Gutachter-Frage

"Die Vorstellung vom neutralen Beobachter erweist sich als ein Märchen. Unsere Absichten bestimmen, was und wie wir es beobachten." (v.Uexküll u. a., zitiert nach Crefeld)

Vorweg ist klarzustellen, daß die Gerichte nicht in jedem Falle eine Begutachtung in Auftrag geben müssen, denn in Fällen "offensichtlicher", also zweifelsfrei krankhafter Querulanz in Gestalt mißbräuchlichen Prozessierens kann das Gericht auch selbst in der Frage der Prozeßunfähigkeit entscheiden, so wie jüngst das VG Düsseldorf am 7.08.2015. Im gängigen Falle bloßer "Zweifel" muß das Gericht aber ein Sachverständigengutachten einholen. Nur um diese Fälle geht es nachfolgend:

Zur Einführung s. d. Übersichtsreferat von Mohammad Zoalfikar Hasan: Der gerichtspsychiatrische SachverständigeSiehe auch auf dieser Site unter

Grundsätzlich gilt, daß die Sachkunde eines Gerichtssachverständigen deutlich über die des durchschnittlichen Berufsträgers herausragen muß. Hinzu müßte ein weiteres Desiderat kommen, nämlich ein "charakterlicher Garant"1Gerade im aktuellen Fall Mollath zeigen Kritiker beider Disziplinen, seitens der befaßten Psychiater wie auch der Juristen, zum einen die Fragwürdigkeit der behaupteten Wissenschaftlichkeit von psychiatrischen Gutachten als auch den Freiraum bis hin zu grenzenloser Willkür, siehe nur etwa das Gutachten des Psychiaters Weinberger mit seiner vernichtenden Kritik an seinem Kollegen Pfäfflin.  

Im Zusammenhang mit den Begutachtungen Mollaths haben sich mehrere "Spitzen" disqualifiziert, nämlich die Professoren Kröber und Pfäfflin2. Diese Erkenntnis kann jeder einigermaßen interessierte und zu logischem Denken fähige Laie, und damit auch die zuständigen Richter gewinnen, dies aufgrund des Worthülsen-Geklingels vor dem Hintergrund nahezu gänzlich fehlender Ableitungen der psychiatrischen Wertungen bei Beantwortung der Fragestellungen. So ist es nachgerade schizophren, wenn aus der fehlenden "Krankheitseinsicht" auf das Weiterbestehen eines Wahns geschlossen wurde. Gemäß Kröber (Gutachten Mollath, dort S. 27) ist fehlende Krankheitseinsicht typisch für eine Wahnerkrankung. Kröber liefert hier ein klassisches Beispiel für einen sog. 'logischen Zirkel': Fehlende Krankheitseinsicht ist ein Indiz für eine Wahnerkrankung - wer wahnkrank ist, hat keine Krankheitseinsicht. Den gleichen Fehler - Zirkelschluß -  macht Pfäfflin bei seiner gerichtlichen Anhörung. Er äußert nämlich auf Frage des Verteidigers: "Ein solches Verhalten (gemeint: die Verweigerung einer Exploration) wäre eine deutliche Bestätigung der wahnhaften Störung." Pfäfflin erklärt sodann: Anknüpfungstatsachen sind für mich die rechtskräftigen Urteile." 

Dem steht gegenüber: Mollath hält sich für unschuldig, Wäre er dies - was immer auch denkbar ist und gedacht werden muß - tatsächlich zutreffend, so wäre sein Verhalten gerade nicht Reflex eines Wahns. 

Im Strafvollzug findet sich analoges: Tatsächlich unschuldig Einsitzende, die ihre Unschuld beteuern, haben ihre Strafe regelmäßig voll abzusitzen, denn sie zeigen keine Reue. Tatsächlich Schuldige hingegen werden bei guter Führung vorzeitig entlassen.    

Im Zuge des neuen Trends zur ärztlichen Zusatzqualifikation vergibt die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) seit 2003 im Schnelldurchlauf für Fachärzte der Psychiatrie das (Zusatz-)Zertifikat "Forensische Psychiatrie", wobei das Zivilrecht allerdings einen verschwindend geringe Relevanz zugemessen wurde: lediglich 24 Stunden Fortbildung werden für ausreichend gehalten. Imposant immerhin der Internet-Auftritt des Kröber-Instituts der Charité/Berlin. 

Das klingt allemal schön und erhöht den Pool an Sachverständigen. Ob nach "mindestens" 10 supervidierten Gutachten im gesamten Zivilrecht eine "deutliche" Kompetenzerhöhung in der Beurteilung der Prozeßfähigkeit einhergeht, dürfte einigermaßen zweifelhaft sein, wenn unter der Rubrik "sonstige Fragen" im Zivilrecht die Kategorie Prozeßfähigkeit schlicht unbenannt bleibt. Umso entscheidender ist die Auswahl des Sachverständigen. Gisela Friedrichsen offerierte jüngst einen Leistungsvergleich zwischen den  Psychiatrie-Professoren Nedopil und Kröber in Sachen Begutachtung: Spektakuläre Irrtümer, in: SPIEGEL 21/2014, 52f). Es unterlag (wie zu erwarten) Kröber. Lesenwert auch: Hugo Lanz, Zweiklassenrecht durch Gutachterkauf (ZRP, 1998, 337-376), der dafür plädiert, daß der Gutachter dem Gericht und den Parteien (!) seine Fachkunde auf dem streitgegenständlichen Gebiet darzulegen hat. Inwieweit diese Forderung nun aber auch auf die hier diskutierte Situation übertragbar ist, in der das Gericht gewissermaßen zur Gegenpartei wird, dürfte fraglich sein.

Der (von Amts wegen zugezogene) Sachverständige gilt lediglich als "Richtergehilfe"; somit entscheidet der Richter selbst darüber, ob er sich für sachkundig genug hält, in der Frage der Prozeßfähigkeit mit oder ohne Zuziehung eines medizinischen Sachverständigen zu entscheiden (sog. Zuziehungsermessen, welches sich aus dem Prinzip der freien Beweiswürdigung gem. § 286 ZPO herleitet) und der Richter entscheidet auch über die Sachkompetent des Sachverständigen.
Nur im "Zweifel" hinsichtlich der Prozeßfähigkeit der Partei sowie der eigenen Beurteilungsfähigkeit aufgrund sog. allgemeiner Lebenserfahrung (zu ergänzen wäre: sowie allgemeiner Bildung) darf er einen Sachverständigenbeweis erheben. Außer Frage steht heute, "daß sich das Gericht fehlende Sachkunde durch die Lektüre von Fachliteratur und in anderer Weise aneignen darf, ja: aneignen soll." (Pieper, ZZP1971, 15). 

Da nun aber gerade die Gesetze der Vernunft und Logik die immanenten Schranken des § 286 ZPO darstellen, ist der Richter hinsichtlich der Beurteilung des Prozeßverhaltens einer Partei in dieser Beziehung selbst Experte, womöglich weit mehr als ein Psychiater. Die Beiziehung eines psychiatrischen Sachverständigen wäre folglich nur dann zulässig, wenn Indizien vorliegendie auf eine schwere Persönlichkeitsstörung von Krankheitswert oder auf eine genuine Geisteskrankheit hindeuten.  Angemessene Form und Verständlichkeit eines klägerischen Vortrags sind "gewichtiges Indiz" für das Vorhandensein einer freien Willensbestimmung, siehe BFH 3.11.2014, und geben mithin keinen Anlaß zur Beiziehung eines psychiatrischen Sachverständigen.  

Ist dies so einfach, dann müßte jedes Gericht imstande sein, seinen Beweisbeschluß anhand von Indizien zu begründen: ein Beweisbeschluß ohne hinreichende Begründung (Angabe von Indizien), wie es leider die Regel ist, kommt einem schwerwiegenden Verstoß gegen das Willkürverbot gleich, da mit ihm massive Eingriffe in Grundrechte einhergehen. 

Hat ein Richter jedoch erst einmal einen Sachverständigen von Amts wegen beauftragt, ist es für ihn sehr schwer, hinterher von dem Gutachten abzuweichen: dieses Abweichen müßte er dann nämlich begründen (einhellige Meinung), wofür es ihm zumeist an der nötigen Kompetenz fehlen dürfte. Hinzu käme die Notwendigkeit, ein weiteres Gutachten und am Ende womöglich ein sog. "Obergutachten" einholen zu müssen. Pieper (aaO., S. 27) meint, daß die obligatorische Beweiswürdigung seitens des Gerichts (das SV-Gutachten ist gem. §§ 402 bis 414 ZPO eines der fünf Beweismittel) in der Gerichtspraxis gemeinhin unterbleibt (Anm.: um sich derartige Mühen zu ersparen). Da der vom Gericht beauftragte Sachverständige "praktisch den Ausgang des Rechtsstreits entscheidet" - so RiLG Jens Maier bezgl. Bausachen, der fortfährt: "die Mundpropaganda innerhalb des Gerichts sollte nicht unterschätzt werden" - , kommt der Auswahl des SV oft entscheidende Bedeutung zu.

Der besondere Status des Sachverständigen drückt sich im Zivilverfahren - damit auch im neuen FamFG, § 404 ZPO in Verbindung mit § 404a ZPO - dadurch aus, daß die betroffene Partei auch gegenüber dem Sachverständigen ein Ablehnungsrecht (§ 406 ZPO) hat, ganz so, wie gegen den Richter (§ 42 ZPOselbst. Die Crux dabei ist die Beweisfrage. Eine große Hilfe dazu wäre die Bild/Ton-Aufzeichnung des Begutachtungsvorganges. Hierzu hat sich Nedopil immerhin wohlwollend geäußert

Da nun im Zivilverfahren der Beibringungsgrundsatz gilt, könnte es der Partei - infolge des Verhandlungsgrundsatzes - möglich sein, selbst Beweise für das Vorhandensein ihrer Prozeßfähigkeit beizubringen. In der Praxis heißt dies, daß die vom "Zweifel" überzogene Partei selbst einen Gutachter (als Privatgutachter) beauftragen könnte, um das von diesem erstellte Gutachten in die Verhandlung einzuführen. Dieses Privatgutachten genießt bislang aber nur die Dignität eines 'qualifizierten' Parteivorbringens: es wird daher auch "Parteigutachten" genannt.  

Die Rechtsprechung hat sich denn auch allmählich von dem Beibringungsgrundsatz verabschiedet, wie etwa beim BAG geschehen: Zunächst ging dieses vom Beibringungsgrundsatz aus:
01.03.1963, Az.: 1 AZR 356/61um späterhin daran nicht mehr festzuhalten:


Wenn den Kläger in der Frage seiner Prozeßfähigkeit auch keine "objektive" Beweislast trifft, so doch eine "subjektive" (BGH, 9.01.1996 - VI ZR 94/95), denn im Falle nicht ausgeräumter Zweifel gilt er nach hM als prozeßunfähig. Oft bleibt dann nur übrig, daß der von Zweifeln an seinem Geisteszustand Betroffene ein Privatgutachten fertigen läßt und dieses dem Gericht vorlegt. 
Gegen die Tendenz vieler Gerichte, ihren Hausgutachtern blindlings zu vertrauen, stärkte der BGH  - in anderem Sachzusammenhang (Arzthaftung) - das Gewicht eines Privatgutachtens, siehe BGH, B. v. 18.05.2009 - IV ZR 57/08, nach dem ein Gericht ein Privatgutachten gleichermaßen zu prüfen hat. Ist eine inhaltliche Prüfung in den Entscheidungsgründen nicht zu erkennen, läge eine entscheidungserhebliche (!) Gehörsverletzung vor. Diese BGH-Entscheidung war ein Meilenstein in der Abwehr richterlicher Bequemlichkeit und wurde vielfach kommentiert. Hier etwa Ratschläge in Gestalt einer Checkliste.
Die Vorlage eines privaten (Gegen-)Gutachtens macht also besonderen Sinn, wenn es darum geht, die Richtigkeit der Feststellungen eines gerichtlich beauftragten Sachverständigen zu widerlegen

Weitgehende Einigkeit besteht doch immerhin darin, daß die Amtsprüfung ("Prüfung von Amts wegen") der Prozeßvoraussetzungen gemäß § 56 ZPO, hier Prozeßfähigkeit der Parteien, nicht gleichbedeutend mit einer Amtsermittlung ist (wie im alten  § 12 FGG, neu geregelt durch das FamFG, s. § 26 FamFG, oder auch im § 86 Abs.1 VerwGO).
Damit gewinnt der § 404 Abs. 3 und 4 ZPO an Bedeutung, demzufolge das Gericht gehalten ist, die Beteiligung der Parteien zur Sachverständigenauswahl in Betracht zu ziehen: Denn völlig unstrittig ist, daß der Auswahl des Sachverständigen eine wesentliche, nicht selten entscheidende Bedeutung beizumessen ist. Einen regelrechten Beweis liefern die völlig kontroversen psychiatrischen Begutachtungen des Gustl Mollath: Klaus Leipziger (Bayreuth), bestätigt von Kröber (Berlin) sowie von Friedemann Pfäfflin (Ulm) einerseits, andererseits die Gutachten von Hans Simmerl (Mainkofen) und Friedrich Weinberger (Garmisch-Partenkirchen). 

Die Gutachter-Schlacht hätte sicherlich seinen Fortgang genommen, wären nicht überraschende Ereignisse Mollath zuhilfe gekommen. Der forensische Sachverständige Henning Saß lieferte (im Kontext zum Fall Mollath) ein für die Zunft peinliches Interview ab, in dem er jeden Hauch von Selbstkritik - nach Saß liefern Psychiater niemals Fehlgutachten - vermissen läßt, es käme nur auf die Qualität des Gutachters an. Hans Ulrich Gresch weist in seinem Kommentar zu Recht darauf hin, daß "Tatsache ist, dass psychiatrische Diagnosen nicht valide sind. Das heißt: Sie korrelieren nicht mit irgendetwas Krankhaften, was nicht subjektive Meinung wäre, sondern sich objektiv messen ließe." Folglich erstaune es auch nicht, "dass die Trefferquote psychiatrischer Prognosen kaum über dem Niveau der Glaskugelschau liegt."

Wesentlich günstiger ist die Lage (etwa für Unfallopfer) bei den Sozialgerichten: hier wird die Vorschrift des § 404 Abs. 1 Satz 1 ZPO durch den § 109 SGG verdrängt: Der Kläger kann das Gericht gem. § 109 SGG zwingen, einen von ihm bestimmten Arzt gutachterlich zu hören - obwohl das Gericht auch hier von Amts wegen zu ermitteln hat!
Es handelt sich also um eine sehr praxisrelevante Ausnahme vom Untersuchungsgrundsatz des § 103 SGG (siehe Siegfried, NJW 1962, 666), wie sie auch auf die vom Amts wegen (§ 56 ZPO) zu berücksichtigenden Prozeßvoraussetzungen einer Partei im Zivilverfahren gelten könnte und sollte.   
Zur Frage der Auswahl des Sachverständigen im Strafprozeß wurde immer wieder mit guten Argumenten die Mitwirkung der Verteidigung gefordert, siehe nur Lürken, NJW 1968, 1161-1165; Sarstedt forderte, daß der Richter dem Verteidiger Gelegenheit geben müßte, sich zur Person der auszuwählenden Sachverständigen jedenfalls zu äußern, dies als Ausfluß des rechtlichen Gehörs (Sarstedt, NJW 1968, 179).
Nun existiert bereits ein Referentenentwurf, demnach der § 404 Abs. 2 ZPO-E folgenden Wortlaut haben soll:  

(2) Vor der Ernennung sollen die Parteien zur Person des Sachverständigen gehört werden.

Im Falle einer keineswegs selten vorkommenden Psychiatrisierung einer unliebsamen Partei durch ein Gericht sollte dies auch ohne Gesetzesnovelle praktiziert werden. In der Realität dürtes dies kaum je vorgekommen sein, denn immer wieder einmal werden Fälle bekannt, in denen Gerichte sogar das zwingend zu gewährende rechtliche Gehör vor Ausfertigung des Beweisbeschlusses verletzen!



In diesem Zusammenhang  ist auf eine höchst fragwürdige, möglicherweise sogar rechtswidrige - Erlaßregelung hinzuweisen4:
In einigen Bundesländern, allen voran BW, wurden in den letzten Jahren im Erlaßwege (!) Regelungen dahingehend getroffen, daß Gutachten zur Klärung der Prozeßfähigkeit von den staatlichen Gesundheitsämtern zu erstellen seien, in BW erfolgte diese Regelung als Verwaltungsvorschrift des Sozialministeriums für die Durchführung des Gerichtsärztlichen Dienstes vom 10. Mai 1999, veröffentlicht im Gemeinsames Amtsblatt (GABl) vom 30.Juni 1999, Seite 391. Nach mündlicher Auskunft des Ministeriums an den Verfasser erging diese Regelung deshalb, weil Gesundheitsämter Begutachtungen der Prozeßfähigkeit kostenlos erstatten. Eine derartige Weisung könnte rechtswidrig sein, näheres siehe auf der Seite "Der Sachverständige".

Die Fragwürdigkeit der vorgenannten Verwaltungsvorschrift liegt aus mehreren Gründen auf der Hand: Zum einen stellt sich, wenn immer der gleiche Gutachter herangezogen wird, das Problem des 'Hausgutachters'5 bzw. der Mißachtung des Gebots der "Ortsferne" des Sachverständigen, zum anderen stellt sich die Frage hinreichender Kompetenz und Neutralität des jeweilig amtierenden Nervenarztes, die eigentlich vom Gericht zu überprüfen wäre, bei der Befolgung der Verwaltungsvorschrift jedoch nicht stattfindet. Und schließlich wird die Beteiligung der Parteien an der Sachverständigenauswahl kategorisch ausgeschlossen, ganz abgesehen von dem Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit!

Wenn nun die Gerichte - und damit die Betroffenen - aufgrund einer Verwaltungsvorschrift zufällig an einen Gutachter und damit an dessen jeweilige wissenschaftliche Auffassung geraten, dürfte dies rechtlich äußerst fragwürdig sein, denn es dürfte das gleiche gelten, wie für Gutachter aus staatlichen Untersuchungsämtern gegenüber dort Gutachten anfordernden Behörden: Im Prozeßrecht klafft diesbezüglich "eine erhebliche Lücke" (Werner Thieme, Verwaltungslehre, 1984, 342). 

Hier ist an die traditionelle Staatsgebundenheit - die ersten staatlichen Amtsärzte waren ausschließlich Gerichtsärzte (s. Junkers, S. 12) - deutscher Gesundheitsämter zu erinnern: Mit dem Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens (GVG) vom 3. Juli 1934 (RGBl. 1934 I S. 531) wurde die rechtliche Basis für die Einrichtung eines flächendeckenden Netzes staatlicher Gesundheitsämter mit reichseinheitlicher Organisation geschaffen. Vor dieser Tradition ist schwer vorstellbar, daß sich in den Köpfen durchschnittlicher Amtsärzte ein staatsferneres Selbstverständnis herausgebildet haben könnte, waren doch die Amtsärzte von jeher Diener der jeweilig herrschenden Bevölkerungspolitik und, damit untrennbar verbunden, der Justiz.  

Wie zweifelhaft die Sachkompetenz eines durchnittlichen Amts- und Oberarztes ist, wird durch die Karriere des Postboten Gerd Postel als Gutachter belegt. ZDF-Kommentar: "Beschämend für den Berufsstand der Psychiater." Dabei ist das eigentlich Beschämende der unkritische Umgang mit Gutachtern u n d Gutachten seitens der Auftraggeber. Bei Helmut Kury heißt es den auch zum Fall Postel: Zurück bleibt der "fatale Geschmack einer gewissen Beliebigkeit der Gerichtsentscheidungen" (Praxis der Rechtspsychologie 1999, 87). Kabarettreif ist der Vortrag des Vorsitzenden Richters am BGH Armin Nack vor der juristische Fakultät Passau, dem aber doch vielleicht die nötige Fachkompetenz zur Auswertung psychologischer Test fehlen könnte? Gerd Postel verfügte allerdings über dieselbe ... 
Fragen zur Qualifikation des Sachverständigen gehören zu den Aufgaben des Gerichtes. "Die entscheidende Weichenstellung geschieht bei der Auswahl der Gutachter" (Kury). 

Die Situation ist insoweit mit derjenigen im Strafverfahren vergleichbar, weil auch hier der Staat im Allgemeininteresse direkt gegen das Individuum ermittelt: Wenn im Strafverfahren nämlich eine psychiatrische Begutachtung bei Verdacht auf das Vorliegen einer "schweren anderen seelischen Abartigkeit" gemäß § 20 StGB stattfindet - hierzu zählt etwa eine charakterogene tiefe Selbstwertunsicherheit analog einer querulatorischer Neigung - , so ist der Verteidiger bei der Auswahl des Gutachters zu beteiligen (BGH 1 StR 169/02, Rn.18). Erst Recht müßte dieser Grundsatz für das Zivilverfahren gelten, wenn es um die Teilentmündigung geht  -  um nichts anderes nämlich geht es bei richterlichem Zweifeln an der Prozeßfähigkeit eines bis dato voll geschäftsfähigen Rechtsunterworfenen. Die Lage in Baden-Württemberg erinnert an die Erbgesundheitsgerichte, in denen u. a. beamtete Ärzte als Beisitzer fungierten, siehe die Dissertation von Susanne Doetz, dort Seite 91ff.
 
Wird der von richterlichen "Zweifeln" Betroffenen nun aber vom Amtsarzt als prozeßunfähig eingestuft - dies geschieht, indem der Amtsarzt eine "in gewissem Spielraume willkürliche" (Kraepelin, Psychiatrie, 8. Aufl., 1915, Bd. 4, S. 1973) Bestimmung des Schweregrads der Störung vornimmt, bleibt nur die Möglichkeit, das Gutachten mit einem privaten Gegengutachten anzugreifen, oder auch ein sog. "methodenkritisches" Gutachten (d. h. ein Gutachten über das vom Gericht eingeholte Gutachten) vorzulegen, solange er für den Zulassungsstreit noch als prozeßfähig gilt. 



Die Rolle und das Selbstverständnis des Gutachters wurde und wird breit diskutiert. Wenn Streng (s. u.) feststellt, daß es eigentlich die "ureigene Kompetenz" des Richters sei, die Steuerungsfähigkeit eines Täters zu bewerten (aufgrund von Tatsituation und Normalitätsgrad des Täters) wenn er den Psychogutachter danach fragt, so gilt dies erst recht für die Frage der Prozeßfähigkeit, die ja in evidenten Fällen auch ohne Hilfe eines Sachverständigen vom Richter selbst festgestellt werden kann. Die Einforderung eines psychiatrischen Gutachtens erfolgt vermutlich nicht selten nur, um dem Gericht ein pseudo)wissenschaftliches Mäntelchen umzuhängen, gilt doch ein psychiatrisches Gutachten als wissenschaftliche Leistung. 

Wie sehr psychiatrische Gutachter in den häufigsten Fällen heikler Grenzbereiche auf unsicherem wissenschaftlichen Fundament stehen, drückte Rasch, einer der seinerzeit wohl seriösesten Vertreter der Zunft, in seltener Offenheit und Klarheit wie folgt aus:  

"Für die Richtigkeit der meisten bei einer psychiatrischen Begutachtung tatsächlich bedeutsamen Ergebnisse gibt es keine objektiven Kriterien. Sie werden wesentlich bestimmt durch Selbstverständnis, Weltanschauung, Erfahrung, theoretischen Ansatz und Schule des Gutachters. Der Richter muß in eigener Verantwortung entscheiden, welche Gutachten er für brauchbar hält und welche nicht." (Rasch, Richtige und falsche Gutachten, MschrKrim, 1982, 264)

Bis heute gibt es keinen Anlaß, an dieser Einschätzung zu zweifeln. Gutachter haben nicht selten Interesse, Anschlußaufträge zu erhalten, sei es aus materiellen (siehe hierzu den bahnbrechenden Aufsatz Erich Wulffs aus dem Jahre 1971 "Der Arzt und das Geld", DAS ARGUMENT, 69, 955), sei es aus Reputationsgründen. Der mit der Gerichtspraxis sehr vertraute Werner Sarstedt, ehemals BGH-Senatsvorsitzender, teilte wenig Erstaunliches mit, nämlich daß "die Sachverständigen es ihrem Ansehen förderlicher finden, dem Staat als dem einzelnen zu dienen." (Sarstedt in: Fs. f.Schmidt-Leichner, 1977, 176). Diese Interessenlage auf Seiten der Gutachter dürfte Ursache einer erschreckend hohen Zahl von Fehleinweisungen von Straftätern sein, siehe den aktuellen  Frontal-Ausschnitt sowie die Vorüberlegungen Weinbergers.

Fachlich gehört zudem jeder Gutachter einer bestimmten "Schule" an und ist, wie jeder Mensch, politisch ausgerichtet. Der bekannte Gutachter de Boor, dogmatischer (so Haddenbrock, ZStR, Bd. 75 (1963), 470) Adept der problematischen Kurt-Schneider-Schule und Kreator von "Monoperceptose"6, "Aversionsneurose"7und "Regnose"8, stempelte Heinrich Böll (Wahn und Wirklichkeit: psychiatrische Grenzfälle vor Gericht, 1997) allen Ernstes zum Querulanten (Über den Zeitgeist, Bd. II, 1995, 293ff)

Der psychiatrische Krankheits-Begriff ist ständigem Wandel unterworfen, einschließlich der Trennung zwischen psychischer Störung und somatischer Krankheit. 

Immerhin ist die Psychiatrie seit kurzem um eine sog. Qualitätssicherung psychiatrischer Gutachten - bisher leider nur hinsichtlich der Schuldfähigkeitsbeurteilung - bemüht. Dienen soll eine Zertifizierung - siehe die Gutachterliste der DGPPN. Immerhin wird die Qualitätssicherung in zunehmendem Maße thematisiert, insbesondere durch Nedopil, der sich um 'Mindestanforderungen' bemüht. Zertifizierung erscheint neuerdings als Werbeargument forensischer Gutachter (Beispiel). Im Fall Ulvi zeigt Weinberger "katastrophales" Versagen Nedopils in seiner konkreten SV-Tätigkeit auf, siehe GEP-Rundbrief 1/16, S. 11.

Ob die Bemühungen um Mindestanforderungen also im Einzelfall wesentlich mehr Sicherheit versprechen, bleibt freilich bei der Komplexität der Disziplin und der davon ableitbaren Inhomogenität von Theorie und Untersuchungsmethodik eher zweifelhaft. Denn es bleibt dabei, daß die Grenzziehungen in den häufigen Zweifelsfällen (rechts- und gesellschafts-) politischen Einstellungen folgen. Dies gilt in besonderem Maße für die Frage der Prozeßfähigkeit, für deren Begutachtung weithin nicht etwa zertifizierte Gutachter, sondern gemeine Amtsärzte (Nervenärzte) beauftragt werden; eine Verbesserung der desolaten Lage ist daher aus Sicht der Betroffenen nicht in Sicht!

Staatshaftung?
Obwohl das Gericht pflichtgemäß die Qualifikation des Sachverständigen und dessen tatsächlich vorgelegtes Gutachten im Einzelfall kritisch zu bewerten hat, sind Regressforderungen gem. § 839 BGB (Amtshaftung) gegen das Gericht wegen offensichtlich verkannter Falschbegutachtung (Klage-Gegner ist nicht der beamtete Richter, sondern das jeweilige Land) so gut wie aussichtslos, siehe Beschluss des LG Würzburg vom 2.11.2010.

Haftet ein Sachverständiger für ein Fehlgutachten?
Der Gutachter haftet nur bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit, siehe das BGH-Urteil vom 18.12.1973, NJW 1974, 556 mit dem Kommentar Hellmers. Es ging dort um die Psychiatrisierung Dr. Weigands durch den Sachverständigen Prof. Selbach. Hellmer rügt  das - entlarvende - Argument des BGH, der Sachverständige "handle in Erfüllung einer staatsbürgerlichen Pflicht. Demgegenüber müssen privatrechtliche Belange zurücktreten" und fragt: "Wozu ist den die Justiz da? Doch um dem Einzelnen sein Recht zu geben und dadurch den Frieden des Ganzen aufrecht zu erhalten." 

Ein weiterer Fall von Haftung eines psychiatrischen Sachverständigen entschied das OLG Nürnberg am 2.3.1988, 9 U 779/85 (NJW-RR 1988, 791-797), in dem eine Psychiaterin wegen grob fahrlässiger Falschbegutachtung (zu deren Schutze!) an die Betroffenen 30.000 DM Schmerzensgeld für deren Entmündigung - damals gem. § 6 BGB (aufgehoben) - zahlen mußte.9

Erst seit 1.8.2002 wurde die zivilrechtliche Haftung des gerichtlichen Sachverständigen für ein unrichtiges Gutachten in § 839 a BGB gesetzlich geregelt! (R&P, 2002,224ff)
Das LG Saarbrücken verurteilte im Fall des Norbert Kuß eine Gerichtspsychiaterin - Urteil vom 29.1.2015, 3 O 295/13 - zu 'angemessenen' 50.000 Euro Schmerzensgeld plus Schadensersatz, siehe dazu: Saarbrücker Zeitung.

Am 16.11. 2009 wurde im Falle Schmenger ein Sachverständiger vom VG Gießen, Berufsgericht für Heilberufe,  wegen Falschbegutachtung zu einer Geldbuße in Höhe von immerhin 12.000 Euro verurteilt (21 K 1220/09.GI.B). Zuvor bereits hatte der BGH im Grundsatz einen Geldanspruch im Falle einer Verletzung des "Integritätsanspruchs" bestätigt, siehe Urteil v. 11.4.1989, NJW 1989, 2941.

Die Gutachterwahl, also die Person des Gutachters, ist bekanntlich oft entscheidend für das Ergebnis. Dieser Erfahrungssatz trifft für die Psychowissenschaften mehr als für jede anderen Disziplinen zu und wird belegt durch eine unendliche Literatur. Kritik an Sorgerechtsgutachten ist Legion, siehe die Links unten unter Anmerkungen. Dem gegenüber ist die zahlenmäßig weitaus kleinere Betroffenen-Gruppe im hier behandelten Zusammenhang - Gutachten bei Zweifeln an der Prozeßfähigkeit - bislang nicht organisiert.

Von der in § 404 Abs. 3 ZPO vorgesehenen Möglichkeit, Vorschläge einzuholen machen die Gerichte nur in weniger als 5% Gebrauch (Pieper u.a., Sachverständige im Zivilprozeß, 1982, 296). Ist die Wahl erst einmal getroffen, steht es mit der Abhängigkeit umgekehrt: will nämlich der Richter vom Gutachten abweichen, weil es ihn nicht "überzeugt", muß er dies umfänglich begründen. Dieser Begründungszwang dürfte mit ursächlich dafür sein, daß ca. 95% der Richter einem Gutachter lieber folgen (Olzen, ZZP 1980, 79). 

In aller Regel wird ein Psychiater beauftragt, wenn - gelegentlich - ein Psychologe ergänzend hinzugezogen wird, spricht die Justiz von einem "wissenschaftlichpsychiatrischen" Gutachten (LAG Düsseldorf vom 26.11.2008). Für die Psychiater zählt das, was als "krank" gilt, für die Psychologen geht es um die Eigenheiten und Leistungsfähigkeit der "Persönlichkeit". 

Der Psychiater Haddenbrock unterscheidet  demgemäß auch die "biologische" von der "psychologischen" Methode. Nur die erstere ("oberes Stockwerk") fällt in die Kompetenz des Psychiaters, der die Frage nach dem Vorliegen von 'Bewußtseinsstörung', 'krankhafter Störung der Geistestätigkeit' oder 'Geistesschwäche' zu beantworten hat. Es folgt die Feststellung: "Eine psychopathologische Diagnose ist keine medizinische Diagnose" (Haddenbrock, Die psychopathologische Diagnose und ihre normative Bewertung. In: FS f. Kurt Schneider, 1962, 280), denn sie sei insofern ein weiterer Begriff, als sie sich auch auf "abnorme Spielarten seelischen Wesens" beziehen könne. Damit knüpft Haddenbrock an Kurt Schneider an: In der Spielbreite der Durchschnittsnorm handele es sich um eine "psychologische" Diagnose, im Bereich des Abnormen hingegen um eine "psychopathologische". 

Haddenbrock wird noch deutlicher: Er unterscheidet zwischen medizinischer und sozialer Normalität. Die Zeit(geist)bedingtheit liegt auf der Hand: Der Richter bestimmt den forensisch relevanten Kranheitswert eines Psychopathen gemäß der gerade herrschende Konvention. Sache des Richters und nicht die des Sachverständigen ist es jedoch, die psychiatrischen Diagnosen normativ zu bewerten, also die psychiatrischen Sachverhaltsfeststellungen unter die Rechtsbegriffe zu subsumieren.


Exkurs: Die Gratwanderung
Juristen haben einen anderen Krankheitbegriff als Psychowissenschaftler. Da wird im Strafrecht  z. B. von Abnormitäten von "Krankheitswert" gesprochen. Juristisch relevant ist hier der Grad, das Ausmaß: eine psychische Störung muß "schwerwiegend" sein - Luhmann spricht vom "binären Schematismus" (Ja-Nein-Entscheidung) - es geht dem Juristen also um die Grenzfestsetzung. Im Zivilrecht interessiert den Juristen also nicht nur der der Grad einer Krankheit oder Abnormität, sondern allein relevant für ihn ist die Schwelle, im Falle des § 56 ZPO die Schwelle zwischen (noch) prozeßfähig und prozeßunfähig. Die Bestimmung dieser Schwelle ist einerseits person-, zeit- und gesellschaftsbedingt, und überdies auf Richterseite subjektiv variabel (freie Beweiswürdigung). Der Psychiater Werner Mende etwa räumt ein, daß das Einschätzungsergebnis von der "persönlichen klinischen Erfahrung des Untersuchers" abhängt und daß Graduierungen "keine exakten Messungen sind, sondern daß ein gewisser Spielraum des Untersuchers bestehen bleibt." Folglich stehe es um die "Interrater-Reliabilität" miserabel (MschrKrim 1983, 331). Dieser Befund bezieht sich zwar auf die forensische Begutachtung im Strafrecht und ist somit nicht ohne weiteres auf die Begutachtung der Person einer Prozeßpartei übertragbar, weil es hier - auch - um die psychiatrische Bewertung von Prozeßakten geht, für den Psychiater eine Terra incognita. Umso dubioser dürfte die psychiatrische Hilfe zur Grenzbestimmung zwischen prozeßfähig und prozeßunfähig sein, denn für die Beurteilung von Schriftsätzen etwa hinsichtlich der Frage von  Rechtsmißbrauch oder auch nur der Unvernunft ist der Jurist sachverständig - und nicht der Psychiater.  

Bei der Geschäftsfähigkeit geht es um das Ausmaß einer Erkrankung oder Abnormität mit der Folge der Einschränkung der freien Willensbestimmung. Eine Aufhebung der Geschäftsfähigkeit setzt voraus, daß sich der Proband  "nicht mehr von vernünftigen Motiven leiten lassen kann" oder "seine Entscheidung nicht mehr von vernünftigen Erwägungen abhängig machen kann" (BGH, NJW 1970, 1981). Als Ursache  kommen etwa Fremdbestimmung oder Wahn infrage. Was vernünftig ist, bemißt sich an der Vernunft des Urteilenden, ebenso bestimmt dieser die Schwelle. Allerdings gilt: Zweifel an der Geschäftsfähigkeit reichen nicht aus. Vielmehr muß die Geschäftsunfähigkeit zur Überzeugung des Gerichts bewiesen sein. Der Schutz des Betroffenen steht hier - anders als bei der Prozeßfähigkeit - im Vordergrund. Bei aufgekommenen Zweifeln an der Prozeßfähigkeit gilt: Sind die Zweifel nicht ausräumbar, geht dies nach h. M. zu Lasten der betroffenen Partei, was heißt: sie wird als prozeßunfähig erklärt, sofern sie nicht den Gegenbeweis anzutreten imstande ist. Hier geht es weniger um den Schutz des Betroffenen als vielmehr um den Schutz der Justiz in Gestalt des verantwortlichen Richters und in zweiter Linie um den Schutz des Gegenpartei. Aufgrund dieser nur selten eingeräumten Zweckbestimmung bietet der § 56 ZPO schlechten Richtern ein weitgehend unkontrolliertes Betätigungsfeld des Rechtsmißbrauchs.

Einen parteiischen und/oder unfähigen Gutachter auf rechtlichem Wege zu belangen, war bislang fast ein Ding der Unmöglichkeit. Nun verstehen sich jedoch Psychiater als Mediziner, so daß die Tatsache ein Lichtblick sein könnte, daß - nach dem Vorreiter Dresden - nun auch die Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität (wie bereits Augsburg) einen Studiengang Medizinrecht anbietet:





Anmerkungen:
1 Zitat Mollath. Es geht um die "persönliche Eignung" des Gutachters. Noch nicht aufgeklärt ist der aktuelle Fall eines "renommierten" Gerichtsgutachters, dem versuchte Kindesentführung angelastet wird. 

2 beide, Kröber und Pfäfflin gelten als Spitzensachverständige. Pfäfflin etwa geriert sich gerne als progressiver Vertreter der "psychodynamischen Betrachtungsweise" (R&P1988, 23). Daß man dann und gerade im Falle Mollath, dem sog. Beziehungstaten zur Last lagen, alle Beteiligten, also auch die Justiz- und Psychiatrievertreter, gemäß dieser Methode hätte einbeziehen müssen, kam Pfäfflin gleichwohl nicht in den Sinn. Er fokussierte in traditioneller Weise auf ein einziges Untersuchungsobjekt: Mollath. Damit lieferte Pfäfflin ein Beispiel des Auseinanderklaffens von Theorie und Praxis und, zudem, der Unfähigkeit eines Psychotherapeuten (der er auch sein will) zur Selbstanalyse. Was den SV Kröber angeht: Es finden sich immer auch gewichtige Stimmen, die Kröber in Schutz nehmen (so Schwenn in ZEIT online), der im Fall Kachelmann (der Verf. kann dies bezeugen) tatsächlich eine gute Figur machte.

Eine gewisse Gemeinsamkeit besteht jedoch im Fürsorgegedanken, der gerne bei der Unschädlichmachung durch Entrechtung in den Vordergrund gerückt wird.

4 Einer der in seiner Zeit bedeutendsten forensischen Sachverständigen, nämlich Wilfried Rasch, setzt sich völlig zu Recht kritisch mit einer ebenso einzigartigen wie problematischen und möglicherweise gleichermaßen rechtswidrigen Erlaßregelung auseinander: die Installation eines "Gerichtsärztlichen Ausschuß" (GA) zwecks Überprüfung von Gutachten/Gutachtern in Nordrhein-Westfalen mittels Runderlaß (!) des Innenministers vom 1.12.1969 (Rasch: Richtige und falsche psychiatrische Gutachten, MschrKrim 1982, 257ff; siehe dazu auch die Replik von Witter, einem erklärten Kurt-Schneider-Schüler: MschrKrim 1983, 253ff  sowie zum GA den SPIEGEL, wo sich Mauz auf Rasch stützt, sowie zuvor zur Klage de Boors gegen den GA im SPIEGEL

5 "daß die sogenannten "Haussachverständigen" ... eine erhebliche Gefahr für die gesamte Rechtsprechung darstellen, ist unbestritten"
(Schimanski, Beurteilung, S. 2)

6 Zu Recht kritisch zu de Boors (in Hinblick auf die RAF-Terroristen entwickelte) Kreation Monoperceptose:Sponsel und Rasch, der darin ein "Abschieben auf die Schiene der Persönlichkeits(!)pathologie" sah (Fallgruben der forensischen Psychiatrie, R&P 1990, 102, 105). Vermutlich leitete de Boor seine neue Krankheit von Esquirols Monomanie ab. 

7 Wolfgang de Boor, Aversionsneurosen. In: FS f. U. Klag, Bd. II, 1983, 571ff

8 'Regnose' ist Haddenbrocks Gegenbegriff zu 'Prognose' und meint die rückschauend rekonstruierte Diagnose der Tatzeitpersönlichkeit; dem gegenüber dient die Prognose der vorausschauenden Einschätzung zukünftiger Selbst- oder Gemeingefährlichkeit (FS f. Kurt Schneider, 1962, 280ff).   

9 Verurteilungen psychiatrischer Sachverständigen wegen grob falscher Falschbegutachtung zur Zahlung eines Schmerzensgeldes genießen Seltenheitswert - eine Tatsache, die die geringe Selbstreinigungskraft des Systems belegt. Gerhard Mauz sah sich veranlaßt, dem skandalösen Fall unbegründeter Entmündigung in seinem Buch "Die Justiz vor Gericht".(1990, S. 139ff ) ein ganzes Kapitel zu widmen.




Ausgewählte Literatur zur Sachverständigen-Problematik:
Vorbemerkung zur nachfolgenden Literaturübersicht: 
Weit überwiegend ist die Fachliteratur mit der Sachverständigenfrage im Strafprozeß befaßt. Gleichwohl läßt sich vieles auf den psychiatrischen Sachverständigen im Zivilprozeß übertragen. Zur Begutachtung der Prozeßfähigkeit existiert, soweit ersichtlich, bislang keinerlei spezielle juristische Literatur.

- Helmut Pieper, Richter und Sachverständiger im Zivilprozeßrecht, ZZP 1971, 1 - 40
- Blomeyer, Zur zivilrechtlichen Haftung des gerichtlichen Sachverständigen, ZRP 1974, 214ff.
- Werner Schimanski, Beurteilung medizinischer Gutachten, 1976
- Dirk Olzen, Das Verhältnis von Richtern und Sachverständigen im Zivilprozeß, ZZP 1980, 66 - 88
- Streng, Richter und Sachverständiger. FS für Heinz Leferenz, 1983, 397-409
- Heinz, Fehlerquellen forensisch-psychiatrischer Gutachten, 1982
- Foerster, Der psychiatrische Sachverständige zwischen Norm und Empirie. NJW 1983, 2050-2053
- Böttger, Kury u.a. in: Kriminologische Forschung in den 80er Jahren, Bd.1, 1988, 326. 
- Crefeld, Aufgabe und Selbstverständnis des sachverständigen im Entmündigungsverfahren, in: Brill, Zum Wohle des Betreuten, 1990, 60-90
- Nedopil, Grenzgänger - Zum Dilemma von Recht und Psychiatrie, in: Festschrift für Schüler-Springorum, 1993, 571-579
- Nedopil, Verständnisschwierigkeiten zwischen dem Juristen und dem psychiatrischen Sachverständigen, NStZ 1999, 433-480
- Kury, Psychowissenschaftliche Gutachten im Strafverfahren, Praxis der Rechtspsychologie, 1999, 86ff
- Oehler, Zur Problematik der Sachverständigenauswahl. ZRP 1999, 285
- Lesting, Die Neuregelung der zivilrechtlichen Haftung des gerichtlichen Sachverständigen für ein unrichtiges Gutachten, R&P, 2002, 224-229
- Nedopil u.a.: Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten, NStZ 2005, 57-62
- Kröber u.a.: Mindestanforderungen für Prognosegutachten, NStZ 2006, 537-544
- Horst Kater, Das ärztliche Gutachten im sozialgerichtlichen Verfahren, 2. Aufl. 2011



Betroffenen-Berichte zur Gutachter-Problematik:
- Bernd Herbort, Bis zur letzten Instanz, 1996
http://www.main-netz.de/nachrichten/politik/politik/art4204,2933708

Betroffene von psychologischen und medizinischen Gutachten:
http://www.youtube.com/watch?v=1VXaaWj9dVY

Zur Aufarbeitung der dienenden Funktion NS-Gesundheitsämter:
http://www.neuburg-schrobenhausen.de/index.php?id=5116,92, siehe dort v. a. den 1. Download (Das Gesundheitsamt im Nationalsozialismus)

Öffentliche Kritik an Gutachtern:

Gerichtsgutachtengeschädigtenverbände:
- http://www.gggv.at/ueber_uns.php

'Standard'-Literatur:
 2. Aufl. 2016