Forschungslage

1. Rechtstatsachenforschung: Fehlanzeige 
Eine systematische Untersuchung oder etwa amtliche Statistiken über die von gerichtsseitig ausgelösten Zulassungsverfahren bei Zweifeln an der Prozeßfähigkeit liegen bislang nicht vor. bekannt geworden sind lediglich Einzelfälle. Einem diesbezüglichen Forschungsvorhaben stünde wohl auch die Ermessenshürde beim Einsichtsbegehren in Prozeßakten im Wege1.

2. Psychiatrische Lösung: überwiegender Mißbrauch
Der Psychiater Norbert Nedopil, einer der führenden Fachvertreter, spricht von der häufig bei Querulanten gesuchten "psychiatrischen Lösung". Nach Nedopil kann jedoch Prozeßunfähigkeit nur dann angenommen werden, wenn - etwa durch einen Wahn2 oder eine umfassende "überwertige Idee" - die Fähigkeit zu vernünftigen Erwägungen und zu rationalem Denken verloren gegangen ist. Lästiges und sogar selbstschädigendes Verhalten allein ist, nach Nedopil, keine psychiatrische Grundlage für die Annahme von Prozess- oder Geschäftsunfähigkeit (Norbert Nedopil, Forensische Psychiatrie, 2. Aufl., 2000, Seite 159). 
Nedopil reproduziert letztlich nur, was bereits seit über 100 Jahren von führenden Fachleuten vertreten wurde: "Unzulässig ist der Schluß, daß ein unpraktisches und hartnäckiges Verfechten des Rechts an sich etwas Abnormes sei" (Hb. d. gerichtlichen Psychiatrie, Hg. A. Hoche, 2. Aufl. Berlin 1909, S. 636). Und nun darf man heute noch staunen, auf S. 640 ist u.a. die Rede von den "sonstigen psychopathischen Persönlichkeiten". Hierzu heißt es: "Gerade bei diesen letzteren pflegt die Abgrenzung gegenüber der typischen querulierenden Paranoia die größten Schwierigkeiten zu machen, und sicherlich bleibt sie in vielen Fällen eine willkürliche."  

In seinem kaum bekannten Aufsatz "Schuld- und Prozeßfähigkeit von Querulanten" ( FORENSIA 5 (1985): S. 185-195)  teilt Nedopil mit, daß von 8 Gutachten über querulatorische Persönlichkeiten lediglich in zwei Fällen wegen "wahnhafte Einengung des Denkens und eine Verrückung der Maßstäbe" eine partielle Prozeßunfähigkeit festgestellt wurde; sechs der acht begutachteten Probanden waren in vollem Umfang prozeßfähig (aaO.,192). Auch noch in der 3. Auflage seiner "Forensischen Psychiatrie" von 2007 nimmt Nedopil Bezug auf seinen Aufsatz in der FORENSIA (1985) und bekräftigt diesen Standpunkt: Prozeßunfähigkeit bestehe bei sog. Querulanten nur, wenn durch eine wahnhafte Entwicklung der Bezug zur Realität verloren gegangen sei und sie durch den Wahn in ihrem Denken und Handeln eingeengt und deshalb nicht mehr in der Lage seien, neue Argumente zu berücksichtigen. In einem Interview (SZ 10.10.14) erläutert Nedopil die medizinische Grenzziehung zwischen Fanatismus und Wahn. "Sie ist klar dadurch definiert, dass Wahn nicht kommuniziert werden kann."  Unausgespochen meint dies: Unverständlichkeit für andere. Daß Verständnis immer auch subjektgebunden ist, wird ausgeklammert, obwohl dies der (übliche) Rückgriff auf die sog. 'klinische Erfahrung' regelrecht beweist, was zugleich auf die wissenschaftlichen Ungereitheiten der Psychiatrie verweist. Zur Zweifelhaftigkeit in der Frage der Grenzziehungssicherheit siehe faz.net vom 2.8.14 sowie FAZ vom 7.2.15.

Bedenkt man, daß jede psychiatrische Untersuchung, insbesondere wenn sie einem leichtfertig oder gar böswillig Psychiatrisierten abverlangt wird, einen schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte des Probanden darstellt, dann ist diese Relation erschreckend, zeigt sie doch, daß die Instrumentalisierung von Psychiatern durch den Staat - hier in Gestalt der Justiz - in ungebrochener Tradition steht. Immer wieder zeigen veröffentliche Einzelfälle, daß sich allerorten Psychiater finden lassen, die der Justiz die passenden Gutachten über lästige Rechtsgenossen liefern. Dabei hat die psychiatrische Wissenschaft auch für Laien verständliche Verdachts-Kriterien (pathologische Merkmale) entwickelt (siehe nur Nedopil, aaO.,188). Wenn Richter sich offensichtlich einer Zurkenntnisnahme dieser Kriterien willkürlich verweigern können, besteht rechtspolitischer Handlungsbedarf. 

Einen Nedopils verwandten Standpunkt nimmt - scheinbar - auch Habermeyer (unter Bezugnahme auf Dinger/Koch und Foerster) ein, wenn er schreibt: "Hierbei gilt es, querulatorische Entwicklungen von definierten psychischen Störungen zu unterscheiden, da nur letztgenannte Prozeßunfähigkeit begründen können" (E. Habermeyer in : Kröber u.a. (Hg.): Hb. d. forensischen Psychiatrie im Privatrecht u. öffentlichen Recht, Bd. 5 (2009), S. 87). Habermeyer ergänzt zutreffend den juristischen Topos "freier  Wille" (dessen einziges Kriteriun die Vernunft ist) dahingehend, daß Willensentscheidungen außer von kognitiven auch von emotional-affektiven Faktoren abhängig sind, um sodann das Recht jedes Menschen "auf wechselhafte oder irrationale Entscheidungen" zu postulieren (a.a.O., S. 60 u. 64). Das klingt zunächst sehr schön. Dann jedoch überwindet Elmar Habermeyer seine Bedenken ("Gefahr ins Spekulative abzugleiten"), indem er etwa bei depressiven Patienten "mit der oftmals reduzierten Durchsetzungsfähigkeit" dem Gericht "eine fachlich fundierte Basis für die normative Entscheidung" liefert, indem er sich darauf beschränkt, "Auswirkungen eines psychopathologischen Symptoms auf die Fähigkeit, sich gegenüber Außeneinflüssen abzugrenzen" darzulegen. So kann man also die Verantwortung als Richter in Weiß  abschieben und doch das Ergebnis der normativen Grenzziehung nach eigenem Gutdünken präjudizieren, und dies wohl auch bei der Begutachtung der Prozeßfähigkeit eines Probanden!  


3. Krankheitsbegriffe im Straf- und Zivilverfahren
Einigkeit besteht darin, daß sich der medizinische Krankheitsbegriff grundsätzlich vom juristischen unterscheidet (Nedopil in: Saß/Herpertz, Psychiatrie, 1996, 282; ders. in: Psychiatrie und Psychotherapie, Hg. Möller u.a., 2000, 1751). Je nach Rechtsgebiet wird mit unterschiedlichen Krankheitsbegriffen hantiert. Im Strafrecht etwa geht es um die Freiheit des Willens, s. §§ 20, 21 StGB.

Während sich die herrschende Meinung, mit Kurt Schneider als Protagonisten, auf einen somatischen (körperlich begründeten) Krankheitsbegriff beschränkte, mehrte sich in der 68er-Folge Reformstimmen, die für eine Erweiterung des psychiatrischen Krankheitsbegriffs in Richtung auf Psychologie, Psychoanalyse, Soziologie3 oder gar Anthropologie, Verhaltensforschung und neuerdings Psychobiologie plädierten. Entsprechend wird in "endogene" (psychologische) und körperliche exogene (biologisch/organische) Geisteskrankheiten unterteilt. Dabei handelt es sich bei endogen vermuteten psychiatrisch relevanten Erkrankungen, etwa Schizophrenie und Zyklothymie, um eine Black Box, denn es müssen allein aus dem Verhalten des Probanden Schlüsse auf seelische Störungen organischen Ursprungs gezogen werden. Theorien und Individualität des Untersuchers sind hier naturgemäß von erheblichem Einfluß.

Der psychiatrische Krankheitsbegriff war und ist bis heute umstritten, siehe nur Deckwitz/Siedow (Hg.), Standorte der Psychiatrie, Band 2, 1981.

Im Folgenden interessiert jedoch vorrangig der juristische Krankheitsbegriff, der sich zwar auch noch an der herkömmlichen, somatisch orientierten Psychiatrie-Schule orientiert, jedoch eine Erweiterung erfuhrAls "krankhaft" im Sinne des Gesetzes ... sind nun auch anlagemäßige, angeborene und erworbene Abweichungen von der Norm - dies freilich nur bei stärkerer Ausprägung - anzusehen. Die Juristen sprechen dann allerdings nicht, wie die Mediziner, von "krankhaft", sondern "von Krankheitswert". (Leferenz/Rauch, Über die Begutachtung der Zurechnungsfähigkeit, FS Kurt Schneider, 1947, 246). 

Den Juristen, seiner binären Entscheidungsorientiertheit entsprechend, interessiert also nurmehr eine Störung, deren Ausprägungsgrad das Urteilsvermögen und die "freie" Willensbildung beeinträchtigt oder ausschließt, mithin für sie "erheblich" ist. Ihm geht es allein um die Frage der Fähigkeit bzw. Unfähigkeit des Probanden, "seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen" (Standardformel).  Was noch oder eben nicht mehr "vernünftig" ist, entscheidet der Maßstab eines fiktiven - durchschnittlich vernünftigen - Dritten, in dessen Haut der Richter zu schlüpfen hat. Daß in den nicht gerade seltenen Grenzfällen letztlich Zufall und/oder Willkür entscheidet, liegt auf der Hand. Zusammengefaßt: Den Juristen interessiert allein die Grenzziehung

Die Gutachter gehen heute zwei- oder mehrstufig vor: Nach der psychiatrischen Diagnose, ggf. also der Feststellung einer Funktionseinschränkung, kommt es, im 2. "Stockwerk", auf den Grad an, der entscheidend für die Frage der Schuld(un)fähigkeit ist, die je nach Gesetzestext unterschiedlich zu beantworten ist. 

Die Untergliederung in zwei Stockwerke findet ihre Analogie im Verwaltungsverfahren: Dort ist zwischen Tatbestandsseite der Norm (auch: Tatbestandsvoraussetzungen), auf der es nach herrschender Meinung kein Ermessen gibt, und dem Handlungs- bzw. Planungsermessen im Rahmen gesetzlicher Zielvorgaben. Diese Zielvorgaben sind allerdings mit unbestimmten Rechtsbegriffen gespickt. Die Literatur zur Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe ist schier unübersehbar, siehe nur folgendes BeispielBegründet wird die begriffliche Unbestimmtheit und der Ermessensspielraum mit dem Erfordernis der Einzelfall- bzw. Individualgerechtigkeit. Die verwaltungsgerichtliche Kontrolle ist auf die Prüfung hinsichtlich Ermessensfehlgebrauch oder Grenzüberschreitungen begrenzt. Auch Nichtgebrauch des Ermessens würde eine behördliche Entscheidung rechtswidrig machen, denn die Behörde muß alle für die Ermessensentscheidung wesentlichen Gesichtspunkte in Betracht gezogen haben. Fehlerhaft wäre sodann eine Ermessensüberschreitung sowie eine Zweckverfehlung (§ 114 VwGO). 

Zurück zu unserem Thema: Aufgrund vorkonstitutioneller Herkunft der §§ 51ff ZPO besteht keinerlei Klarheit über deren gesetzlichen Zielvorgaben. Bezweckt der Gesetzgeber etwa Schutz des Klägers vor sich selbst, Schutz des Beklagten oder Schutz der Institution Gerichtsbarkeit, letzteres (auch ?) im öffentlichen Interesse? Oder sollte diese Reihenfolge umgekehrt gelten? Beim Balanceverhältnis des klägerischen Justizgewährungsanspruchs und des Beklagtenschutzes überwiegt der Anspruch des Klägers auf gerichtliche Auseinandersetzung (Steinberg, aaO., S. 77). 
Was aber gilt bei der Abwägung  zwischen dem Interesse des Klägers gegenüber dem der Institution Gerichtsbarkeit? Selbst wenn es hier überhaupt um gleichgewichtige Prinzipien geht - es müßte bereits dem Gesetzgeber verfassungsrechtlich bedenklich erscheinen, daß derselbe Richter, der in der Streitsache als neutraler Dritter zwischen den beiden Parteien entscheiden soll, auch über den Geisteszustand der Parteien (üblicherweise des Klägers) entscheidet, dies umso mehr, als das Beurteilungsermessen aufgrund dieser ungeregelten Gesetzeslage nahezu beiderseits (Richter und Psychiater) schier grenzenlos ist.  

Denn die Ursache der psychischen Störung interessiert weder den Gutachter, der hier nicht als Arzt, sondern als - ein von Amts wegen beauftragter - Richter"gehilfe" agiert, noch den Richter. 

Auch heute noch gilt, was Oswald Bumke in seinem 'Lehrbuch der Geisteskrankheiten' von 1936, dort Seite 144, bekannte: "Aber richtig bleibt immer, daß es oft eine Sache der Willkür ist, ob wir einen Menschen bloß als ungewöhnlich oder schon als krankhaft bezeichnen." Beurteilungsermessen (vulgo: Willkür) Willkür bestimmt die Entscheidung über noch prozeßfähig oder bereits prozeßunfähig also bereits auf Gutachterseite mit.  

Ob eine statisch orientierte Lagebeurteilung des prozessualen Handelns einer Partei überhaupt grundgesetzkonform ist, kann bezweifelt werden, denn bei statischer Betrachtung völlig aus dem Fokus gerät die Frage, inwieweit die Prozeßleitung durch den jeweiligen Richter nicht das abnorm erscheinende prozessuale Verhalten erst induziert haben könnte, oder anders: ob der Richter überhaupt einen Versuch unternommen hat, das Verfahren - auf Rüge hin - fairer zu gestalten (mehr dazu unter Ziffer 5 = Interaktion).

4. Zur Methode der Begutachtung
Nedopil entwickelte folgendes Schema: Klinische Diagnose / Subsumption unter einen juristischen Krankheitsbegriff / Hypothese über die Funktionsbeeinträchtigung / Quantifizierung (Schweregrad) / Benennung der Wahrscheinlichkeit, daß die klinische Hypothese zutrifft.

Grundsätzlich ist zivilrechtlich zu unterscheiden zwischen (a) Zweifel an der psychischen Gesundheit (= Verdacht auf Geisteskrankheit)  und (b) Zweifel an der Normalität, die bei Erwachsenen gesetzlich vermutet wird. Grundlage ist der Verdacht auf das Vorliegen schwerer Psychopathien oder Persönlichkeitsstörungen. Für die Gerichtspraxis sind unausgesprochen Anpassungsstörungen "von Krankheitswert" (BGH-Diktion) relevant , sofern "erheblich".     

Herausragendes juristisches Kriterium im Zivilverfahren ist das der Rationalität. Für diese stehen Adjektive wie "vernünftig", "rational", "nachvollziebar", "schlüssig", "begründet", "angemessen", "verhältnismäßig",  "kontrolliert", "sachadäquat" oder - neu vom Dienstgericht des BGH (Urteil vom 17.10.1977, RiZ (R) 2/77) kreiert - "tatsachenadäquat". Alle diese wertenden Adjektive stehen für den "freien Willen", der wiederum Grundvoraussetzung von Prozeßfähigkeit ist.

Demgegenüber schürfen die Psycho-Sachverständigen (Psychiater und Psychologen) tiefer, indem sie von Symptomen zu Syndromen gelangen und die diagnostische Bewertung in begriffliche Konstrukte kleiden, die sich historisch permanent im Wandel befinden, man denke nur an den Begriff "Neurose". Neurosen manifestieren sich zumeist in Reaktionen auf äußere Reize, Nweurosen sind danach "chronisch abnormen Erlebnisreaktionen". Nach de Boor (1959) braucht der neurotische Mensch sowohl ein Publikum als auch einen Ernährer (Krankenkasse usw.) und er betont die Seltenheit von Neurosen im Konzentrationslager. Von dynamischer, verstehender Psychologie oder gar von der Psychoanalyse hält de Boor natürlich nichts. (Mehr zu de Boor, Prototyp deutscher Psychiatrie, siehe unter Dr. Weigand.

Gerd Huber (Psychiatrie, 6.Aufl. 1998, 442) unterscheidet zwischen Psychopathien und Neurosen: Es gibt "einfache" übercharakterlichen Persönlichkeitsentwicklungen, die ohne scharfe Grenzen in die neurotischen übergehen, aber auch mehr charakterogene Persönlichkeiten. "Einfach" sei die Entwicklung des Michael Kohlhaas, womit Huber nur die Kleist'sche Konstruktion des Kohlhaas-Charakters meinen kann. Neurotische Entwicklungen wurzelten in der frühen Kindheit, weshalb Neurosen als psychoanalytisch behandelbar gälten. Demgegenüber wurzelten Psychopathien in einer "vorgegebenen, konstitutionell und erblich fixierten Grundstruktur". Bei den Neurosen sei "mehr die psychologisch-dynamische Entwicklung betont" (Huber, a.a.O., 408). 

Hermann Witter spricht, ganz Kurt-Schneider-Schule, von ''Akzentuierung": "Läßt sich bei einem abnormen Verhalten der Akzent deutlich auf den umweltbedingten Erlebnisfaktor setzen, dann nennen wir dies 'neurotisch' im engen Sinne. Läßt sich der Akzent mehr auf Veranlagung setzen, dann sprechen wir von 'psychopathischem' Verhalten." Immerhin räumt Witter ein, daß die Verteilung der Akzente "in erheblichem Maße von subjektiver Evidenz abhängig bleibt", und sogar: "... aber es kann Lebensschwierigkeiten geben, unter denen auch der normal Veranlagte schließlich neurotisch wird" (Witter, NJW 1964, 1167). 

Kommentar: Wenn die Differenzialdiagnose Neurose/Psychopathie in erheblichem Maße von "subjektiver Evidenz" abhängt, und wohl nichts anderes für die Grenzziehung zwischen "normal" und "abnorm" gilt, so macht Witters Bekenntnis das Ausmaß deutlich, in dem psychiatrische Diagnosen/Bewertungen person- und zeitgeistabhängig sind! 

Die Auswahl des psychiatrischen Gutachters und dessen ideologische Ausrichtung bestimmt also das Endergebnis wesentlich mit, nicht zuletzt auch deshalb, weil es auch und gerade in der Psychiatrie sog. "Schulen"4 innerhalb und außerhalb der nationalen Grenzen gibt. Hinzu tritt dann noch die weithin subjektiv geprägte Vorstellung des Richters von "normal" und "abnorm". 

Im Strafrecht relativ neu ist eine Diskussion des "Hang"-Begriffes im Zusammenhang mit dem neuen Therapieunterbringungsgesetz (ThUG), siehe dazu G. Merkel in BJ 12/2011Das ThUG verwendet zwar den Begriff der psychischen Störung, bestimmt ihn aber selbst nicht. (Das neue ThUG, in Kraft seit 01.01.2011, fand übrigens seitens der Psychiatrie keinen ungeteilten Zuspruch, siehe die kritische Stellungnahme der DGPPN.)


Für den Juristen ist "psychische Störung" ein unbestimmter Rechtsbegriff, der mit dem der Psychiatrie nicht deckungsgleich ist. Was das Strafrecht angeht: Dissoziale bzw. antisoziale Persönlichkeitsstörungen5 können auf ausgeprägten narzistischen (juristisch: egoistischen) Zügen/Akzentuierungen beruhen und gelten weder als krankhaft noch als krankheits- oder störungswertig. Schließlich "können und dürfen" Gefährlichkeit und Kriminalität nicht per se vom Begriff der psychischen Störung erfaßt werden (OLG Hamm, 9.6.2011).


Für unser zivilrechtliches Thema ist nun interessant, daß die psychiatrischen Gutachter von "psychischer Störung" nur (noch) dann sprechen möchten, wenn der Träger darunter - d. h. an sich selbst - leidet, dies auch bei "maximaler Egozentrik" (juristische Diktion) bzw. einer narzistischen Struktur (psychiatrische Diktion). Per definitionem leiden Narzisten - infolge mangelnder Empathiefähigkeit - bekanntlich nicht.

Der maximale Narzisst verfügt also über keinerlei Empathie, einher damit geht der Mangel an Unrechtsbewußtsein. Dies jedoch, so die Psychiater, sei weder Ausdruck einer psychischen Krankheit, noch auch nur einer psychischen Störung. Vielmehr handelt es sich um eine "Haltung" bzw. ein "Lebens- und Denkstil" ... man erinnert sich an LombrosoL'uomo delinquenteDie Psychiatrie (als Hilfswissenschaft der Justiz) bewegt sich also in Richtung auf die Bedürfnisse der Strafjustiz: Der im Strafrecht relevante "Hang" bedeutet nun, daß eine psychische Störung gerade nicht vorliegt. Hang führt - nach Strafverbüßung - zu Sicherheitsverwahrung. Daß (erst) mit Wirkung vom 1.1.2011 im §  67d Abs. 3 StGB die Worte "infolge seines Hanges" gestrichen wurden, ändert inhaltlich nichts: "Hang" = Unverbesserlichkeit bedeutet im Juristendeutsch: "therapieunfähig", im Medizinerjargon: "therapieresistent". 
Allein psychisch Gestörte sollen daher in der geschlossenen psychiatrischen Anstalt - mit dem Ziel der "erfolgreichen therapeutischen Aufarbeitung" - untergebracht werden, die gesunden, jedoch abnormen "Hang"täter erhalten schlicht Sicherungsverwahrung im Schutzinteresse der Allgemeinheit, die allerdings - als sog. Maßregel - nicht als Strafe ausgestaltet sein darf, weshalb das sog. Abstandsgebot zu beachten ist. Wie in Rn. 113 der Entscheidung des BVerfG vom 4.5.2011, 2 BvR 2365/09, ausgeführt, ist auch bei Sicherheitsverwahrten eine Behandlungsuntersuchung mit anschließendem Vollzugsplan zu erstellen, um dem Untergebrachten eine "realistische Perspektive auf Wiedererlangung der Freiheit zu eröffnen." Soweit das Strafrecht.

Die Parallelität zum Zivilprozeß ist nicht zu übersehen: Unausgesprochen erinnert diese Diskussion an die Psychopathen-Definition Kurt Schneiders, die da lautet: 
"Psychopathische Persönlichkeiten sind solche abnormen Persönlichkeiten, die an ihrer Abnormität leiden oder (!) unter deren Abnormität die Gesellschaft (!) leidet." 

Während Kurt Schneider allein auf die Abnormität (Annormalität) fokussierte, Schneiders "Psychopathen" werden von ihm als gerade nicht krank beschrieben - obwohl sie doch - teilweise - leiden (!) - , wird in der forensischen Psychiatrie heute zwischen krank (Psychopathie im heutigen Verständnis) und gesund (normal oder abnorm) unterschieden, wobei "normal" für "angepaßt" steht. Therapiert wird der Kranke (in einer therapeutischen Anstalt), bestraft - und ggf. wegen seiner permanenten Gefährlichkeit verwahrt (in einer Justizvollzugsanstalt) - der psychiatrisch nicht kranke Nichtangepaßte. Jedoch: dies war einmal. 

Denn das Bundesverfassungsgericht hat sich dieser Zweiteilung (in dem Kammerbeschluß vom 15.9.201162 BvR 1516/11) zwar angeschlossen, jedoch im vorausgehenden Senatsbeschluß vom 4.5.2011 den Gesetzgeber - unter Hinweis auf die vorangegangene Entscheidung des Senats vom 5.2.2004 - barsch gerügt, bislang nichts dergleichen getan zu haben (siehe Rdn. 120) und ihm detaillierte Regelungen auferlegt, über die üblichen therapeutischen Möglichkeiten hinausgehende "individuell zugeschnittene Therapieangebote" (ohne Rücksicht auf Aufwand und Kosten) zu entwickeln, was immer dies auch sein könnte: Das BVerfG spricht dort von "psychologischer oder psychiatrischer Betreuung" sowie von "sozialtherapeutischen Einrichtungen" und Übergangsregelungen, wie einem "gesicherten sozialen Empfangsraum" - quasi ein Wartesaal. 

Nach Kant besitzt der Mensch Würde, weil er Träger des sittlichen Gesetzes ist. Unserem Grundgesetz liegt dementsprechend das Menschenbild eines von einem zu freier Selbstbestimmung befähigten Menschen zugrunde. Auch das Schuldprinzip wurzelt im sittlichen Gesetz - und damit in der Menschenwürde (BVerfG, 2 BvR 2365/09 vom 4.5.2011, Rn. 104). Im Klartext heißt dies: der Staat darf - von Verfassung wegen - die Hoffnung nie aufgeben, denn die Würde des Menschen ist unantastbar (Art. 1 GG). Nicht zu verschweigen ist allerdings, daß die Revision bundesdeutschen Strafrechtes durch den EuGMR, siehe das Kammerurteils vom 17.12.2009, ausgelöst wurde. Sei's drum: Kurt Schneider und seine Zeitgenossen würden sich die Augen reiben... ! 

Was geblieben ist: 
Unverändert kommt es bei Gericht auf den Grad - juristisch gesprochen: auf das "Gewicht" - einer Störung oder Krankheit an, denn die juristische Entscheidung ist eine Ja-Nein-Entscheidung (zwischen schuldig oder nicht schuldig bzw. zwischen prozeßfähig und prozeßunfähig), was heißt: Bei der vom Gericht zu entscheidenden Rechtsfrage kommt es - allein - auf den Schweregrad (juristisch: Erheblichkeit) an, wozu die Psychiater um Hilfestellung bemüht sind, siehe nur Nedopil (Kury (Hg.) Ausgewählte Fragen, 1987, 279ff): Bemühungen um verbindliche diagnostische Graduierungsverfahren für psychiatrische Gutachten. 
   
Die juristische Dichotomie verlangt die Ausklammerung der leichteren Formen geistiger und seelischer Störungen, was der Gefahr einer "Vernunfthoheit des Arztes über Patienten" entgegensteuert (BVerfGE 58, 226f). 

Leider finden sich in der Literatur keine Erläuterungen zu dem Rechtbegriff der "partiellen Prozeßunfähigkeit" und insbesondere nicht zur Schweregradbestimmung. Tatsächlich ist dieser Bereich immer noch eine terra incognita. Mit "partiell" kann gemeint sein, daß Prozeßunfähigkeit (jedenfalls) in einer bestimmten Konfliktlage vorliegt, siehe z.B. das VG Düsseldorf Urteil vom 1.2.2011- 
2 K 9147/10 - . 

Daneben gibt es gemäß BAG neben "durchgehender" Prozeßunfähigkeit auch noch eine "zeitweise" Prozeßfähigkeit, siehe den Beschluß des BAG vom 5.6.2014 - 6 AZN 267/14.

Einigkeit besteht lediglich darin, daß es - aus Gründen der Rechtssicherheit - keine relative, nach Schwierigkeit der Prozeßführung gestufte, Prozeßfähigkeit geben soll.

Der eigentliche Skandal ist jedoch, daß die Rechtsprechung - ohne gesetzliche Grundlage - die Partei ausschließlich bei der Frage der partiell eingeschränkten Prozeßfähigkeit im Zweifel, d. h. im Falle des non liquet,  prozessual entmündigt, anders als im Strafrecht: Dort gilt im Zweifel: in dubio pro reo7, was bedeutet: hat das Gericht unausräumbare Zweifel an der Schuld des Täters, muß es ihn frei sprechen. Gleiches gilt bei der Geschäftsfähigkeit für das Zivilverfahren: hier trägt der Staat die Beweislast, denn immerhin geht es um eine teilweise oder sogar vollständige Auslöschung eines Rechtssuchenden in seiner Eigenschaft als Rechtspersönlichkeit mittels Entmündigung.  

Immerhin ist streitig, ob der Zweifelsgrundsatz 'in dubio pro reo' auch auf Prozessvoraussetzungen angewandt werden kann oder sogar muß. Dies wurde früher überwiegend verneint, wird heute immerhin teilweise angenommen - unter Hinweis auf die fundamentale Bedeutung der Prozessvoraussetzungen für den Betroffenen. Die Kritiker vertreten die (Minder-)Meinung, daß derjenige, der die Verfahrens- bzw. Prozessunfähigkeit behauptet, die objektive Beweislast (Feststellungslast) für die Richtigkeit seiner Behauptung trägt (J. Lange in: jurisPK-BGB, 6. Aufl. 2012, § 104 BGB)

Wenn im Strafverfahren bei Zweifeln an der Verhandlungsfähigkeit  - hier sicherlich wohlmeinend zum Schutze des Angeklagten - der Grundsatz 'in dubio pro reo' im Falle eines Rechtsmittelverzichtes nicht gilt (BGH - NStZ 1984, 181 u. 329), so geht es im Zivilverfahren bei auftauchende Zweifel an der Prozeßfähigkeit einer Prozeßpartei - insbesondere wenn diese Zweifel von Richterseite erhoben wurden - wohl weit seltener um den Interessen-Schutz der betroffenen Partei, denn auch hier gilt nach herrschender Meinung der In-dubio-pro-reo-Grundsatz nichtKönnen die Zweifel nicht ausgeräumt werden, oder verweigert die mit Zweifeln überzogene Partei die angeordnete psychiatrische Untersuchung, gilt der Betroffene als prozeßunfähig. Prozeßparteien werden diesbezüglich wie Beamte, Richter oder Notare behandelt, deren Dienstunfähigkeit in Zweifel steht (pars pro toto siehe § 56 BayBG). Es handelt sich um eine normative Wertentscheidung, d.h.: die Entscheidung liegt bei den Juristen. In der Rechtsprechungspraxis heißt dies: kann der psychiatrische Gutachter - etwa nach Aktenstudium oder Beobachtung der mit Zweifeln überzogenen Partei -  eine Geistesstörung "nicht ausschließen", reicht dies dem Richter hin, den Betroffenen als prozeßunfähig abzustempeln!8 
 
5. Interaktion
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Justiz selbst, etwa dadurch, daß sie anhaltend auf die persönliche Vorladung der Parteien - etwa bei einem Scheidungsverfahren - verzichtet, beim Prozeßgegner querulatorisch wirkendes Prozeßverhalten evozieren kann. Dies macht deutlich, wie dringend geboten die Interaktionsforschung bezüglich der Wechselwirkung zwischen dem Verhalten von Richter und Rechtssuchenden wäre, die gleichwohl noch in den Kinderschuhen steckt. 

a) Die deutschsprachige Psychologie ist ganz auf das Individuum, nicht auf dessen Einbindung in Systeme, hin orientiert. Soweit ersichtlich, existieren keinerlei psychologischen Untersuchungen über Richtereinstellungen oder  Richterverhalten und ebensowenig über systemspezifische Dynamiken. Allerdings werden zunehmend Diplomarbeiten/Dissertationen angefertigt, die nachweisen möchten, daß psychiatrische Gutachten Straftäter zunehmend Verständnis aufgrund ihrer Biographie in Abkehrung vom statischen Psychopathenbegriff Schneider'scher Provenienz erfahren. Beispiel 1, und 2 . Im Zuge der 68-Ära erweiterte etwa Haddenbrock die Schneider'sche Dichotomie (Psychopathie / Neurose) um die "soziogene" Komponente, die er zwischen anlagegebunden/hereditär und unterbewußt-neurotisch/psychoreaktiv ansiedelte. Diese soziogenen Wurzeln ließen sich eher mit "mehr sozialbiographischen und psychologischen als psychiatrischen Untersuchungsmethoden" explorieren. Haddenbrock gelangt zur Erkenntnis, daß ein "psychodynamisch und entwicklungspsychologisch ausgebildeter Psychiater" psychosoziale Milieuschäden diagnostizieren könne; deshalb "muß entweder der forensische Psychiater selbst psychodynamisch und psychologisch erfahren sein oder sich der ergänzenden Mitarbeit eines forensischen Psychologen versichern." (Haddenbrock, NJW 1979, 1235)

Was für die Begutachtung von Straftätern gilt, muß erst recht für die Begutachtung von "Justizquerulanten" im Zivilverfahren hinsichtlich ihrer Prozeßfähigkeit gelten, geht es doch bei diesen nicht allein um Milieuschäden, sondern oftmals zugleich oder sogar zuvörderst um durch unsensible und inadäquate Rechtsanwendung induziertes psychoreaktives Verhalten. Deshalb wären beide Seiten, Richter und Rechtsunterworfener, in den Blick zu nehmen, also das interaktive Geschehen in psychodynamischer Perspektive - wohl tatsächlich eher eine Domäne von Psychologen. 

Aber auch ohne Einbeziehung des Richterverhaltens und bei Beibehaltung des Blicks "von oben" sollte folgendes vergegenwärtigt werden: Zwar explorieren Psychiater bei Querulanten gerne eine "progrediente" (=fortschreitende) querulatorische Entwicklung. Zugleich jedoch sehen sie "ausgesprochen fließende Übergänge zwischen der querulatorischen Persönlichkeit und dem Querulantenwahn" (Saß, Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie, 2010, 227). Bereits dies eröffnet dem Psychiater einen schier grenzenlosen Entscheidungsspielraum bei der Grenzziehung - die ja eigentlich Sache des Richters wäre! 

b) Allein von Seiten der Soziologie gab es zarte Ansätze interaktioneller Perspektive, allen voran stand diesbezüglich Kaupen. Was hinter den Kulissen abgeht, blieb, wenn man von Lautmanns Bericht absieht, bislang im Dunkeln und läßt sich nur aus seltenen, subjektiv gefärbten Richterbekundungen erahnen. Das auf die interaktionistische Perspektive ausgerichtete Querulanten-Projekt Kaupens konnte durch dessen frühen Tod nicht zum Ende geführt werden. Die Psychologin Andrea Dinger befaßte sich in ihrer Dissertation von 1988 (Querulatorisches Verhalten im Justizsystem) mit dem unter Kaupen gesammelten Material. Die Untersuchung, insbesondere die Interviews mit "Querulanten" und Richtern wiesen jedoch eine erhebliche Asymmetrie auf, ganz abgesehen von der geringen Beteiligungsrate auf Richterseite. Die größte Schwäche der Dinger'schen Untersuchung dabei war, daß die Gegenüberstellung von Sichtweisen nicht auf der Ebene des einzelnen Falles erfolgte, sondern "überindividuell"(S.103). Damit jedoch mußte die Kaupen'sche Fragestellung unbeantwortet bleiben, denn Interaktionen lassen sich natürlich nur am konkreten Einzelfall - hier vor allem durch das Studium der Prozeßakten, verbunden mit anschließenden Interviews -  analysieren, was ohne juristische Kenntnisse auch nicht möglich gewesen wäre. 

Wenn Dinger zwei "Prozeßkarrieren" (Frau B und Herr S.) vorstellt, so tritt als gravierender Mangel die Abwesenheit der juristischen Faktenlage und deren justizielle Behandlung durch Proband und Justiz hervor. Die Analyse erscheint in vollständig personalisierter Form und liegt daher neben der Sache, wenn es heißt, daß die Konflikte möglicherweise nicht auf der Inhaltsebene zu suchen seien, sondern auf der Beziehungsebene. Dies spricht weniger für eine psychologische und mehr für eine "typisch" weibliche Perspektive. In ihrer Zusammenfassung schließlich nennt Dinger zwar die Gefahr, daß die psychologische Perspektive Querulanz nur zum Problem des Individuums mache: genau dies jedoch passierte. 

Dinger förderte im wesentlichen auch nur die aus der Literatur bekannten Stereotypen zutage, die Kernfrage nach der Wechselwirkung zwischen Justizverhalten und Reaktion mußte unbeantwortet bleiben. Interessant immerhin ihre Feststellung, daß in den psychiatrischen Gutachten "nur selten nach den Motiven oder Hintergründen für das querulatorische Verhalten geforscht wurde" (S. 166), und damit eine wesentliche Frage, nämlich die der Verhältnismäßigkeit, nicht gestellt und beantwortet wurde, dies ist umso bedauerlicher als sie ein ganzes Kapitel (8) den "Ursachen und Motiven querulatorischen Verhaltens" widmete, und durchas Interessantes zutage förderte.

Die ursprüngliche Projektgruppe unter Kaupen betrachtete das Phänomen Querulanz als Widerspiegelung eines allgemeinen Problems des Rechtswesens. Ziel war Kritik am Justizapparats aus juristischer oder rechtssoziologischer Sicht. (S. 212 - 214).

Der Untersuchungsansatz Dingers geht bereits vom Stereotyp des gewissermaßen fertigen oder gar geborenen "Querulanten" aus. Wenn sie feststellt, daß es sich "in den meisten Fällen" bei Querulanz nicht um ein reaktives, sondern um ein aktives Verhalten handelt (S. 226), so erklärt dies das magere Ergebnis ihrer Arbeit anhand des von Kaupen vorgearbeiteten Materials, dem es ja wohl gerade auf die restlichen der "meisten Fälle" angekommen wäre (siehe hierzu die Seiten 228ff). 

In dem ausgerechnet Kaupen gewidmeten Artikel (R&P 4/1987, 126 ff) geht es lediglich um die "Sicht von Berufsgruppen des Justizsystems" und nicht um die Gegensicht, folglich nicht um die beiderseitigen Anteile. Im Ergebnis zeigt die Psychologin Dinger und wohl auch ihr Doktorvater Uwe Koch eines in großer Klarheit:

1. Ohne juristische Kenntnisse kann die Rolle der Justiz bei der interaktiven Hervorbringung von sog. Querulanz nicht hinreichend erfaßt werden, da die Denksysteme nicht kompatibel sind, was heißt: in Zweifelsfällen kann nur ein juristisch geschulter Sachverständiger hinreichend kompetent sein, um tragfähige Aussagen zur Grenze zwischen prozeßfähig und prozeßunfähig machen zu können.

2. Immer auch ist der justizielle Anteil an der vermeintlichen Entwicklung von Querulanz festzustellen und in die Bewertung der Reaktion des justizunterworfenen Rechtsuchenden einzubeziehen. es geht also um die interaktionistische Perspektive9. Um dieses zu leisten, bedarf es nicht nur forensisch-juristischen, sondern auch psychologisch-soziologischen Sachverstandes. Eine ganz wesentliche Rolle spielen dabei die Machtverhältnisse.10 
Interaktionistische Untersuchungsmethoden rühren, wie H. S. Becker richtig feststellte, an die gesellschaftliche Hierarchie der Glaubwürdigkeit, wenn sie etwa auch die Justizjuristen zu Untersuchungsobjekten machen, sie brechen in der Tat die Verschleierung und Mystifizierung von Macht auf. Die Untersuchung Lautmanns blieb daher auch die erste und letzte auf bundesdeutschem Boden.

3. In Fällen der sog. "genuinen" Querulanz oder gar böswilliger Psychiatrisierung reicht die Kompetenz eines Psychiaters nicht aus.



Anmerkungen:
1 Peglau, Die Einsicht in Prozeßakten zu Forschungszwecken, NEUE JUSTIZ 10/1993, 440-443

2 Auch in den heutigen Klassifikationen hält der Krankheitsbegriff "Wahn" seinen Platz, dies in diversen Untergruppen, wie etwa Folie `a deux - und eben den Querulantenwahn ( ICD-10-F22.8 ) als Geisteskrankheit. Allerdings: Der Wahn ist "das komplexeste Phänomen seelischer Störung" (Faust). Eine wahnhafte Störung ist offenbar schwer abgrenzbar von einer paranoiden Persönlichkeitsstörung, siehe dazu die ans Kuriose grenzende BGH-Entscheidung vom 18.11.2013, dort v. a. Rz. 6.
Ein Wahn soll durch folgende Kriterien bestimmbar sein: 1. Die wahnhafte Überzeugung wird mit absoluter (subjektiver) Gewissheit erlebt; 2. sie ist auch durch zwingende Schlüsse unbeeinflussbar; 3. die wahnhafte Überzeugung ist unkorrigierbar, auch wenn sie von der soziokulturellen Umgebung nicht geteilt wird; 4. der Wahn entsteht aus krankhafter Ursache. 
Anm.: Problematisch daran ist sicherlich die wissenschaftliche Nachweisbarkeit des - medizinischen, nicht juristischen! - vierten Kriteriums: die krankhafte Ursache.

3 charakteristisch für die 68-Literatur das Buch der in der anti-psychiatrischen Strömung schwimmenden Soziologin Marianne Krüll: Schizophrenie und Gesellschaft, 1976, Neuauflage 1986, die die Nervenärzte in die "biogenetische" Ecke stellt und - aus dem soziologischen Elfenbeinturm gesehen - die "Soziogenetiker" als Gutmenschen darstellt. Wenn es doch so einfach wäre! Treffend die Kritik von Klee in der Zeit. Die wesentlichere, hier im Mittelpunkt stehende Frage ist die der Transparenz und Kontrolle von Gewaltmonopolisten, hier der Richter bei der Auslegung und Nutzung unbestimmter Rechtsvorschriften, hier des § 56 ZPO.   

4 siehe nur Gabriele Wolfslast (MschrKrim 1979, 76ff), Wilfried Rasch (MschrKrim 1982, 257ff; R&P 1992, 76ff), Norbert Konrad, Der sogenannte Schulenstreit, 1995.

5 die Strafrechtswissenschaft kategorisiert nach Schwere der Straftaten und unterschied die überwiegend bloß lästigen "willensschwachen und haltlosen Asozialen" (arbeitsscheue Bettler, Landstreicher, Prostituierte, 'Gammler') von den "planenden, energischen und rücksichtslosen Antisozialen, den eigentlichen Kriminellen (Schaffstein, FS f. Karl Engisch,1969, 654). Die zwangsweise Einweisung der ersten Gruppe in ein Arbeitshaus o.ä. ist nach BVerfG 22, 180ff obsolet. Für die Antisozialen blieb es jedoch bei der Möglichkeit der Sicherheitsverwahrung.

6 s. a. die Besprechung dieser Entscheidung von Grischa Merkel in Betrifft:Justiz, 12/2011, S. 202-208

7 dem in-dubio-pro-reo-Grundsatz (der Verfassungsrang genießt) liegt folgende Fragestellung zugrunde: Was stellt die größere Verletzung dar - eine möglicherweise fehlerhafte Verurteilung oder ein möglicherweise fehlerhafter Freispruch?
Die Antwort lautet: Dem Individuum gebührt höherer Schutz als die Allgemeinheit. Umso fragwürdiger ist, daß bei nicht ausräumbaren Zweifeln an der Prozeßfähigkeit der in-dubio-pro-reo-Satz nicht gelten soll, denn dies bedeutet, als daß Rechtsgewähr des Einzelnen hinter dem Schutz der Institution Gerichtsbarkeit (um die es vorrangig geht) vor Störungen zurücktritt!

Die Abhängigkeit des Gutachters vom Richter wurde bereits dargestellt, so daß die Hinrichtung der Menschenwürde in den meisten Fällen, selbst dann, wenn sich der Betroffene explorieren ließe, nicht selten vorprogrammiert war. 

9 siehe dazu Howard S. Becker: Outsiders, 1963 (deutsch: Aussenseiter, Fischer 1973, darin auch seinen Vortrag von 1971 "Nachträgliche Betrachtungen zur Etikettierungstheorie")

10 Inzwischen ist bekannt, daß bewusster oder unbewusster Einsatz suggestiver Befragungstechniken zu falschen Geständnissen und folglich zu Fehlverurteilungen Unschuldiger führen. Justizquerulanten sind eher älter, falsche Geständnisse produzieren eher jüngere Vernehmungspersonen. In beiden Fällen jedoch geht es um Interaktionsstörungen vor dem Hintergrund verfehlter Machtausübung staatlicher Funktionäre. Die Beforschung beider Phänomene steckt - da nicht im allgemeinen Interesse staatlicher Entscheidungsträger - immer noch in den Anfängen, siehe etwa





Literatur:
- Howard S. Becker, Aussenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens, 1981, dort v. a. S. 6, 159-188
- Wolfgang Kaupen, Sind Querulanten geisteskrank?, Zs. f. Rechtssoziologie, 1/1982, 171-179
- Rüdiger Lautmann:Justiz - die stille Gewalt, 1972 (einzigartige Studie: verdeckte teilnehmende Beobachtung bei der Beratung von Richtern)
- Norbert Nedopil, "Schuld- und Prozeßfähigkeit von Querulanten" ( FORENSIA 5 (1985): S. 185-195
- Andrea Dinger, Querulatorisches Verhalten im Justizsystem, Diss. Freiburg i. Br., 1988
- Dinger/Stein/Koch, Querulanz aus der Sicht von Berufsgruppen des Justizsystems, R&P 4/87, 126-133
Norbert Nedopil, Forensische Psychiatrie, 2. Aufl., 2000
- Koch/Dinger-Broda, Querulatorisches Verhalten im Justizsystem aus Sicht betroffener Rechtssuchender, GS für Kaupen: "Empirische Rechtssoziologie", 2002, 251-267
- Georg Steinberg, Richterliche Gewalt und individuelle Freiheit, 2010

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