Mit Selbstorganisation gegen die G8

Bericht vom Camp Reddelich

Krieg, Ausbeutung, Abschiebung, Folter, Umwelt­verschmutzung... – das sind wohl die häufigsten Vorwürfe gegenüber den G8-Staaten. Tausende von DemonstrantInnen brachten in der ersten Juniwoche 2007 ihren Unmut auf die Straßen. Bunt, entschlossen und vielseitig.

Neben der Großdemonstration in Rostock, die wohl am medienwirksamsten war, gab es von Samstag bis Mittwoch Aktionstage, an denen auf die Themen Landwirtschaft, Militarismus und Migration eingegangen wurde. Mit den unterschiedlichsten Aktionsformen wollten die DemonstrantInnen und AktivistInnen auf sich und ihre Anliegen aufmerksam machen. Viele richteten ihre Appelle direkt an die G8-Staatsoberhäupter: „Act now“, war zum Beispiel auf einem Transparent einer NGO zu lesen. Die G8 sind die selbsternannten „mächtigsten Männer (und Frau Merkel) der Welt“, wer also sonst könnte etwas global bewegen? Von vielen Menschen wurde erkannt, dass die G8-Staaten durch ihr Agieren für viele der weltweiten Probleme mitverantwortlich sind. Doch sie haben auch das Vertrauen, dass die G8 das auch wieder „geradebiegen“ können.

Andere Menschen haben dieses Vertrauen in die G8-Staaten nicht mehr oder haben es nie gehabt. Ihre Kritik an der G8 ist radikaler.

Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind“, sagte Albert Einstein einst. „Die G8 sind das Problem, nicht Teil der Lösung!“ wurde während des G8-Gipfels immer wieder betont. Der G8-Gipfel sei nicht nur undemokratisch, sondern als ganzes auch illegitim. Sind die Regierungschefs der G8-Staaten berechtigt, Entscheidungen zu treffen, die sich auf einen Großteil der Menschen weltweit auswirken? Menschen, die die G8-Staatsoberhäupter niemals damit beauftragt haben, über sie zu regieren, weder mit einer Stimmabgabe auf einem Wahlzettel, noch mit einer Aufforderung wie „Act now!“.

Dieses „Act now“ will ich aufgreifen. Ich will damit jedoch an uns selbst appellieren. Die G8-Staaten wollen über uns regieren, uns vorschreiben, was wir zu tun haben, was wir dürfen, was nicht und das Ganze zu welchem Zeitpunkt. Was gibt es da Besseres, als uns selbst zu organisieren und die (G8-)Staaten damit überflüssig zu machen. Wenn wir die Herrschaft, die sie über uns ausüben, verlieren, entsteht Freiraum für etwas neues, etwas ganz anderes, das wachsen wird.


Während sich die acht Herrschenden hinter hohen Zäunen in einem teuren Hotel verbarrikadierten, trafen rund um Heiligendamm in Wichmannsdorf, Reddelich und Rostock tausende Menschen in Camps zusammen. Camps als Infrastruktur für mehrere tausend Menschen, in der sie für die Zeit eine Unterkunft und Verpflegung bekamen, gemeinsam leben konnten, Aktionen vorbereiten, sich gegenseitig begegnen und den Raum als Rückzugsort nutzen konnten. Abseits von Abstimmungen, Abgeordneten und zuvor beschlossenen Regeln - ein Bericht eines Versuches:

Anti G8 - Action Map 2007: (Ausschnitt)  Übersicht über Aktionen gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm. Hier mit verlinkten Informationen zu den einzelnen  Punkten:  www.gipfelsoli.org 
Anti G8 - Action Map 2007: (Ausschnitt) Übersicht über Aktionen gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm. Hier mit verlinkten Informationen zu den einzelnen Punkten:
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Ankunft in Reddelich

Normalerweise ist Reddelich ein kleines verschlafenes Nest. Ein paar Häuser, die vorbeihuschen, wenn mensch auf der Bundesstraße nach Bad Doberan fährt oder in einem der Regionalzüge sitzt, auf der eingleisigen Strecke nach Rostock. Diese Woche ist alles anders. Fast stündlich hält ein Zug am kleinen Bahnhof und heraus steigen Menschen, vollgepackt mit Rucksack, Zelt und Isomatte. Es ist ein lustiges Bild, wie sich dieser bunte Haufen in Bewegung setzt und den mit kleinen Wegweisern ausgeschilderten Weg zum Camp läuft. Der Eingang zum Camp ist schon von weitem zu erkennen: Viele Transparente hängen an den Zäunen, die vorsorglich um die angrenzenden Grundstücke, Häuser und Industriegebäude gezogen wurden. Endlich angekommen werfen die Neulinge erst einmal ihr Reisegepäck von sich und machen sich hungrig auf die Suche nach einer Stärkung. Über das ganze Gelände sind Volxküchen verteilt. Kleine und größere Kochkollektive, die zum Teil extra nach Deutschland gereist sind, haben sich vorgenommen, die AktivistInnen zu verpflegen. „Ohne Mampf kein Kampf“.  CBS_Fan 
CBS_Fan Button: Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen Während die PolizeibeamtInnen mit Broten mit zweifelhaftem Belag in den Dienst geschickt werden, werden die Menschen auf dem Camp mit vielerlei Köstlichkeiten versorgt. Vegan, Bio und wenn möglich regional, so ist das Selbstverständnis der Volxküchen. Eine Spendenbox steht bereit, jedeR zahlt nach Selbsteinschätzung. So wird auch finanziell Schwächeren solidarisch leckeres Essen ermöglicht.

Vom Abendessen, Kartoffeln mit Rote-Bete-Salat und Seitan­geschnetzeltem mit Gemüse, gestärkt, machen sich die Neuankömmlinge erst mal auf einen Erkundungsrundgang über das Gelände.

Informationsverbreitung mal anders

In einem Bereich des Camps stehen einige Menschen um Infowände herum, sind ins Lesen vertieft oder unterhalten sich. Hier laufen alle Informationen zusammen. In einem Zelt ist die Concierge untergebracht, eine Art Anlaufstelle für Probleme und Auskünfte über die Campinfrastruktur. Über das Aktionszelt nebenan werden die Neuigkeiten der laufenden Aktionen rund um Heiligendamm verbreitet. Damit allen Menschen auf dem Camp die Information zugänglich sind, werden viele der Infotafeln fast stündlich erneuert.

Das gilt insbesondere für das News-Board. Dort ist die aktuelle Lage der anderen Camps dargestellt und der Verlauf von Aktionen, zu denen das Aktionszelt Telefonkontakt hat. Nebenan steht die Pressetafel. Viele ausgeschnittene Artikel verschiedenster regionaler und überregionaler Zeitungen sind dort angepinnt und werden mit großem Interesse gelesen. Auf dem Programm-Board stehen alle wichtigen Termine, sei es ein Aktionstraining, Delegiertentreffen, Kulturprogramm oder das Zusammensitzen beim Kartoffelschälen.

Nicht nur die Volxküchen sind auf Hilfe angewiesen, alle anfallenden Arbeiten werden im besten Fall von allen erledigt. Viele verschiedene Handschriften sind auf der Programmtafel zu sehen, denn wie auf fast allen geschriebenen Infobrettern ist unter den deutschen Texten die englische Übersetzung zu lesen. Jede Person ist aufgefordert, Informationen, je nach Fähigkeit ins Englische, ins Spanische, Französische, oder eine andere Sprache zu übersetzen und umgekehrt. So ist es ratsam immer einen Stift in der Hosentasche dabeizuhaben. Im Camp leben Menschen, die so unterschiedliche Sprachen sprechen, dass es nicht möglich ist und angestrebt wird, sich auf eine zu beschränken.

Auf neuere Medien der Informationsverbreitung wird natürlich nicht verzichtet. Auf dem ganzen Gelände besteht zum Beispiel eine W‑LAN-Verbindung, zusätzlich gibt es ein Zelt mit einigen Computern, die allen zugänglich sind. Sei es zur Informationsbeschaffung, persönlichen Kommunikation oder Informationsweitergabe zum Beispiel über Indymedia. Jeden Abend wird die aktuelle Ausgabe von G8-TV gezeigt, in der verschiedene VideoaktivistInnen Ereignisse des Tages in Bild und Ton zusammenfassen.

Auf einer großen Infotafel ist ein Übersichtsplan des Geländes angebracht: Das Camp ist in verschiedene Bereiche, sogenannte Barrios, eingeteilt. Schon bestehende Gruppen, wie z. B. die BUND Jugend oder IG Metall Jugend haben sich eingerichtet. In anderen Bereichen haben sich Menschen zu verschiedenen Themen zusammengefunden. Zelte auf dem Camp Reddelich  Eric Blair 
Zelte auf dem Camp Reddelich
Eric Blair Button: Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen
Vom Queer-Barrio bis zu den Zapatistas ist alles dabei. Auch ein besonderer Rückzugsraum für Familien mit Kindern ist vorhanden. Wo finde ich die SanitäterInnen, wo den Abenteuerspielplatz, wo sind die Wasserstellen und sanitären Anlagen – auf der Karte ist alles eingezeichnet.

Die Barrios stellen unter anderem eine eigene Infrastruktur. Es werden Bars aufgebaut, gemütliche Rückzugsräume, Orte zum Zusammensitzen und Austauschen. Zudem haben fast alle Barrios ein eigenes Infobrett, über das wichtige Infos für die einzelnen Barrios verbreitet werden. Zum Beispiel den Termin zum allabendliche Treffen in den einzelnen Barrios. Es werden alle Menschen im Barrio dazu aufgerufen, sich bei diesen Treffen zu beteiligen. Hier werden Neuigkeiten ausgetauscht, diskutiert und Entscheidungen getroffen. Es gibt keine Organisationsgruppe, die bestimmt, wie was auf dem Camp läuft. Das Camp setzt sich aus vielen hundert Menschen zusammen, das Camp ist, was sie daraus machen.

Entscheidungsfindung mit vielen – gemeinsam und hierarchiefrei?

Wenn nun niemensch für andere Entscheidungen trifft und über andere bestimmt, ist es schwer etwas zu organisieren. In den ersten Tagen des Camps fand noch eine Großversammlung statt, auf der unterschiedlichste Dinge besprochen wurden - von der Finanzierung über Aktionsmöglichkeiten hin bis zur Versorgung der Klos mit Toilettenpapier. Die Versammlung zog sich in die Länge, zum einen, weil jede Frage, jeder Vorschlag, jede Wortäußerung ins Englische übersetzt wurde, für andere Leute parallel ins Spanische und Französische. Zum anderen wurden alle Probleme so lange ausdiskutiert, Lösungen und Möglichkeiten abgewägt, bis entweder alle einverstanden waren, zumindest aber alle den Entschluss mittragen wollten und konnten. Solche Konsensentscheidungen kosten enorm viel Zeit und Kraft und sind nervenraubend. Oft setzen sich zudem die redegewandtesten Leute durch und es ist zweifelhaft, ob die Entscheidung tatsächlich basisdemokratisch beschlossen wurde. Aus diesen Gründen entwickelt sich die Form der Selbstorganisation über die Woche weiter. Auf den Barrio-Treffen werden alle Probleme, Anregungen und Vorschläge gesammelt. Zum Schluss wird von der Gruppe eine Person bestimmt, die als DelegierteR die gesammelten Themen in ein Delegiertenplenum trägt. In den Deliplena, die ebenfalls allabendlich stattfinden kommt es abermals zum Austausch, und die Vorschläge der anderen Gruppen werden zurück in die eigene getragen. Das Amt des Delegierten wird für jedes Treffen neu vergeben, ist also nicht an eine Person gebunden. Außerdem sind alle Treffen, auch die Deliplena, für alle offen. Mit diesem Rätesystem wird also solange ein Vorschlag hin- und hergereicht und verändert, bis er für alle Betroffenen tragbar ist. Dafür sind wiederum sehr viele Treffen nötig. Aus diesem Grund ist das Camp auch auf das Verantwortungsgefühl aller angewiesen. Oft sind es kleine Probleme, die mit Spontaneität, Flexibilität, wenig Kraftaufwand und Zeit und direkter Aktion behoben werden können. So sind mit ein paar Helferleins die Klos ruckzuck geputzt, die Kartoffeln geschält und das Geschirr abgewaschen, ohne dass dafür eine verantwortliche Person ausgewählt und -diskutiert wurde. Es fallen viele dieser einfachen Arbeiten an, die erledigt werden müssen. Je mehr Menschen sich dabei beteiligen, umso weniger wird es für den einzelnen Menschen.

Meeting-Zelt auf dem Camp Reddelich  Eric Blair 
Meeting-Zelt auf dem Camp Reddelich
Eric Blair Button: Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen

Theoretisch klingt das ganz gut, doch in der Praxis sieht es leider doch immer wieder so aus, dass die Küchen zu wenig Schnipselkräfte haben, einzelne Mülleimer überquellen, das Geschirr antrocknet und die Listen zum Eintragen für den Nachtdienst oder eine Schicht an der Concierge nur halb gefüllt sind. Die vielen Zimmermenschen, die schon Wochen zuvor begonnen haben, den Großteil der Infrastruktur aufzubauen, brauchen schon vor dem großen Ansturm einen BurnOut-Workshop.

Selbstorganisation auf der Probe

Woran liegt das? Brauchen wir etwa doch jemenschen, der die Aufgaben klipp und klar verteilt, Verantwortliche bestimmt, die Organisation in die Hand nimmt und über unsere Köpfe hinweg Entscheidungen trifft?
Ich glaube es liegt an etwas anderem, dass die Selbstorganisation auf dem Camp an einigen Stellen immer wieder ins Stocken gerät: Allein auf dem Camp in Reddelich sind bis zu 4000 Menschen zusammen gekommen. Obwohl durch die Organisation über die Barrios das Camp entzerrt worden ist und weg von zentralistischen Infrastrukturen rückt, verlieren viele Menschen doch den Überblick über die Campstrukturen und können und wollen sich nicht einbringen. Das Ergebnis ist, dass Entscheidungen und Arbeiten doch wieder an Einzelnen hängen bleiben.

Selbstorganisation in so einem großen Rahmen braucht ihre Zeit um sich zu entwickeln. Vielen Menschen, die mit dieser Art von Zusammenleben bisher nur wenige Erfahrungen gemacht haben, fällt es schwer, sich innerhalb von einer Woche damit vertraut zu machen. Zudem war diese Woche gefüllt mit politischen Aktionen und deren Vorbereitung, Polizeirepressionen und damit verbundenen persönlichen intensiven Erfahrungen. Da bleibt nur wenig Zeit und Kraft, weg von der Vorstellung einer Voll- oder Halbpension zu kommen. Doch hat die Woche auch gezeigt, wie wichtig für viele der erste intensive Kontakt mit selbstbestimmten und selbstorganisierten Strukturen ist. Ganz abgesehen von den Diskussionen, ob die Proteste nun sinnvoll sind oder nicht und ob sie realpolitisch etwas bewirken – ich vertraue darauf, dass die Atmosphäre und das Miteinander auf den Camps bei vielen anregt: Zum Nach- und Weiterdenken und vor allem – zum Handeln.
 Fabian Bromann 
Fabian Bromann Button: Namensnennung Und das ist erst der Anfang...

Juli 2007
Autor(en): 
Monophage