- Psychiater oder Psychologe?

Diese Frage wird seit längerer Zeit im Strafrecht diskutiert (Sattes in: FG f. G. Küchenhoff, 1967, 185-197; Maisch/Schorsch, StV 1983, 32) mit dem Ziel der Ausweitung der psychologischen Zuständigkeiten, von der etablierten Psychiatrie natürlich heftig abgelehnt (Wolff, NStZ 1983, 537 - dagegen: Rauch, NStZ 1984, 497; Rasch, Die Auswahl des richtigen Psycho-Sachverständigen, NStZ 1992, 257-304). Obwohl die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen1 (etwa in Fällen von Vergewaltigung) die Aussagepsychologie berührt, neigen die Strafgerichte dennoch dazu, zunächst oder auch ausschließlich Psychiater mit der Begutachtung zu beauftragen (BHG 22.1.1998; anders allerdings BGH 19.2.2002, sowie im Falle kindlicher Zeugen1) - Grund könnte sein, daß die Strafjuristen den Umgang mit Psychiatern vorziehen, die nicht nur als Mediziner für kompetenter gehalten werden, sondern auch als gefälliger. In der Tat ist Fegert zuzustimmen, daß die zentrale Rolle letztlich die Richter spielen, dies beginnt mit der Auswahl des Gutachters, setzt sich fort bei dessen Leitung und endet mit der Bewertung des Gutachtens.

Geht es um Krankheit, müßte ein Psychiater, geht es um Neurosen, jedoch bevorzugt ein Psychologe gewählt werden (s. Rode/Legnano, Psychiatrische Sachverständige im Strafverfahren, 1994, 117). Insbesondere bei sog. "geistgesunden" Querulanten dürfte nach dieser Dichotomie ein entsprechend qualifizierter, d.h. ein tiefenpsychologisch-therapeutisch erfahrener Psychologe geeigneter sein als ein herkömmlich gebildeter Nervenarzt; schließlich sind es doch heute ausschließlich Psychologen, die Psychogramme und Persönlichkeitsprofile - so über Hitler - erstellen. 
Wie Maisch bereits 1973 konstatierte, handelt es sich bei der Persönlichkeitsdiagnostik "heute fraglos um eine Domäme der Psychologie ... sowie der Psychoanalyse." (MSchrKrim, 1973, 196). 

Die Erfassung und Beschreibung der Psychodynamik - s. n. Dettenborn/Walter, Familienrechtspsychologie, 2002,128-1352 - fällt sogar ausschließlich in den Kompetenzrahmen der Psychologie: Die Psychodynamik ist unzweifelhaft oftmals ein wesentlicher Auslöser für das Entstehen von Querulanz, im Klartwext geht es also um die Verursacherrolle der Justiz höchstselbst, für jeden Richter wohl eine Schreckensvorstellung. selbst im Fokus der Exploration zu stehen!

Der BGH stürtzte sich in dem Urteil vom 22.7.59 auf einen Essay von Paul Bresser (Der Psychologe und § 51 StGB. NJW 1958, 248-250), wonach grundsätzlich der Tatrichter in der Frage der Zurechnungsfähigkeit nach "pflichtgemäßem Ermessen" darüber entscheidet, ob er einen Psychiater oder einen Psychologen - oder auch beide - hinzuzieht. Schließlich sei "menschliches Handeln immer noch gutteils irrational". Interessant für unsere Thematik: Bresser (Kurt-Schneider-Adept) hält für "charakterliche Voraussetzungen"3 den Psychologen für zuständig. 

Zum Auswahlermessen des Richters und zum Übergang vom Begriff 'Krankheit' zum umfassenderen Begriff 'Störung' in den beiden gängigen Klassifikationssystemen (DSM und ICD) siehe Constantin Kruse (NJW 2014, 509-514), der für Aufwertung des Fachpsychologen für Rechtspsychologie plädiert, freilich bezogen auf den aktuellen § 20 StGB.


Die zivilrichterliche Praxis sieht allerdings gänzlich anders aus als im Strafrecht: Die Frage der Prozeßfähigkeit entscheidet allerorten das Gutachten eines Psychiaters, dies, obwohl es nach Bresser unstreitig ist, daß die Erforschung der Motive bei einem gesunden Täter in das Gebiet der Psychologie gehört (BGH, NJW 1959, 2316). Dies erlaubt den Schluss, daß es nur um Geisteskrankheit gehen kann, wenn das Gericht an der Prozeßfähigkeit einer Partei zweifelt
Nachdem der § 52 ZPO in Verbindung mit dem § 104 BGB (dieser enthält den Begriff "krankhaft" = krank) zu sehen ist, wäre also ein prozeßunfähiger Querulant geisteskrank, anders: bereits gerichtsseitiger Zweifel an der Prozeßfähigkeit einer Partei müssten Anzeichen einer Geisteskrankheit zugrunde liegen. Tatsächlich geht es bei der Exkludierung eines Querulanten jedoch keineswegs immer um psychiatrische Krankheitszustände, sondern um "krankheitswertige" Zustände, siehe dazu die eher verunklärenden Erläuterungen eines Psychiaters. Insbesondere hochgradige Neurosen, die gerade Psychopathen im Schneider'schen Sinne zueigen sind, können im rechtlichen Sinne "Krankheitswert" erreichen, um so Urteilsunfähigkeit bzw. Prozeßunfähigkeit (beides Rechtsbegriffe) begründen. Im Grunde ist also der Begriff "Krankheitswert" kein medizinischer, sondern ein Rechtsbegriff.

In der Gerichtspraxis wird ein Psychologe, wenn überhaupt (und dies selten genug) zumeist nur zusätzlich beigezogen. 
Lackner sieht den Grund dafür im - juristischen -Kriterium "Krankheitswert", was nahelege, "den Psychiater auch in Fällen nichtkrankhafter Störungen zuzuziehen" (Karl Lackner, Festschrift für Th. Kleinkrecht, 1985, 258). Damit wird deutlich, daß eine der Weichenstellungen bereits bei der Fachrichtung des Sachverständigen erfolgt, denn ein Psychiater wird andere Ergebnisse liefern als ein Psychologe. 

Noch grotesker ist, daß in Baden-Würtemberg  - aus Kostengründen (!) - seit 1999 (s.u. Gutachterfrage) regelmäßig der Psychiater des Gesundheitsamtes beauftragt wird, wenn es um Klärung der Prozeßfähigkeit geht. 
Die Fragwürdigkeit einer solchen Regelung wird spätestens dann klar, wenn man weiß, daß es Pflicht des Richters ist, sich vor Beauftragung eines Sachverständigen ein Bild von dessen Sachkunde zu machen. Bei Amtsärzten dürften noch weitere Fragezeichen angebracht sein, denn es ist anzunehmen, daß Ärzte des staatlichen Gesundheitsamtes traditionell eher geneigt sind, den Wünschen eines Richters nachzukommen: Da der Richter den Sachverständigen zu leiten hat und dieser Richtergehilfe ist, wird der Amtsarzt, regelmäßig per Telefon, die Intention des Richters erfahren oder doch erspüren. Ob die Baden-Württembergische Sonder-Regelung der gebotenen Objektivität förderlich ist, darf füglich bezweifelt werden. 

Heute dürften Psychologen, aufgrund der in diesem Fachbereich vorliegenden Forschungen, grundsätzlich die Befähigteren sein, wenn es darum geht, Vorurteile aufzudecken. Der Jurist Bernd Schünemann berichtet über eine Untersuchung hinsichtlich vier (Stör-)Effekte: 
den Perseveranzeffekt, den Redundanzeffekt, den Aufmerksamkeitseffekt und den Schulterschlußeffekt.

Daneben existieren noch weitere empirisch beforschte psychologische Theorien, wie "Kognitive Dissonanz" (Festinger), self-fulfilling prophecy oder Ankereffekt. Temerlin konnte 1968 die Suggestibilität von Psychiatern experimentell nachweisen (Kendell, die Diagnose in der Psychiatrie, 1978, 40). Berühmt-berüchtigt wurde sodann die Studie von David Rosenhan (1973). 

Anzumerken ist, daß die für den deutschen Sprachraum besonders charakteristische "Charakterologie" Spielwiese der Kategorisierungssucht deutscher Psychowissenschaftler war. Es handelt sich hierbei um eine Typenlehre, die, analog zu den Psychiatern, von Psychologen betrieben wurde (Protagonisten sind Klages und Lersch, die noch nach 1945 ihr Unwesen trieben: siehe Übersicht
 
Charakter-Typologien verbanden sich naturgemäß mit Obrigkeitsstaatlichkeit und totalitären Systemen. weshalb auch Erich Fromm den Begriff des "autoritären Charakters" beschrieb. So gründete Robert Heiss noch 1944 in Freiburg das Institut für Psychologie und Charakterologie. Zuvor hatte Heiss 1936 seine 'Lehre vom Charakter' veröffentlicht.

Vor dem Hintergrund des Mißbrauches kann heute gesagt werden: Nicht nur der Begriff "Querulant" sollte aus dem Vokabular staatlicher Autorität verschwinden, sondern auch der Begriff "Charakter" und Ableitungen wie "Charakterneurosen", "Pathocharakter(i)ologie" oder "Charakteropathen".4
 
August Strindberg war der Begriff "Charakter" bereits 1888 verdächtig, wenn er schrieb: "Ein Charakter, das ist ein fix und fertiger Herr, der mit unveränderlichen Merkmalen auftritt, einer, der sich einer bestimmten Rolle angepaßt hat, einer, der aufgehört hat, zu wachsen, sich zu entwickeln, einer der sicher dahinsegelt. Und charakterlos wird der genannt, der seinen Gesichtspunkt ändert, einer der stürzt und sich wieder aufrafft und nach neuen Wegen sucht, einer, der schwer einzufangen und zu registrieren ist"  (Vorwort zu Fräulein Julie).

Die deutsche Psychiatrie hat sich von dieser unseligen Vokabel auch nach 1945 nicht trennen mögen, sie machte - jedenfalls partiell - munter weiter. So spricht Gerd Huber, ganz in der Tradition Kurt Schneiders und Philipp Lerschs in seinem Lehrbuch Psychiatrie noch 1999 von "mehr übercharakterlicher und mehr charakterogener Persönlichkeitsdisposition" (Seite 428) und unterscheidet dem entsprechend zwischen "mehr übercharakterlicher unmittelbarer" und "charakterogener unmittelbarer Erlebnisreaktionen" (Seite 439f), ein geradliniger Weg zum geborenen Querulanten.

Scrobel "neigt persönlich dazu" (Zitat) die nichtkognitiven Fähigkeiten der Lebensbewältigung als 'Charakter' zu bezeichnen, siehe "Charakter statt Intelligenz". Diese Leit-Vokabel des 'anständigen' Deutschen scheint nicht ausrottbar zu sein: https://www.youtube.com/watch?v=sSrtyg3cahs

In der modernen Version wird Charakter enger mit Moral und Tugenden (auch: Charakterstärken) verbunden, dies wohl, um diesen fragwürdigen Begriff wieder salonfähig zu machen.





Anmerkungen:
Im Falle von Zeugen im Kindesalter dominieren aber dann doch Psychologen, siehe das grundlegende (!) Urteil des BGHSt 45, 164 vom 30.Juli 1999 - BGH 1 StR 618/98, in dem der BGH der Justiz erstmals (!) formale Prüfkriterien für Gutachten an die Hand gab (ausführlich dazu: Rudolf Egg, die unheimlichen Richter - wie Gutachter die Strafjustiz beeinflussen, 2015, 94ff).

In Deutschland führend in Fragen der Aussagepsychologie ist wohl Max Steller, siehe dazu die folgende Laudation sowie das rbb-zibb-Interview und Zeit-oline.
Im Kachelmann-Prozess vermochten aber auch die Psychologen das Blatt nicht gänzlich zu wenden, siehe Stern/Arnsperger, und erst das OLG Frankfurt zeigte sich "überzeugt", daß Ex-Freundin Claudia Dinkel Kachelmann vorsätzlich falsch beschuldigt hatte, dies, nachem das LG Frankfurt eine wissentliche Falschaussage der Claudia Dinkel "nicht mit der erforderlichen Sicherheit" feststellen mochte. Zu den "Realkennzeichen" siehe folgende Diplomarbeit. Jeglicher später Einsichtsfähigkeit zum Trotze, bleibt - natürlich - Deutschlands Feminismus-Gazette EMMA stur bei ihrer Eingangswertung:  http://www.emma.de/artikel/ex-freundin-von-kachelmann-verurteilt-333441?wt

2 Laut telefonischer Auskunft Walters (im Nov.2005 a. d. Verf.) wendet sich das Kapitel Dettenborns ("Querulanz als spezifische Konfliktquelle") an Richter und Sozialberufe, "um aufzuklären und Verständnis zu wecken." Dies bestätigt auch die Überschrift. Nicht etwa Gesetzeslage und Rechtsprechungsorgane (Richter, Rechtsanwälte und deren Gehilfen Jugendämter und Sachverständige) werden als Konfliktquelle behandelt, sondern es bleibt bei der Perspektive von oben nach unten. Die Problematik der - gelegentlich - mißbräuchlichen Nutzung des § 56 ZPO durch die Gerichte war Walter denn wohl auch unbekannt, denn es hieß: Fälle, in denen in Berlin bei Querulanten die Prozeßfähigkeit überprüft worden sei, kenne er nicht.

3 Bis heute hat ein deutscher Beamter auch "charakterlich geeignet" zu sein. Hier genügen - ganz wie bei der Prozeßfähigkeit - nicht ausräumbare 'Zweifel' an der charakterlichen Eignung, um einen Bewerber für den Staatsdienst abzuweisen. Charakterlich geeignet muß auch ein Führerscheinbewerber sein und es wird der Behörde bei dem Rechtsbegriff "charakterliche Eignung" ein Ermessenspielraum zugebilligt, siehe etwa den Beschluß des VerfGH des Landes Berlin vom 25.05.2005.

4 Typenbegriff nach Łobaczewski, s.a. den Vortrag von H. Spranger: Verhängte Bilder, wo dieser Begriff auftaucht. 




Literatur zur Rechts- und Sozialpsychologie:
- Herbert Maisch, Methodische Aspekte psychologisch-psychiatrischer Täterbegutachtung - Zur Rolle des Sachverständigen im Strafprozeß. MSchrKrim 56 Jg. (1973), 189-197
- Mrozynsky, Einstellung und Wahlnehmung in der Strafgerichtsbarkeit, MschrKrim 1974, 48-56
- Schünemann, Der Richter im Strafverfahren als manipulierter Dritter?, in: Verfahrensgerechtigkeit, 1995, 215-232
- Die Macht der Staatsanwälte - Ankereffekt beim Plädoyer, in: Betrifft:JUSTIZ , 3/2008, 210-215
- Schmid, Zivilrichterliche Entscheidungsfindung..., in: Hommers, Perspektiven der Rechtspsychologie, 1991, 61-80




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