Zur Vorstellung des Bandes von Steffen Dietzsch und Wilfried Lehrke, Geheimes Deutschland (Edition Philosophie-im-Elfenbeinturm 2013), Lindau Ev. Hospitalstiftung, Samstag, 7. Dez. 2013. Referent: Steffen Dietzsch
Ohne die Spaltkraft der Poesie –
Was ist da Wirklichkeit?
René Char*
„Der Begriff ‚deutsch’, meine Damen und Herren, ist ein Abgrund, bodenlos …“[i] – das musste sich schon Thomas Mann eingestehen (1918, in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen).
Deutschland zu verstehen, das ist wohl so etwas wie ein – intellektueller – ‚Ritt über den Bodensee’, aber eben, anders als in Gustav Schwabs Ballade (von 1828), diesmal wissend, was für ein Abgrund unter diesem Unternehmen lauert …
Aber hier – am See – ist dennoch ein guter Ort, die Frage nach Deutschland zu stellen. Denn hier ist etwas vom Deutschen sozusagen atmosphärisch spürbar, – nämlich, was man das Offne & Weite, das Ausgreifende, das Grenzenüberwindende in uns nennen könnte.
So wie es August von Platen in die Verse gebracht hat (als er vom See schrieb):
»Schwelle die Segel, günstiger Wind!
Trage mein Schiff an das Ufer der Ferne, –
…Wenn ich auch hier im Entzücken verweile,
[nach]Drüben knüpfen mich liebende Seile – …
Schwelle die Segel, günstiger Wind!«[ii]
Wenn man dann also die Alpen noch vor sich, oder (heimwärts) sie gerade überwunden hat, beide Male den Süden im Herzen, da wird man hier am See des Paradoxen des Deutschen inne, nämlich mit einer Sehnsucht nach dem Fernen zum Bleiben verführt zu sein.
Der See war auch die letzte Passage von Stefan George (dessen achtzigsten Todestag wir dieser Woche gedachten, am Mi., d. 4. XII.). – Im späten August 1933 verließ er von Wasserburg aus, von Villa Göggel (Uferstr. 18; heute: Haus Gerster) das Reich, das als das Dritte wollte gelten können.
Georges Gefühle für Deutschlands jetzt, beim Verlassen des beginnenden ‚Dritten Reichs’, waren wohl dieselben, wie schon am Ende des ‚Zweiten Reichs’. George schrieb 1918 in einem Brief an Edith Landmann: „Alles Negative, was Nietzsche in Ecce homo über Deutschland gesagt [ … ] immer noch gültig.“
*
Im folgenden möchten wir das Thema ‚Deutschland-verstehen’ mit drei Stichworten erläutern:
I
Die Deutschen, meine Damen und Herren, „selten heimisch bei sich“[iii], wie sie Stefan George wahrnahm, sollten durch sein Gedicht Geheimes Deutschland wieder zu einem neuen Selbstverständnis kommen können.
Schon seit der Goethezeit – und in dieser Spannung müssen wir George sehen, wenn wir ihn begreifen wollen – also seit unserer jüngeren Geschichte sollten wir Deutsche diese Agenda beherzigen (die uns Schiller einmal aufgab, als er schrieb):
»Das ist nicht des Deutschen Größe,
obzusiegen mit dem Schwert.
In das Geisterreich zu dringen,
Vorurteile zu bezwingen,
männlich mit dem Wahn zu ringen,
Das ist seines Eifers wert«[iv]
Das Geheime Deutschland nun, eine Dichtung aus Georges späten Tagen (von 1928), bringt uns Deutschen, wie seit Hölderlin lange nicht mehr, das ins Bewusstsein, was des Deutschen Selbstbild und Grund sein könnte.
Vom Geheimen Deutschland spricht der George-Kreis seit 1910. Es war Karl Wolfskehl, der diese Wendung in den „Jahrbüchern für die geistige Bewegung“ öffentlich gemacht hatte. Von Anfang an musste sie gegen die Kontamination mit dem Patriotismus und Nationalismus geschützt werden.
Gegen ihre Einvernahme im Dienst deutsch-nationaler Massenbewegung, besonders im Ersten Weltkrieg, hat sich aus dem George-Kreis vor allem der Hölderlin-Herausgeber Norbert v. Hellingrath verdient gemacht (er dann auch ein Opfer des Krieges, im Dez. 1916 vor Verdun).
In seiner Rede „Hölderlin und die Deutschen“ nennt er die Deutschen anspruchsvoll das „‚Volk Hölderlins’, weil es zutiefst im deutschen Wesen liegt, dass sein innerster Glutkern unendlich weit unter der Schlackenkruste ... nur in einem geheimen Deutschland zutage tritt.“[v] – Das war uns Deutschen (mitten im Großen Krieg) ins Stammbuch geschrieben …
Die poetische Botschaft des Geheimen Deutschland war dann inmitten des Triumphs der Nationalpolitik in Europa ein anti-politischer Entwurf von europäischer Einheit in Freiheit, im Geist und in der Zeit. Es verstand sich als konsequente Überwindung der falschen Morgenröte des Nationalismus (Thomas Mann, 1931).
a.
Die Entstehungsgeschichte jenes Textes vom Geheimen Deutschland hängt aber mit Georges Weg der Dichtung überhaupt zusammen, der sich zu einem bestimmten Zeitpunkt, nämlich um 1900, tatsächlich auch mit der politischen Situation der Zeit überkreuzt. Wenn sich George hier für den Ausdruck geheim entscheidet, dann eben als Gegenentwurf zu ‚öffentlich’ bzw. ‚offiziell’. Das ‚geheime’ Deutschland ist immer dem Institutionellen, ‚Staatlichen’ entgegengesetzt – und das war um 1900 für George das ‚zweite’ Reich, das Bismarck-Reich.
Das Geheime Deutschland ist in diesem Sinne zu begreifen als Warnruf, als übernationaler, ja als europäischer Warnruf.
Ein Ruf allerdings, der sich nicht bloß gegen politische Partikularitäten (preußisch-deutscher Provienenz) richtet, sondern gegen den die alteuropäische Kultur ruinierenden Vomarsch einer industriell-imperialen Moderne überhaupt. Sie hätte, so die Vermutung, augenfällig Verwahrlosung von Erde, Geist und Politik im Gefolge. Das, was Max Weber (auch nach dem Großen Krieg) die Entzauberung der Welt nannte, ist der eigentliche Hintergrund jenes Gedichts von George.
Damit wendet sich George gegen die, die – wirklich oder vermeintlich – in ihrer Zeit imperial dominieren oder sich national für repräsentativ halten. Gegen diese Deutschen und deren ‚Deutschland’ hat George seine Kritik an den politischen deutschen Verhältnissen ausgesprochen, währenddessen er der Auffassung war, dass die Deutschen ein zutiefst leidendes Volk in ihrer Geschichte gewesen sind.
Das meint nicht nur die religiöse Spaltung, die auf deutschen Boden durch die Reformation entstand – mönchezank (Stefan George) – und die anschließenden provinzialisierenden Glaubenskriege. Auf diesem Wege ist den Deutschen dann jeglicher europäische Gedanke ausgetrieben worden, und um 1900 war sozusagen ein nationalpolitischer Höhepunkt in dieser Fehlentwicklung erreicht. Das preußisch-deutsche Reich, der mit Bismarcks Name verbundene Nationalstaat militärisch-industrieller Prägung wurde mit Attributen einer großen Reichs-Vergangenheit geschmückt, die zum bloßen Reliquien- und Devotionalienkult verkamen.
Was einmal geschichtliche Wahrheit war, das universelle Kaisertum des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, geriet zur politischen Lebenslüge und zur „Auto-idolâtrie“[vi]im sich-selber-verstehen als Deutsche. Deren zeitgenössisch expansiver Nationalismus war als völkischer Versuch zu identifizieren, „sein Wesen zum Gott zu erheben, und zwar nicht allein zum Gott für das eigene Volk, sondern womöglich für alle Völker.“[vii]
Und so war es doch durchaus konsequent, dass George, wie man ihm – postum – abrechnend vorhielt, „seit 1910 aus der nationalen Überlieferung ausbrach.“[viii]
George wollte den Bismarckstaat also im Namen eines ‚Geheimen Deutschland’ spirituell rekultivieren. Das war natürlich schon eine existentielle Zumutung, der sich George damit stellt. Im Gedicht Geheimes Deutschland schlägt sich das schon in den Eröffnungsversen nieder:
»Reiss mich an deinen rand
Abgrund – Doch wirre mich nicht!«
Insgesamt war es Georges Bestreben, Deutschland wieder aus seiner alten übernationalen Reichsidee heraus begreifbar zu machen, die alle auf seinem Geschichtsboden entstandenen Überlieferungen von Antike, Christentum und Humanismus bis hin zur Klassik in sich schloss.
»Nur was im schützenden schlaf
Wo noch kein taster es spürt
Lang in tiefinnerstem schacht
Weihlicher erde noch ruht –
Von dorther erst versteht es sich als:
Wunder undeutbar für heut
Geschick wird des kommenden tages.«
(Abschluß Vers 19)
Die Idee vom Geheimen Deutschland begegnet uns dann ein letztes Mal wieder in einer dramatischen deutschen Stunde, als tragischer Hoffnungsruf am Ende jenes (Großdeutschen) NS-‚Gegenreichs’. Als Stauffenberg im Bendlerblock füsiliert wurde (am Abend des 20. Juli 1944), da war von ihm als sein letztes Wort zu hören:
Es lebe das Geheime Deutschland!
b
Worin liegt die spirituelle Aurajener poetischen Formel vom ‚Geheimen Deutschland’? Wohl darin, dass der Dichter Verborgenes zur Sprache bringt, und, dass er zugleich etwas Paradoxes macht: er vertieft und schärft durch den Klang seiner Verse unsere unmittelbare Sensibilität und Anschauung, – aber eben um das Geheimnis der Überlieferung und des Herkommens zu wahren.
Im Gedicht nämlich, das hat er exemplarisch bei Hölderlin und Mallarmé gelernt, wurde es für George offensichtlich, dass “erfahrung hinfällig und überflüssig ist für den der mit göttern und mächten im bunde steht.“[ix] – Denn der Lyriker kann auf die performative Kraft des wortes vertrauen, – mit der Perspektive: „Kein ding sei wo das wort gebricht.“[x] Das aber weist uns ins Zentrum von Georges Poetik, nämlich das „George eben von der Bildwerdung der Dinge um ihn und in ihm ausging.“[xi]
Und das ist es schließlich, dass George insgesamt „einen neuen Sprachzauber fand, dass er Gewalt hatte, in das deutsche Wort ursprüngliche Schöpfungsmächte … zu bannen, wie niemand seit Hölderlin.“[xii]
Darin besteht der Schlüssel zum Verständnis des Gedichts Geheimes Deutschland. Gerade das aber hat das Gedicht dem politischen Traktat, aber auch der wissenschaftlichen Deduktion voraus!
II.
Der deutsche Geist – sozusagen das L’Allemagne èternelle – stand immer in der (bisweilen auch tragisch selber unbegriffenen) Spannung nationaler Selbsttranszendenz. Wie unverstanden (und missdeutet) diese spirituelle Basis des ‚Deutschseins’ gerade zwischen den Kriegen war, davon zeugt eine Erinnerung des polnischen PEN-Mitgliedes Jaroslaw Iwaszkiewicz, der in seinen Erinnerungen (um 1925) schrieb: „Der mystische Ghibellinismus, die Grundlage des deutschen Denkens und auch entscheidend für die neuere europäischer Geschichte, war für mich ein Buch mit sieben Siegeln.“[xiii]
Gerade das aber war doch der geistige Hintergrund des Geheimen Deutschland, den Karl Wolfskehl in die Verse brachte:
»Und zum wahrsten Gibellinen
Friedrich, aller Kronen Kron,
Eilten, Guts und Bluts zu dienen,
Jude, Christ und Wüstensohn.«[xiv]
Das Reich (und der Kaiser) der Hohenstaufer Friedrich II. ist also die historische Referenzgestalt des Geheimen Deutschland. Dies wurde der deutschen Öffentlichkeit namentlich von Ernst Kantorowicz mit seinem Werk über Kaiser Friedrich der Zweite (Verlag Helmut Küpper vormals Georg Bondi. Düsseldorf u. München 1927) zusammenfassend vermittelt; dieser Band erschien bis 1936 in vier Auflagen. Und das Geheime Deutschland war dann auch das Thema der Antrittsvorlesung von Ernst Kantorowicz, am 14. November 1933 in Frankfurt/M.
Im Frühjahr 1924 reisten einige Mitglieder des George-Kreises (dabei waren auch die seit dem Vorjahr zum Kreis gehörenden Stauffenberg-Brüdern) nach Italien. In Palermo besuchen sie den Palazzo Reale, wo der Hohenstaufer Friedrich II. – der „erste Europäer nach meinem Geschmack“[xv] – seine Kindheit verbrachte, und den Dom, wo er nach langer, turbulenter Regierungszeit seine letzte Ruhestätte fand. Hier legten sie, wahrscheinlich einer Inspiration Ernst Kantorowicz’s oder Friedrich Wolters folgend, einen Kranz nieder mit der Inschrift
Seinen Kaisern und Helden
Das Geheime Deutschland.
a.
Was heißt das fürs Begreifen des Deutschen? Überraschend für Viele war es eben, dass man das Lebendige am Deutschen nicht im Gepränge politischer, technologischer oder imperialer Symbolik zu erwarten habe, sondern sich im Leisen poetischer Gedanken offenbare. So etwa, wenn es vom ‚Geheimen Deutschland’ heißt, es sei zu verstehen als
»Ihr lezt geheimnis .. sie wandten
Stoffes gesetze und schufen
Neuen raum in den raum …«
Deutsch-sein wird von nun an nicht mehr so sehr national-politisch abgrenzend, limitierend, als ‚völkisches’ Attribut, verstanden, sondern jetzt gewissermaßen ‚katalytisch’, als etwas Synthetisches, mit dem Erweiterungen, Kreationen, Gründungen, Verschmelzungen (denkerisch, künstlerisch, religiös, politisch) nach allen Seiten hin als Vernünftiges, Zumutbares, Ausgewogenes praktisch werden können.
Dem Deutschen kommt man vermutlich nur mit einer gewissermaßen kantianischen Denkoperation auf die Spur, um ihn neu zu bestimmen als citoyen du monde, d. h., „nicht Weltbeschauer, sondern Weltbürger sein.“[xvi]
Zur seelischen Ausstattung des Deutschen gehören also dessen integrative Potenzen als etwas Besonderes seines Nationalcharakters. Wir Deutsche hätten die Eigenart, so sagte es einmal Karl Wolfskehl – der engste Freund Stefan Georges –, dass „wir wieder und wieder fremdes Seelengut zu dem unsern zu machen, [in] uns einzuschmelzen“[xvii] geneigt seien.
Das heißt: Deutschland wollte sich nie abgrenzend oder exklusiv verstehen als beispielsweise Christus der Nationen (wie Polen), oder als Grand Nation (wie Frankreich), weder als imperiales Commonwealth noch als ein auf sich selbst bezogenes Reich der Mitte.
Oder, wieder mit der Modernität der Weimarer Klassik gesagt:
»Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es,
Deutsche, vergebens:
Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen
euch aus.«[xviii]
III
Das Geheime Deutschland ist – im mythenfernen Deutschland von heute – dennoch eine symbolische Form für das Offenbarwerden seiner europäischen Herkunft. – Das ist allerdings nicht einfach aus seinen empirisch-historischen Verläufen abzulesen.
Denn: dass Deutschland ein unfertiges, ja zweigeteiltes Land sei, und zwar genuin, dass war manchen unserer romanischen Nachbarn lange schon offensichtlich, und zwar schon zu Zeiten augenfällig politischer Einheit (vor dem Großen Krieg).
So hörte man aus dem Deutschland so sehr verbundenen spanischen Schriftstellerkreis um Ortega y Gasset[xix], Deutschland habe „im Gesamtverlauf seiner Geschichte die Unfähigkeit bewiesen, eine kulturelle Einheit zu bilden“[xx], und es sei kennzeichnend für die Fragilität der politischer Kultur der Deutschen, dass sie der „sozialen Widersprüche und Disharmonien nicht gewahr“ werden und eben niemals „vor Durst nach Einigkeit verschmachten.“[xxi] - Auch in Frankreich gab es solche Wahrnehmung, so bei dem Schriftsteller Marcel Prévost 1906 in seiner Satire Monsieur et Madame Moloch.[xxii] Hier wird beklagt, dass es „noch heute zwei Deutschland, ein Deutschland des Gedanken und eins der Gewalt“[xxiii] gäbe.
Hier wird ein Grundparadox des Deutschen wahrgenommen, in dem ein ideales, unsichtbares – Geheimes – Deutschland mit integrativen Potenzen und ein reales – machtbewußtes – miteinander in einer hyperbolischen Dynamik verbunden bleibt …
Wir erinnern uns bei dieser spannungsvollen Seelenlage an die Klage aus dem Hyperion, an die Wendung: “Ich kann kein Volk mir denken, dass zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen.“[xxiv]
Damit war zweifellos eine problematische, dunkle, empirische Dimension in unserer deutschen Seelenlage angesprochen. Wem wäre das nicht mehr aufgefallen als gerade immer wieder den Deutschen selber – neben dem schon gehörten Hölderlin wäre hier auch – ein Säkulum später – auf einen exemplarischen Deutschen wie Friedrich Nietzsche zu verweisen.
a
Das Geheime Deutschland hat sich dagegen von allem Anfang an um europäische Auswege aus nationalen oder mentalen Sackgassen bemüht. Diese Perspektive – Europa – war seither niemals selbstverständlich. Aber, so die Hoffnung schon in den Dreissiger Jahren: „Für die Europäer bricht jetzt die Zeit an, da Europa zu einer Nationalidee werden kann. […] Je treuer der Nationalstaat des Abendlandes seinem wahren Wesen bleibt, um so geradliniger wird er sich zu einem gewaltigen Kontinentalstaat entwickeln.“[xxv] Das ist uns Deutschen von außen her gesagt worden, – von Don José Ortega y Gasset, einem Zeitgenossen Georges, der, wie er exemplarisch, mit Leib und Seele Europäer war. Und einer, der Deutschland fast seine ganze geistige Existenz verdankt. Europa lag ihm, nach eigener Bekundung, viel näher als alles Nationale.
Jede Nation, so forderte er, müsse aus ihrem tibetanischen (National-)Schlaf aufgeweckt werden, um – wenn sie überleben wolle – den Weg nach Europa zu beschreiten.
George hat diese europäische Perspektive in seinem letzten Gedichtband, in einem Vers über Goethe in Italien so ausgedrückt
»Dort an dem römischen Walle • der grenze des Reichs •
Sah ich in ahnung mein heimliches muttergefild.«[xxvi]
Dass dieser Weg praktisch-politisch bis heute aber eher im Dunklen liegt, sollte kein Anlaß zur Resignation sein, sondern vielmehr unsere kognitive Phantasie schärfen.
Es gehört eben die Idee dessen, was Deutschland jenseits bloßer historisch-politischer Zeit-und Geschichtslagen sein sollte, zu den überempirischen Prinzipien, die uns über alle durchlittenen Schiffbrüche hinweg – wenn auch oft genug nur im Klandestinen – immer auch Denkräume für das Tiefste offen gehalten haben. – Philosophisch erwächst daraus die Denkaufgabe: Sein Europäisches ist nicht in historischer Mimesis, sondern in immerwährender Poiesis [ποιἑω] zu gewinnen. Also nicht als Nachahmung eines Gewesenen, sondern im Entwerfen einer, mit Goethes Urworten-Orphisch gesagt, ‚Geprägten Form, die lebend sich entwickelt’.
*
Um am Ende noch einmal auf den Bodensee zurückzukommen: – als auch Thomas Mann Deutschland in Richtung Schweiz verlassen hatte, schrieb er aus Küsnacht an seinen vertrauten Freund, den verlorenen Georgianer Ernst Bertram, der sich dem Nationalsozialismus näherte, resigniert: „Leben Sie wohl in Ihrem völkischen Glashaus …“[xxvii]
* René Char, Pour un Prométhée saxifrage, in: ders., Und der Schatten der Sanduhr begräbt die Nacht, hg. v. Klaus Möckel, Berlin 1988, S. 141.
[i] Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, Berlin 1918, S. 17. – Vgl. auch Oscar A. H. Schmitz, Das rätselhafte Deutschland, München 1920, 140 S.
[ii] August von Platen, Am Bodensee [2. Aug.1816], Sämtliche Werke in zwölf Bänden, hg. v. Max Koch u. Erich Petzet, 5. Bd., Leipzig o.J.[1910], S. 174.
[iii] Stefan George, Das Neue Reich [1928], Sämtliche Werke, Bd. IX, Stuttgart 2001, S. 43.
[iv] Friedrich Schiller, [Deutsche Größe], Zur Feier der Jahrhundertwende 1801, Sämtliche Werke, hg. von Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert, Bd. I: Gedichte / Dramen I, München 1958, S. 475.
[v] Norbert von Hellingrath, Hölderlin und die Deutschen [März 1915]. Ders., Hölderlin-Vermächtnis, hg. v. Ludwig v. Pigenot, München 1936, S. 124.
[vi] Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente. KSA, Bd. 13, S. 80.
[vii] Frank Thiess, Despotie des Intellekts. Streitschriften I, Kassel 1947, S. 23.
[viii] Rudolf Borchardt, Aufzeichnung Stefan Georges betreffend [1936], hg. v. Ernst Osterkamp, Schriften der Rudolf-Borchardt-Gesellschaft, Bd. 6/7, München 1998, S. 106.
[ix] Stefan George, Hölderlin, in: Taten und Tage, Sämtliche Werke, Bd. XVII, Stuttgart 1998, S. 59 f.
[x] Stefan George, Das Wort, in: Das Neue Reich, Berlin 1928, S. 134.
[xi] Friedrich Wolters, Frühe Aufzeichnungen nach Gesprächen mit Stefan George, Amsterdam 1996, S. 56.
[xii] Friedrich Gundolf, Stefan George [1928]. Beiträge zur Literatur- und Geistesgeschichte 1900 – 1931, hg. v. Victor A. Schmitz u. Fritz Martini, Heidelberg 1980, S.232.
[xiii] Jaroslaw Iwaszkiewicz, Europäische Erinnerungen, in: Sinn und Form 63 (2011), H. 1, S. 18.
[xiv] Karl Wolfskehl, An die Deutschen, in: Karl Wolfskehl, Heidelberg / Darmstadt 1955, S. 5..
[xv] Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA, Bd. 5, S. 121.
[xvi] Immanuel Kant, Nachlaß, AA, Bd. 15.2, Refl.-Nr. 1170, S. 518.
[xvii] Karl Wolfskehl, Deutscher und fremder Sprachgeist, in: ders., Bild und Gesetz, Berlin/Zürich 1930, S. 191.
[xviii] Johann Wolfgang Goethe, Xenien. Nr. 96, Weimarer Ausgabe, Abt. I, Bd. 5.1, S. 218 und Friedrich Schiller, Sämtliche Werke. Säkularausgabe, Bd. 2, Stuttgart / Berlin. Cotta Verlag 1905, S. 103.
[xix] Vgl. Junges Spanien, hg. v. Werner Krauss, Mönchengladbach/Köln 1925, 96 S.
[xx] José Ortega y Gasset, Das zweigeteilte Deutschland [in: El Imparcial, 19. Jan. 1908], erstmals neu abgedruckt in: Sondeur [Berlin], Nr. 9/1990, Dez.-Heft, S. 3.
[xxi] Ibid. S. 3.
[xxii] Marcel Prévost, Herr und Frau Moloch, deutsche Übersetzung v. F. P. Fischer, München, Albert Langen Verlag 1908, 422 S.
[xxiii] Joachim Kühn u. Hermann Platz, Der Nationalismus in der französischen Dichtung seit 1871, in: Der Nationalismus im Leben der dritten Republik, Berlin 1920, S. 271.
[xxiv] Friedrich Hölderlin, Hyperion, Sämtliche Werke u. Briefe, hg. v. Günter Mieth, Bd. 2, Berlin / Leipzig 1970, S. 262.
[xxv] José Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, Gesammelte Werke, Bd. III, Stuttgart 1978, S. 147.
[xxvi] Stefan George, Goethes lezte Nacht in Italien, in: Das Neue Reich, Berlin 1928, S. 10.
[xxvii] Thomas Mann an Ernst Bertram, v. 9. Jan 1934. Thomas Mann an Ernst Bertram. Briefe aus den Jahren 1910-1955. hg. v. Inge Jens, Pfullingen 1960, S. 178.