Fälle vor Geltung des GG

Nicht nur im 19. Jahrhundert drohte Psychiatrisierung aus dem Kollegenkreis gerade auch Ärzten und Forschern, wenn sie neue wissenschaftliche Ansichten propagieren, dies ganz insbesondere dann, wenn dies auch noch auf ungewöhnliche Art-und-Weise (sprich: mit ungewöhnlichem Charakter) geschah: berühmte Beispiele sind Ignaz Semmelweis und Alfons Weber

Zum Querulanten-Thema findet sich eine Fülle an Literatur, sowohl von Psychiatern
als auch von "abnormen" Betroffenen - weniger von Seiten der Entscheidungsträgern (Justiz).
Es war "Sache der Psychiatrie" aus dem Verhalten eines Menschen auf die Normalität oder Abnormität seines  Geisteszustandes zu schließen (Möbius, 1900).
Die Begrifflichkeit hat eine kurze Geschichte: 1883 schlug Mendel das Wort "Paranoia" vor, sowie die Varietät "Quärulantenwahnsinn". Es folgte 1895 Hitzigs Monographie.
Die gesellschaftspolitische Steuerungsmöglichkeit erfolgte über den Schlüsselbegriff "Gemeingefährlichkeit", die staatliche Behörden konnten damit auffälliges Verhalten psychiatrisieren und die Störer über die ärztliche Begutachtung entmündigen und mundtot machen.
Insbesondere die Diagnose "Querulantenwahnsinn" forderte breite Kritik von Laienseite heraus. Zu den seinerzeit zahlreichen "Irrenbroschüren", die Ende des 19.Jahrhunderts von Seiten dazu überhaupt ökonomisch fähiger Betroffener herausgegeben wurden, siehe Cornelia Brink, 2002

Zu Beginn der Antipsychiatriebewegung stand der berühmte Aufruf - u.a. von R. v. Ihering unterzeichnet - in der "Kreuzzeitung" vom 9. Juli 1892 mit der Behauptung, auf keinem Gebiete des Rechtslebens "dem Irrtum, der Willkür und der Absicht" ein solcher Spielraum gewährt werde, wie in der Irsinnserklärung. Gefordert wurden Kontrollen durch eine Kommission  unabhängiger Männer.
 
In Zürich gründete der Zahnarzt L. Fliegel 1892 den Irrenrechtsreformverein. Der Ingenieur Georg Wetzer gründete 1897 die "Zentrale für Reform des Irrenwesens" in Hersbruck. Professor der Geologie Lehmann-Hohenburg gab von 1905-1909 in Weimar den "Rechtshort" heraus, darin wurde u.a. der sog. Querulantenwahnsinn abgehandelt. 

1897 erschien "Der Fall Bergstedt oder die Abschaffung des Querulantenwahnsinns" von Friedrich Kretzschmar, kurz dargestellt in: Karin Nolte, Gelebte Hysterie, 2006, S. 105Der Dorfschulmeister Franz Emmanuel Johann Bergstedt begann mit einem Rechtsstreit gegen das Landwirtschaftsministerium - es ging um das Weiderecht auf Forstgrund. Nach Verbüßung einer Gefängnisstrafe führte der Lehrer den Rechtsstreit fort. Schließlich wurde ein Entmündigungsverfahren - Diagnose: Querulantenwahnsinn - eigeleitet. Kretzschmar stellte das Urteil in Zweifel, denn es seien keinerlei Indizien in Gestalt körperlicher oder psychischer Symptome angeführt worden. Die Parallelität zur heute gängigen Praxis der Nichtbegründung eines Beweisbeschlusses nach " 56 ZPO ist frappant!

Ab 1909 erschien das Periodikum "Irrenrechts-Reform" des Bundes für Irrenrecht (Schutzbund gegen Entmündigung), gegründet von Adolf Glöcklein in Heidelberg, dann mit Sitz in Berlin. Die Auflage von 10.000 war beachtlich. Darin wurde insbesondere anhand zahlreicher Einzelfalldarstellungen die mißbrauchliche Internierung von sog. Querulanten gegeißelt.
Der sich in diesem Periodikum aussprechende Widerstand wandte sich gegen Internierungen durch polizeiliche Verfügungen - ein Vorläufer der späteren "Schutzhaft" - , die mit "Gemeingefährlichkeit" begründet wurde. Gemeingefährlichkeit liege nur vor Leben und Gesundheit anderer Personen gefährdet seinen, nicht jedoch bloßen Störungen der öffentlichen Ordnung. Gerügt wurde auch das (Polizei-)Kreisarztsystem, das es zulasse, daß ein einzelner beamteter Arzt auf durchsichtigen Wunsch der Behörde hin "in fünf Minuten über die Freiheit des Verdächtigten entscheidet." (Irrenrechts-Reform, 1913, Nr. 34/35, 324f)) Diese Kritik ist unverändert aktuell, wenn man sich vergegenwärtigt, daß Richter Gutachten über Prozeßfähigkeit heutzutage bei staatlichen Gesundheitsämtern anfordern. Dargestellt wurden insbesondere Fälle von Verrückterklärung, "um die verhaßte Ehehälfte zu beseitigen" oder um Testamente unwirksam erklären zu lassen. Daneben wurde Fälle von Psychiatrisierungen wegen hartnäckiger Rechtsverfolgung bekannt gemacht, so etwa des Kaufmanns Jacob Levy (1914) oder aber eines jungen Gelehrten der einen Richter der Rechtsbeugung bezichtigte (1915). Keine Berufssparte blieb verschont, so auch nicht der Pfarrer Palm (1915).oder der Lehrer Maleszka, der es gewagt hatte, einen Landrichter des Meineides zu beschuldigen (1917). 1918 war der Gensdarmeriewachtmeister Karl Nause mit seiner Petition an den Reichstag erfolgreich, der gefesselt in ein Irrenhaus verbracht worden war, weil er sich gegen seine Vorgesetzten gewehrt hatte. Der Plantagenbesitzer Rudolf Haß erhielt sogar 750.000.- Mark Schadenersatz (Irrenrechts-Reform 70/1922). 

Es nimmt nicht Wunder, daß nichtsdestotrotz die Psychiater und die Landesregierungen ihren neu gewonnenen Kompetenzbereich hartnäckig verteidigten (Gabriele Feger, Die Geschichte des psychiatrischen Vereins zu Berlin 1889 - 1920, Diss. FU Berlin, 1982, 231). So polemisierte E. Rittershaus noch 1927
in einer Schrift  (Die Irrengesetzgebung in Deutschland) massiv gegen die  "sogenannte Irrenrechtsreformbewegung".  

Der Reichstagsabgeordnete und Jurist Julius Lenzmann hielt 1897 rund 90 Fälle von unzulässigen Geisteskrankerklärungen für nachgewiesen (Schmiedebach in Dinges (Hg.), Medizinkritische Bewegungen im Deutschen Reich, 1996, 140 ).

Heinrich Mann machte sich nicht gerade beliebt, daß er in seinem 1917 erschienenen Roman "Die Armen" die Unterordnung der Psychiatrie unter die herrschende Mächte getreu dem deutschen Untertanengeist darstellte. Die Psychopathologisierung anormalen Verhaltens beunruhigte offensichtlich weite Kreise, gleichwohl behaupteten die 'Psychiater letzendlich ihr Deutungsmonopol.

Eine erstaunliche frühe Analyse der Gefahr von Patientengenerierung durch den aufblühenden Stand der Psychiater lieferte Schroeder in seiner Schrift "Das Recht im Irrenwesen", 1890. Schroeder stellte die persönliche Freiheit weit über die Gesundheit.  Der Psychiater dürfe nicht der faktische Richter sein. Die Rechtsunsicherheit im irrenwesen beleidige auch öffentliche Interessen. Der Verfolgungswahn sei oft erfunden worden, um die Verfolger zu schützen. Schließlich fordert Schroeder, Haftung und Strafe für ungerechtfertigte Anträge auf Untersuchung des Geisteszustandes und berufsrechtliche Konsequenzen gegen unfähigke Ärzte.  
Was hätte Schroeder wohl zu dem Fakt gesagt, daß gegen richterseitige Zweifel an der Prozeßfähigkeit 120 Jahre später nicht einmal ein Beschwerderecht existiert?


Literatur: 
- Brink, "Nicht mehr normal und noch nicht geisteskrank...", in:Werkstattgeschichte 33, 2002, 22-44
- Brink, Grenzen der Anstalt, 2010