Anknüpfungstatsachen bzw. Anschlußtatsachen

Zunächst einmal müssen Anzeichen von Unvernunft vorliegen, dabei "mag es zum Teil um eine nicht allein vom Medizinischen her, sondern auch vom Juristischen her zu beantwortende Frage sein" - diese grandiose Feststellung traf das BVerwG im Urteil vom 5.6.1968 - um folgende Warnung auszusprechen:" ... namentlich bei der Zurückführung einer partiellen Prozeßunfähigkeit auf querulatorische Symptome ist im jeweiligen Falle das Prozeßziel mit ins Auge zu fassen. Eine vernünftige Prozeßprognose kann Anzeichen dafür sein, daß die Prozeßführung nicht von einer die freie Willensbestimmung beeinflussenden Fehlhaltung bestimmt ist", um sogleich einzuschränken: "Indessen kann nicht der umgekehrte Schluß richtig sein, daß vernünftige Prozeßprognosen die Annahme einer partiellen Prozeßunfähigkeit schlechthin ausschließen. Jedenfalls kann das nicht gelten, wenn die Prozeßunfähigkeit auf einer Geisteskrankheit oder einer krankheitswertigen paranoiden Veränderung beruht."
In gestelztem Juristendeutsch finden sich immerhin Schlüsselbegriffe in den zitierten Sätzen: demnach gibt es "querulatorische Symptome" die "vom Juristischen" beantwortbar sind, wie auch "krankheitswertige paranoide Veränderungen". Sicherlich bis heute gültig ist, daß für die juristische Begründung von "Zweifeln" wesentlich ist, ob die Prozeßprognose "vernünftig" oder "unvernünftig" ist.  

Gleichwohl gilt allgemein:
Voraussetzungen von "Zweifeln" und ggf. dem daraus folgenden Beweisbeschluß zwecks sachverständiger Begutachtung sind Indizien (genauer: Indiztatsachen). Dies sind mittelbare Tatsachen, die Schußfolgerungen auf psychische Defizite und, im zweiten Schritt, auf eine evtl. vorliegende Prozeßunfähigkeit gestatten. Indiztatsachen müssen "beweiserheblich" sein, d.h., der Richter muß die denkgesetzliche Erheblichkeit prüfen, konkret also: seine Bedeutung für weitere Schlußfolgerungen - hier bezüglich der Hauptfrage Prozeßfähigkeit.

Ein Indizienbeweis ist also ein mittelbar/indirekterer Beweis mittels Anzeichen=Indizien, aus denen auf andere erhebliche Tatsachen geschlossen wird. Der BGH erläuterte dies folgendermaßen: "Hauptstück des Indizienbeweises ist also nicht die eigentliche Indiztatsache, sondern der daraus anknüpfende Denkprozeß, kraft dessen auf das Gegebensein der rechterheblichen weiteren Tatsache geschlossen wird" (BGH Urt. v. 17.2.1970, NJW 1970, 946, 950 = BGHZ 53, 245-264). Höchst problematisch wäre es allerdings, zumindest für den Tatbestand der Prozeßfähigkeit, wenn ein Richter (so aber der BGH) auf seine 'Lebenserfahrung'1 rekurriert bzw. auf die "denkmäßige Anwendung richterlicher Erfahrungssätze." 

Die Rechtsprechung spricht recht unbestimmt von "konkreten Anhaltspunkten", "tatsächlichen Anhaltspunkten" oder "hinreichenden Anhaltspunkten". Anhaltspunkte ergeben sich somit erst aus konkreten Tatsachen2. Was unter 'konkret' zu verstehen ist, bleibt unbestimmt, am ehesten ist dies wohl mit deutlich bzw. handgreiflich, für jedermann offenkundig, zu übersetzten, siehe Duden. Individuell geprägte Spekulationen wären demnach unzulässig.

Diese Tatsachen müssen zudem, und dies ist wichtig, personbezogen sein. Wenn etwa ein Rentenversicherungsträger in Wahrnehmung seiner Obhutspflicht aus der Tatsache, daß der Anspruchsberechtigte in der chilenischen "Colonidad Dignidad" lebt, die Auszahlung der Regelaltersrente zunächst verweigerte, weil begründete Verdachtsmomente bestünden, daß der Anspruchsberechtigte in seinem Willen fremdbeherrscht sein könne, so lag die Landesversorgungsanstalt (LVA) falsch, wenn sie hierin Indizien für eine eventuelle Geschäftsunfähigkeit - und damit Prozeßunfähigkeit - sah. Die Revision ergab folgendes:
"Der für die Feststellung der Prozessfähigkeit geltende Amtsermittlungsgrundsatz erfordert ... nicht, nach Tatsachen zu forschen, für deren Bestehen die Umstände des Einzelfalles keine konkreten Anhaltspunkte bieten." (BSG, Entscheidung vom 05.04.2000)

Folglich kann eine mit Zweifeln überzogene Partei erwarten und verlangen, daß das Gericht (ebenso wie auch der Gegner) dem Betroffenen gegenüber (in einem Anhörungstermin) personbezogene konkrete Tatsachen darlegt, so wie es ggf. dem Gutachter personbezogene Anknüpfungstatsachen mitzuteilen hat. Die Tatsache, daß jemand in einer Sekte lebt, bietet jedenfalls keine konkreten Anhaltspunkte für Zweifel an der geistigen Fähigkeit zu freier Willensbetätigung - hierzu hätte es konkreter persönlicher Entäußerungen bedurft.

Psychiatrische Diagnosen des Sachverständigen sind Werturteile, aus Richtersicht jedoch Befundtatsachen, die ihrerseits wiederum Grundlage für das Gerichtsurteil sind.

Der Richter muß also zunächst Indiztatsachen von anerkannter Erheblichkeit (Relevanz) gefunden haben. Für die Beantwortung der Frage, was als "anerkannt" zu gelten hat, zählt nicht seine persönliche Meinung, sondern allein die Präjudizkasuistik sowie etwaig vorhandene Präzedenzurteile, d. h. Grundsatzentscheidungen der Höchstgerichte. So war für den BFH "etwa ein unverständlicher Sachvortrag" Anhaltspunkt für Zweifel an der Prozeßfähigkeit. Weiter heißt es: "Die im gesamten Verfahren vom Kläger selbst verfassten Schriftsätze - sowohl an das FG als auch an den BFH - lassen erkennen, dass er sich auszudrücken sowie sein Anliegen in verständlicher und angemessener Form vorzubringen vermag. Hierin sieht der Senat ein gewichtiges Indiz für die Geistesfähigkeit des Klägers, die ihm eine freie Willensbestimmung ermöglicht" (BFH, 3.7.2014, V S 13/14). In dem Beschluß des OVG Thüringen vom 2.02.2017 finden sich weitere Indizien, die Behörden ermuntern können Reichsbürger-Anhängern, die den Behörden durch Zusendung von nicht nachvollziehbaren, sinnlosen Schreiben die Arbeit schwer machen, die Fahrerlaubnis zu entziehen.

Anders sieht es aus, wenn psychiatrische Auffälligkeiten gerichtsbekannt wurden. In einem solchen Falle gilt dies als hinreichend, die Prozeßfähigkeit eines Klägers anzuzweifeln. Beispiel: OLG Köln, 7.12.2011, 2 U 19/11

Merke: Ohne Benennung von Indiztatsachen, könnte es sich um einen unzulässigen(!) Ausforschungsbeweis handeln, d. h. um ein unbegründetes Agieren "ins Blaue hinein", siehe das oben zitierte BSG.

Wurden aus Indiztatsachen Diagnosen oder juristische Wertungen gefolgert oder doch gemutmaßt und diese dem Gutachter im Beweisbeschluß gem. § 404a ZPO vorgegeben, so spricht man statt von Anhaltspunkten von "Anknüpfungstatsachen" (auch: 'Anschlußtatsachen', weil sich ihnen der Sachverständige anzuschließen hat). Der Gutachter wird dann noch sog. Zusatztatsachen aufgrund eigener Ermittlungen sowie sog. Befundtatsachen (Feststellungen des Gutachters aufgrund seiner besonderen Fachkenntnisse, wie z. B. Testergebnisse, Beobachtungsdaten im Zuge der Exploration) zutage fördern, aus denen er Folgerungen im Sinne von Werturteilen - nur diese interessieren das Gericht -  zieht.

Wertungen ohne Tatsachensubstanz genügen nicht (BVerwG, B. v. 7.8.1997, 11 B 18/97). Deshalb müssen Beweisanträge auch "substantiiert" sein, also einen Tatsachenvortrag in Verbindung mit einem Rechtssatz enthalten. (OLG München, Urt. v. 19.11.1999, MDR 2000,1395). Diese Selbstverständlichkeit muß auch für einen Beweisbeschluß, der eine Untersuchung des Geisteszustandes beinhaltet, gelten: ohne Vorgabe von Anknüpfungstatsachen (= Feststellungen des Gerichts, v. a. aufgrund der Akten) auch kein Beweisbeschluß und keine Begutachtung! 



Anmerkungen:
1 Im Falle des Vf. verwies der Richter auf seine 20jährige richterliche Erfahrung. Nach Sommer legitimiert dazu nichts! (Ulrich Sommer, Lebenserfahrung, in: Festschrift für Peter Riess, 2002. 587)

2 bereits 1910, also lange vor Geltung des Grundgesetzes, spricht der Kommentar zum § 56 ZPO von Struckmann/Koch von "Tatsachen" und "zureichenden Anhaltspunkten", die beim Richter Zweifel an der Prozeßfähigkeit erregen.



Literatur:
- Larenz, Methodenlehre
- Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung
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