- Fall Rüdiger G.

Rüdiger G. (Hamburg) wurde in einem Haftungsverfahren gegen einen Rechtsanwalt psychiatrisiert. Es ist ein klassischer Fall von "einer gegen alle" - zur Ehre unseres Rechtsystems gereicht die Verfahrensgeschichte wohl kaum.

In der Ladung des 13. Zivilsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts (Hamburg) vom 09.04.2001
heißt es "Ihre persönliche Anwesenheit im Termin zur besseren Sachaufklärung ist erforderlich", Zusatz: "Im Hinblick auf die Vorbereitung des anberaumten Termins werden die Prozeßbeteiligten darauf hingewiesen, daß der Senat insbesondere in Anbetracht der vorliegenden schriftlichen Äußerungen des Klägers ernsthafte Zweifel an dessen Prozeßfähigkeit hat."

Am 18.Januar 2002 erging sodann folgender Beweisbeschluß des Hanseatische Oberlandesgerichts ("von Amts wegen"):
"Es soll durch Einholung eines Sachverständigengutachtens Beweis erhoben werden über die Frage, ob die Geschäftsfähigkeit und damit die Prozeßfähigkeit des Klägers im Hinblick auf die Führung des vorliegenden Prozesses ausgeschlossen ist. "
Es folgte eine Auflistung von 13 Beispielen kritischer "Äußerungen des Klägers bezüglich seiner Prozeßbevollmächtigten", verbunden mit der Angabe von 11 weiteren Aktenseiten mit weiteren drastisch-beleidigenden Äußerungen. G. hatte seine diversen Rechtsanwälte u. a. einer mafiöse Zusammenarbeit und Kungelei mit den beklagten "Standesbrüdern" bezichtigt.

Die anschließende Begutachtung durch Prof. Böhme, wurde (auf Veranlassung des Hauptgutachters) ergänzt durch ein psychologisches Zusatzgutachten.
Der Gutachter äußerte unter dem die Befürchtung, gegen den Probanden instrumentalisiert zu werden. Ergebnis: G. sei jedenfalls prozeßfähig. Prof. Böhme bezog sich auf Foerster (2000), Rasch (1999) und Nedopil (1985  und 1999). Eine psychiatrisch relevante wahnhafte Störung läge bei Gromzig nicht vor, seine Persönlichkeitsstruktur verleihe ihm"aber auch jenes Maß an Sthenie und narzistischer Siegesgewißheit, dessen ein Mensch bedarf, der sich entschlossen hat, auf einem schwierigen Rechtsgebiet zu bestehen."

Erstaunlicherweise stellte das psychologische Zusatzgutachten eine "Fixierung" auf die Opferstellung fest, welches sich in "verbal-aggressiven Formulierungen" ausdrücke. G. zeige "neurotische Verarbeitungsweisen. die sich in seinem  "größenhaften Selbsterleben" zeigten, sowie "projektive Zuweisung an andere" und "deutliche Spaltungstendenzen". Gleichwohl verfüge G. über ein "hohes Verbalisations- und gutes Abstraktionsvermögen, so daß bezüglich der  forensische Würdigung auf das Hauptgutachten verwiesen werden könne.

Kommentar:
Eigentlich hätte man eher von einer Psychologin Verständnis für die Psychodynamik zwischen den Akteuren in einem dermaßen brisanten Prozeß (Bürger gegen den Rechtsstab) erwarten können, wenn sie schon nichts von der sog. Krähentheorie gehört haben sollte. Vorliegend vermochte sich der Psychiater weit besser in die Rolle des Probanden hinein zu versetzen, sicherlich erleichtert durch den fabelhaften, viel zu wenig bekannten Aufsatz Nedopils in der Forensia (Schuld- und Prozeßfähigkeit von Querulanten,
1985, 185 - 195) der sich mit der Instrumentalisierung der Psychowissenschaften seitens des Staates - hier Justiz -  beschäftigt, der keinen effektiven Rechtsschutz gegen Richter vorsieht.

In einem Leserbrief in der SZ vom 22.05.1999 beschreibt Dr. med. Jürgen Jenke die Isolation, die auch die Privatsphäre ergreift, in die sich hartnäckige Kämpfer ums Recht begeben. Erst wenn man sich in den unübersichtlichen Sachverhalt eingearbeitet hat, entwickelt "der kritisch gewordene Beobachter nachvollziehbares Verständnis." Diese Einarbeitung wäre aber zuvörderst Aufgabe von Richtern und deren psychowissenschaftlichen Gehilfen gewesen - auch im Falle G.  


Diese Einschätzung bestätigt die weitere Verfahrensgeschichte:
1998 hob der BGH die Urteile des OLG auf. Das BVerfG ermahnte das OLG "dem Verfahren in besonderer Weise und unter Ausnutzung aller ihm zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten beschleunigt Fortgang zu geben." G. erhielt am Ende einen vergleichsweise geringen Betrag - 110.000,- € -  zugesprochen.

Und schließlich erzielte Gromzig mit seiner Individualbeschwerde beim EUGHMR wegen Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK immerhin einen Achtungserfolg (Urteil vom 4. Februar 2010): G.s Beschwerde wurde für zulässig erklärt, hatte allerdings in der Sache keinen Erfolg, weil die Gesamtdauer des Verfahrens "noch" als angemessen beurteilt wurde. Zur Psychiatrisierung G.s stellt der EUGH lediglich fest, daß das Verhalten des Beschwerdeführers wesentlich zur Komplexität des Verfahrens beigetragen, G. mindestens 14 Mal seinen Rechtsanwalt gewechselt, zudem mehreren seiner ehemaligen Anwälten Streit verkündet habe, was er später wieder zurückzog. Sodann heißt es lapidar: "Dieses Verhalten machte es erforderlich, daß das Oberlandesgericht einen Sachverständigen hinzuzog, um die Prozeßfähigkeit des Beschwerdeführers zu überprüfen."  Eine Begründung für die Wertung "erforderlich" lieferte der EUGH leider nicht.

G.s Fall interessierte die Medien, siehe etwa "Wenn Anwälte pfuschen" ARD vom 17.07.2002 oder
"Vergiftetes Erbe", ARD  vom 23.03.2004.  Fall G. in der Presse, allen voran die SZ vom 6. Mai 1999 ("Keines Anwalts Liebling"), die Hamburger Regionalepresse folgte  - bezeichnenderweise -  erst nach.

http://www.abendblatt.de/hamburg/article230604/Herr-Gromzig-wartet-auf-Millionen.html
http://www.welt.de/print-- welt/article400742/Zwischen_Gromzig_und_seinen_Millionen_steht_die_Justiz.html
http://www.welt.de/print-welt/article324608/Anwaelte_sollen_110_000_Euro_an_Rentner_zahlen.html