zu hören. Jemandem etwas zu bedeuten macht uns stark und strahlend. Denkt daran,
ihr erntet, was ihr sät. Was man in das Leben der anderen einbringt, kommt ins
eigene zurück. – Dieser Tag soll ein gesegneter Tag sein und ebenso so schön,
wie Du selbst!
*
Autor: Legende von der Ewigkeit – Geschichte der Menschheit.
Hoch oben im Norden, im Lande Svithjord, steht ein Felsen. Er ist hundert Meilen hoch und hundert Meilen breit. Einmal alle tausend Jahre kommt ein Vögelchen geflogen und wetzt seinen Schnabel an diesem Felsen. Wenn der Felsen abgewetzt ist, dann ist ein einziger Tag der Ewigkeit vergangen.