- Von der Rechtsprechung entwickelte Kriterien.

Der Psychiater Karl-Ludwig Täschner offerierte folgende Definition:


Die Prozessfähigkeit beinhaltet die Fähigkeit eines Menschen, einen Zivilprozess selbst zu führen, seinen Vorteil im Prozess selbständig zu erkennen und zu wahren, sich klar und umsichtig einzulassen, seine Anliegen konsistent und verständlich darzulegen und insgesamt kritisch und umsichtig bei der Führung des Prozesses vorzugehen.0

Nach dieser Definition könnte Herr Täschner zumindest jede zweite  Partei als nicht prozeßfähig abstempeln; wohl also dem, der nicht von Herrn Täschner begutachtet  werden muß! 

Aber Scherz beiseite: Natürlich bezieht sich die Rechtsprechung auf die von den Gutachtern gelieferten Begriffe und Wertungen und folgt in aller Regel den "überzeugenden" Befunden der Sachverständigen. Da nun die ZPO auf das BGB Bezug nimmt (§ 51 Abs.1 ZPO) gelten grundsätzlich die gleichen Kriterien wie für die Geschäftsunfähigkeit: 

§ 104  Abs. 2 BGB lautet: Geschäftsunfähig ist, wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist. 

Nach Pawlowski ist "Freier Wille" immer "vernünftiger Wille" (Pawlowski in: Recht in Europa, FS Hilmar Fenge, 1996, 492). Ergänzend stellt Pawlowski fest: Mit der Anerkennung von "Freiheit" ist auch die Anerkennung verschiedener Formen der "Vernünftigkeit" verbunden (aaO., S. 495). Die im Zuge der Hirnforschung neu entfachte Diskussion über die Fragwürdigkeit der Willensfreiheit wird an den Grundpositionen kaum etwas ändern (können). Denn im Strafrecht wird man - mutatis mutandis - bei der Fiktion bleiben müssen, daß jeder nicht kranke Mensch über ein hinreichendes Maß an Willensfreiheit verfügt, sich für oder gegen rechtstreues Verhalten zu entscheiden, weil sonst die "Bewährung der Rechtsordnung" als wesentlichster Strafzweck verloren ginge. Und: im Zivilprozeß würden kranke Querulanten eine "geordnete" Rechtspflege gemeinwohlschädlich konterkarieren können. 

Die vorliegend behandelte Problematik liegt in der Grenzbestimmung zwischen (noch) normal und (schon) krank. Es liegt zwar auf der Hand, daß hier ein erheblicher, bis an die Grenze von Willkür reichender Ermessensspielraum auftut, erstaunlich ist gleichwohl, daß hier bislang keine, oder doch kaum Forschungen veranstaltet wurden. Die Schwierigkeit bei der Gewinnung von Abgrenzugsmaßstäben beginnt bereits mit der Begriffsbestimmung: Was wird als Geisteskrankheit bzw. Persönlichkeitsstörung bezeichnet und wie erfolgt die Abgrenzung zum Normalen? Lediglich auf abstrakter Ebene besteht Einigkeit:

Keine "freie Willensbestimmung" liegt dann vor, 

- wenn eine Geisteskrankheit das Entscheidungsverhalten (mit)bestimmt, 
aber auch
- wenn Dritte maßgeblichen Einfluß auf das Entscheidungsverhalten haben, wobei die Dritteinwirkungen auf Persönlichkeitsstörungen hohen Grades (meint: von Krankheitswert) zurückgehen (können).

Sodann entwickelte sich die Lehre von der Teilgeschäftsunfähigkeit aufgrund sog. partieller Geistesstörungen, von dem dann auch der Rechtsbegriff "partielle Prozeßfähigkeit" abgeleitet wurde: 

Bereits das Urteil des RG (Reichsgericht) vom 17.01.1880 (RGSt Bd.1, S. 149) geht von der Existenz einer partiellen Geistesstörung (fixe Ideen, die sich lediglich in einer bestimmten Richtung offenbaren) aus.

Nach dem Urteil des RG vom 14.06.1895 (Seuffert's Archiv Bd. 51 Nr. 89) werden Wahnideen in einem Scheidungsverfahren als "rein partielle Geistesstörung" angesehen, die nicht zu völliger, sondern lediglich auf dem Gebiete des Eherechts zu Handlungsunfähigkeit führen, der Beklagte also nur für den vorliegenden Rechtsstreit (Antrag der Ehefrau auf zeitweise Trennung der Ehe) partiell prozeßunfähig sein kann, so daß nur eine Pflegschaft angezeigt sei. 

Nach Gebauer (AcP 1954, S. 351) stellte das RG (erst) am 17.10.1899 erstmals eine Teilgeschäftsunfähigkeit fest. Dabei ging es um einen an Eifersuchtswahn leidenden Querulanten, dem die Prozeßfähigkeit für eine Scheidungsklage abgesprochen wurde. 

Gebauer kritisiert, daß die Teilgeschäftsunfähigkeit als juristisches Problem nicht in die Psychiatrie verlagert werden dürfe, weil dies zu einer "verhängnisvollen Rechtsunsicherheit" führe (aaO., 355). Der psychiatrische Begriff des Querulantenwahn1 sei "äußerst schwankend" (aaO., 367). Gebauer plädiert zur Querulantenabwehr für die Bestellung eines Pflegers analog § 53 ZPO, wie bereits 1941 im § 50 des "Volksgesetzbuches" vorgesehen (Hedemann u.a., Entwurf zum Volksgesetzbuch der Deutschen (1941), S. 96). 


Damit ist allerdings die Frage noch nicht beantwortet, welcher Geisteszustand vorliegen muß, wie dieser festgestellt wird und wo die Grenzen für die Einrichtung einer Pflegschaft liegen. Zu erinnern ist daran, daß die Entmündigung gem. §§ 6 BGB (streitige Gerichtsbarkeit mit Beteiligungsrecht des Staatsanwalts (!)  - gem. § 652 ZPO Ausdruck des öffentlichen Interesses (!) -   erst ab 1.1.1992 durch das Betreuungsgesetz (BtG, siehe v. a. §§ 1896 ff.abgelöst wurde. Auch der Euphemismus "Betreuung"  - es handelt sich vorgeblich um eine fürsorgerische Wohltat der öffentlichen Hand -  ändert nichts an der Möglichkeit faktischer Entmündigung und damit der immanenten Gefahr des Mißbrauchs, siehe nur SPIEGEL 23/2012 "Als Depperte abgestempelt." 


Der jüngst bekannt gewordene Betreuungsfall Gurlitt weckt zumindest einmal mehr Zweifel an der vielgepriesenen medizinischen Fürsorglichkeit. Und keineswegs abwegig scheint die Mutmaßung zu sein, daß hier mittels Psychiatrisierung Gurlitts ein schlichtes Ablenkungsmanöver gefahren wurde, als neuester Beleg der probaten Zusammenarbeit von Psychiatrie und Staat(sanwaltschaft), die zuvor bereits der Rechtsprofessor Uwe Wesel im Deutschlandfunk prophezeit hatte.   

In Österreich wurde demgegenüber bereits 1984 die Entmündigung bzw. Vormundschaftschaft für Volljährige hat durch die sog. Sachwalterschaft ersetzt. Ein Betreuter ist grundsätzlich dann nicht (mehr) prozeßfähig, wenn das Vormundschaftsgericht die Betreuung mit einem Einwilligungsvorbehalt verbunden hat (Bork, Die Prozeßfähigkeit nach neuem Recht. MDR 2/1991, 97-99).


Das OLG Zweibrücken faßte die richterliche Fragestellung in einer Betreuungssache folgendermaßen knapp zusammen: 
"Abzustellen ist dabei darauf, ob eine freie Entscheidung nach Abwägung des Für und Wider bei sachlicher Prüfung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte möglich ist oder ob umgekehrt von einer freien Willensbildung nicht mehr gesprochen werden kann, etwa weil infolge einer Geistesstörung Einflüsse dritter Personen den Willen übermäßig beherrschen" (B.v. 3.4.2006, 3 W 28/06). 


Psychiatrie und Psychologie haben vielfältige Indikatoren bzw. Kriterien für Geisteskrankheiten und Persönlichkeitsstörungen von Krankheitswert entwickelt. Mit dieser "pragmatische Erweiterung des medizinischen Krankheitsbegriffes" (Baer, Psychiatrie für Juristen, 1988, S. 9) outeten sich die Psychowissenschaftler zu Gehilfen des Staatsapparates in Gestalt der Justiz - um sich ein neues Arbeitsfeld zu erschließen.

Was nun die Prüfung der Prozeßfähigkeit angeht: Stickelbrock räumt dem Richter in der Frage der Prozeßfähigkeit keinerlei Ermessen ein, sondern dieser hat sich bei den mit unbestimmten Rechtsbegriffen (wie Prozessunfähigkeit) verbundenen Wertungen an der Kasuistik zu orientieren, also an den durch die Rechtsprechung entwickelten typischen Fallkonstellationen und "Einzelrechtssätzen"2, wodurch der Richter in seiner Entscheidung eingeengt wird. Ein Tatbestandsermessen des Zivilrichters sei abzulehnen. (Stickelbrock, Inhalt und Grenzen richterlichen Ermessens im Zivilprozeß, 2002, 260ff). 

Die Gerichtspraxis allerdings schlägt weiterhin Kapriolen: So sprach das BSG bezüglich der Feststellung der Prozeßfähigkeit eines Zahnarztes im Beschluß vom 5.5.2010 von "Maßstäben", die "zutreffend" (allein) von § 104 Nr. 2 BGB abzuleiten seien: In dem konkreten Falle hatte der Zahnarzt in seiner Klage gegen die Kassenzahnärztliche Vereinigung Thüringen  eigene Prozeßunfähigkeit behauptet und vom LSG die Bestellung eines besonderen Vertreters begehrt. Das Bundessozialgericht schoß mehrere logische Purzelbäume, um das prozessuale Verhalten des (nervenden) Vielprozessierers als "noch" unterhalb der Schwelle der Ausschließung der freien Willensbestimmung im Sinne des § 104 Nr.2 BGB - Schwelle zur Prozeßunfähigkeit - einzurangieren. Das BSG stellte zwar einerseits "gewisse querulatorische Neigungen" fest, sowie "taktisches Verhalten" des Zahnarztes, "das "möglicherweise inzwischen Krankheitswert erreicht" habe, andererseits klassifizierte es den Kläger gerade wegen seines taktischen Geschicks "sachgerecht mit dem Gericht zu korrespondieren" als noch prozeßfähig ein. Zu den "Maßstäben" des BSG zählt auch widersprüchliches Verhalten: Wenn der Zahnarzt einerseits eine Rechtsanwältin bevollmächtigt habe, andererseits Prozeßunfähigkeit behaupte, sei dies "in sich" widersprüchlich. Der Zirkelschluß liegt auf der Hand: Das Gericht unterstellte damit dem Kläger das, was in Zweifel stand: seine Prozeßfähigkeit: "In sich" widersprüchliches Verhalten ist natürlich nicht "sachgerecht", somit eher Indiz für Prozeßunfähigkeit. Noch verrückter: Das BSG erkannte bei dem sogar die prototypischen psychiatrischen Merkmale für Prozeßunfähigkeit, nämlich Fixierung auf Prozesse, die zum Lebensinhalt wurden, mit dem damit verbundenen Bemühen, "daß diese tatsächlich nicht zu dem zügigen Ende kommen." Gleichwohl entschied es: Die "Schwelle zur  Prozessunfähigkeit" sei noch nicht erreicht. 

Kommentar des Vf. zum Beschluß des BSG:
Immerhin ist der Beschluß in sich "schlüssig": Wer selbst nicht logisch denken kann, sieht dies auch dem Gegner nach. Und dazu eine tragfähige Diktion: Die "zutreffenden Maßstäbe für die Beurteilung der Prozeßfähigkeit" liefert allein der (Palandt-) Kommentar  zum BGB. Fazit: Ein Lehrstück des "freien Willens" zur Willkür! 

In der Rechtssphäre Österreichs (einschließlich Lichtensteins) wird bei zweifelhafter Prozeßfähigkeit auch nach der sog. "Diskretions- und Dispositionsfähigkeit" gefragt (Beispiel). Hierunter versteht man die Fähigkeit eines Täters "das Bestehen einer Verbotsnorm zu erkennen, das Unrecht einzusehen (Diskretionsfähigkeit) und sich entsprechend zu verhalten (Dispositionsfähigkeit)."
 



Anmerkungen:
Zitat aus: K.L. Täschner: Forensische Psychopathologie – Diagnostik und Beurteilung, in: B. Medea, B. Brinkmann (Hrsg.): Handbuch gerichtliche Medizin, Band II, Heidelberg 2003, S. 797

1 Der ICD-10 - Code für die Diagnose "Paranoia querulans" lautet "F22.8"

2 In Österreich enthalten Grund- oder Leiturteile "Stammrechtssätzen" und "Rechtssatzketten" (eine Rechtssatzkette beginnt mit dem Stammrechtssatz), siehe z. B. die Definition der prozessualen Handlungsfähigkeit = Prozeßfähigkeit. Der Nutzen dürfte allerdings eher zweifelhaft sein, denn wann ein Rechtsunterworfener die Bedeutung und Tragweite des Verfahrens hinreichend erkannt und verstanden hat, und wann sein prozessuales Verhalten "entsprechend" war, wird im Einzelfall letztlich nach subjektivem (!) Maßstab entschieden  - eine Jurisprudenz, die sich als Wissenschaft versteht, benötigt wohl derartige Setzungen und Zitate, auch wenn der Rechtssicherheit - hierzu zählt auch der grundrechtlich geschützte Anspruch auf Gleichbehandlung - damit wohl kaum hinreichend gedient sein dürfte. 




Kasuistik:

- BGH, Urteil vom 16.6.1970
Fall angeblicher "Prozeßmanie": zahlreiche Prozesse mit häufigem Anwaltswechsel, Strafanzeigen, Fülle von Richterablehnungen; ungewöhnliche Art (welche?) der Prozeßführung. Erfolgreiche Revision. Die Zweifel an der Prozeßfähigkeit basierten wohl allein auf der Quantität, so wie auch das Schweizerische Bundesgericht in einer Entscheidung vom 2.9.1992 (BGE 118 1a 236).

Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 13.03.2002

hier wird zwischen "Querulantentum" und Querulantenwahn unterschieden, wenn es heißt: "Der Senat verkennt nicht, dass Querulantentum, also die bloße verbohrte Rechthaberei, Prozessfähigkeit nicht grundsätzlich ausschließt. Im Falle der Klägerin ist nach Überzeugung des Senats die Grenze zum sogenannten "Querulantenwahn" (...) jedoch überschritten." - gleichwohl gelang es der Betroffenen, zum BSG vorzudringen, siehe Beschluß vom 3.7.2003.

- Urteil des VG München vom 27. Juli 2009 
Das Urteil enthält mehrfach Hinweise auf Kriterien hinsichtlich Prozeßfähigkeit. Extreme Verbissenheit und Schärfe reichten nicht aus und auch nicht ein Vokabular, das sich zumindest an der Grenze zur Strafbarkeit bewegt (Beleidigung, Verleumdung). Entscheidend seien vielmehr Kriterien wie die Frage nach "präziser Logik" und Schlüssigkeit in der Argumentation. Die Richter liefern zudem eine (wohl einzigartige) Beschreibung der erforderlichen Fähigkeiten zur Führung eines Prozesses ohne rechtlichen Beistand: "Es genügt nicht, die eigentliche Belange nur vorzutragen. Vielmehr muss der Betroffene auch die besondere Situation des Prozesses und die Konsequenzen jeder seiner Handlungen bzw. Erklärungen überblicken." - ein Anspruch, dem nicht einmal jeder Rechtsanwalt genügen dürfte!

LArbG Baden-WürttembergBeschluß vom 5.11.2009
Fall einer Unzahl von Aktenzeichen: Bewerberschutzklagen an verschiedenen Gerichten, Beschwerden, Ablehnungsgesuche usw. eines Musikers. Gleichwohl sei nicht "in erster Linie" die Zahl, sondern die "Art und Weise" entscheidend für den Entzug der Prozeßfähigkeit gewesen. So habe sich der Musiker auch auf Stellen beworben, für die er auf den ersten Blick nicht infrage gekommen sei.

OLG Bremen, Beschluss vom 18. März 2013
Aktuellstes und skurrilstes Beispiel eines diagnostizierten Querulantenwahns: Die gesamte Literatur-Palette wird repliziert: Lube, BGH, usw.usw. - und alle denkbaren psychiatrische Termini ("kombinierte Persönlichkeitsstörung mit querulatorisch-fanatischen, narzistischen und paranoiden Zügen sowie eine isolierte krankhafte Störung im Sinne eines Querulantenwahns") werden zum Paket geschnürt, nichts wird ausgelassen bei dem Haufenkombination quantitativer und qualitativer Indizien. Den Feststellungen und Schlussfolgerungen des Sacherständigen schließt sich der Senat denn auch - selbstredend - "vollumfänglich" an. Am Ende (vorletzter Absatz) dann schließlich ein Freud'scher Versprecher: statt (krankheitsbedingter) Prozessfähigkeit hätte es hier Prozessunfähigkeit heißen müssen ....
Der Bremer Beschluss wurde in R&P 31 (2013) S. 240-244 zur gänze abgedruckt und anschließend von Lindemann/Kreitsch kritisch - kongenial umständlich - kommentiert: 
Die Abwehrreaktionen der Gerichte überlagerten auch berechtigte Interesssen des prozeßunfähigen, gemäß § 63 StGB untergebrachten wahnkranken Querulanten, indem diesem ein Betreuer vorenthalten worden sei, als es um die Überprüfung der Fortdauer der Unterbringung nach § 67 e StGB ging. Der Querulant sei in seinen Grundrechten verletzt worden. Zur Leidensgeschichte dieses nunmehr seit 9 Jahren - jetzt in Moringen - untergebrachten, angeblich wahnkranken Querulanten siehe BGH 20.02.2009, BGH 20.07.2010, sowie den Kommentar des Beschlusses des Hans. OLG Bremen v. 18.03.2013 in der Rechtslupe v. 7.5.2013: "Der prozessunfähige Querulant". Der Fall des Jens Meyer wird derzeit vor dem LG Göttingen verhandelt: 
http://www.goettinger-tageblatt.de/Goettingen/Uebersicht/60-Jaehriger-bedroht-Richter-und-Psychiater

Der in diesen Fall involvierte Sachverständige Henning Saß, Großmeister in der Übersichtsgewinnung im Dschungel forensischer Psychiatrie, zählt, wenn auch verdeckt, zu den Adepten Kurt Schneiders. 
Saß bietet Einblick in seine Weltanschauung: Zeit-online vom 17.6.2013. Nach Saß gibt es keine Fehlgutachten sondern nur "plausiblere" und weniger plausible. Dazu entwickelte er, zum Zwecke der rechtlichen Unterscheidung zwischen Affekthandlungen und nicht Affekthandlungen seine sog. "Saß-Kriterien", um seinen Gutachten einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben, zu Recht u.a. vom Psychiater Rasch, aber auch vom Juristen Thomas Fischer kritisiert, der allerdings, als er mit dem unbestimmtesten aller Rechtsbegriffe, der 'Lebenserfahrung', argumentierte, wohl eher neben der Sache lag, wenn auch die Lebenserfahrung eines Vorsitzenden Bundesrichters in dessen Spruchpraxis den Ausschlag geben kann. Gleichwohl gehören die griffigen Saß-Kriterien zum juristischen Inventar, die der BGH-Richter Theume denn auch auflistet, aber dann zu Recht "Vor einer Überbewertung dieses Merkmalskatalogs" (NStZ 1999, 274) warnt.

In der Festschrift für Günter Schewe (1991, S. 266-281) taucht bei Saß ein genetisch verstandener Charakterbegriff a la Kurt Schneider als "charakterliche Abweichung", "Charaktermängel" und "Charakterschwäche" wieder auf. Saß stützt sich bei der "Beurteilung auch der nichtkrankhaften Formen seelischer Veränderungen" auf sein "unmittelbares Evidenzerleben", sowie auf seinen "Erfahrungshintergrund über die krankhaften Störungen". Gleichwohl mühte sich Saß um Kataloge, zwecks 'handwerklicher' Mindestanforderungen bzw. 'Mindeststandards' - d.h. im Klartext: um den Eindruck von Wissenschaftlichkeit. 

In seiner persönlichen Praxis allerdings gelang ihm dies weit weniger, siehe nur das Gutachten Saß im Fall J. Meyer

Na denn: prost! 



Literatur:

- Gebauer, Die Lehre von der Teilgeschäftsfähigkeit, AcP 1954, 332-372

- Volker Lipp, Freiheit und Fürsorge - der Mensch als Rechtsperson..., 2000

- Link zur Parallele Betreuungsrecht: http://www.heise.de/tp/artikel/27/27399/1.html





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