I. Psychiatrie als Ideologie - Psychoimperialismus, der von den USA ausgeht (Weinberger)?
Die Psychiatrie bietet ihrem Wesen nach mehr Ansatzpunkte zum Mißbrauch als irgendein anderes Gebiet der Medizin. Dies erklärt sich zum einen aus den außerordentlich verschwommenen und ungenauen Begrifflichkeiten, Kriterien und Grenzen der Disziplin, zum anderen aus einer ambivalenten Zwitterstellung: der Psychiater leistet Dienst am einzelnen Menschen und dient zugleich der "Gesellschaft" in Gestalt der jeweils herrschenden Ratio des Staates. Hieraus resultiert die zweiseitige Loyalität des Psychiaters, der sich einmal Patienten, ein andermal aber Probanden im Auftrage staatlicher Institutionen und deren "Ordnungsfunktion" gegenüber sieht (Bloch/Reddaway, Dissident oder geisteskrank? 1977, 19; Gabriele Feger, Die Geschichte des Psychiatrischen Vereins zu Berlin, med. Diss. 1982).
Hinzu tritt noch eine weitere Komplikation: Die Psychiatrie oszillierte von Anfang an zwischen Biologismus und Ideologie. Folge: "Von allen Fächern der Medizin ist die Psychiatrie die personbezogenste" (Paul Matussek, Die Ideologieanfälligkeit der Psychiatrie, in: Standorte der Psychiatrie, 1976, 129). Zur Klarstellung: Matussek meint die Person des Psychiaters. Frühe Blüten persongebundener Charakter-Theorien lieferten etwa 1900 Möbius (Psychiater) und 1903 Otto Weininger Philosoph).
Eine psychiatrische Diagnose ist etwas anderes als eine objektiv bestimmbare medizinische Diagnose, sie gründet sich auf Ideen. Im Gegensatz dazu gründet sich eine objektiv bestimmbare medizinische Diagnose - die Psychosomatik mal weggelassen - auf objektive körperliche Befunde. Hiermit wird deutlich, daß die Psychiatrie keine reine Naturwissenschaft ist.1
Die kontroverse Teilung in "Somatiker" und "Psychiker" datiert denn auch in die Spätromantik, dabei handelt es sich jedoch um eine Tendenz, die bis heute weiter wirkt. Wenn Nedopil etwa die Psychoanalyse pauschal als "Ideologie" bezeichnet, so ist er im Gleichklang mit demjenigen Teil der Ärzteschaft, der die Psychoanalyse für eine "Religion" hält. Karl Birnbaum als Prototyp der konventionellen deutschen Psychiatrielehre spricht es deutlich aus: Psychiker der "romantisch-naturphilosophischen Epoche der Medizin" hätten gar den "Morbus demokratikus" als neue Krankheitsform geschaffen (Birnbaum, Die Welt des Geisteskranken, 1935, 114). Hintergrund ist die verbreitete Grundannahme, daß Psychopathien letztlich im Genetischen wurzeln, somit Charakteranlagen' 'Charakterartung') bzw. 'Charakterkrankheiten' darstellen, so daß dies zur 'Charakterschuld' (v. Liszt) fuhren konnte. Bis heute geistern in der juristisch-psychiatrischen Literatur folglich die Begriffe 'Hang', 'Zug', 'Neigung', 'Wesen', 'pathologische Konstitution' oder auch 'Grundcharakter' herum. Kein Wunder, daß auch Birnbaum, obwohl Jude, rassistisches Gedankengut vertrat.
Die Grenzziehungsproblematik bei der sog. posttraumatischen Belastungsstörung spiegelt überdeutlich den anhaltenden Dogmenstreit zwischen Psychikern und Somatikern wider. Die politische Funktion der psychiatrischen Krankheitslehre(n) ist unübersehbar und wird niemals völlig zu beseitigen sein, so daß Wachsamkeit geboten bleibt.
Psychiatriegeschichtler sprechen heute gerne von "Verstrickung", wenn sie auf die NS-Zeit kommen. Die Gehilfenrolle staatlicher Machtträger, die Ordnungsfunktion, die Entwicklung vom Tollhaus zur Irrenanstalt zur offenen und geschlossenen Psychiatrie erwuchs schon immer dem gesellschaftspolitischen Bedürfnis nach kostensparender Separierung bis hin zur Vernichtung von Geisteskranken. Und immer hing die communis opinio vom jeweilig herrschenden System ab. Der Mißbrauch ist daher der psychiatrischen Disziplin immanent. So war es für die Lage in Deutschland auch kein Zufall, wenn der deutsche Psychiater C. Th. Groddeck 1850 eine medizinische Dissertation "Über die demokratische Krankheit, eine neue Wahnsinnsform" verfaßte: ein frühes Zeichen der Anpassungsbereitschaft der Psychiatrie (Storz in: Psychologie heute, 8/1978, 14). Der gegenteilige Wahn wäre der sog. Cäsarenwahn. Zu beachten ist, daß auch bei abstrusen Ideologien von "Wahn" gesprochen wird, so etwa von NS-'Rassenwahn' (Rassenkunde/Rassenlehre war zur NS-Zeit Lehrinhalt) - eher wohl eine biologistische Rassenideologie - oder vom "Wahn vom Lebensraum" (Guido Knopp), ohne daß den Vertretern nach dem Kriege jemals persönlich eine (medizinische) Pathologisierung -mithin: Strafbefreiung - zuerkannt wurde. Krankeitszuschreibungen erfolgen immer von oben nach unten, d. h. vom Kollektiv gegenüber dem Einzelnen. Übersicht über Wahn-"Modelle" siehe: Sponsel. Mehrheitlich vertretene Ideologien, seien es religiöse (Gotteswahn, Religionswahnsinn bzw. religiöser Wahn) oder politische, können, da (nach Schneider) nicht abnorm, keinen Krankheitswert haben, und werden sie vom Einzelnen noch so fanatisch vertreten. Ein Einzelner kann aber als größenwahnsinnig kategorisiert werden (Diagnose: 'Megalomanie', Beispiel). Hitler etwa galt kritischen Geistern spätestens seit 1943 als Gröfaz, aber noch nicht als verrückt, siehe die kontroversen Psychopathographien über Hitler. Natürlich versuchten sich Psychiater auch an Jesus, allen voran Albert Schweitzer, der es mit seiner medizinischen Dissertation ("Die psychiatrische Beurteilung Jesu", 1913) unternahm, die Jesus von anderer Seite unterstellte Paranoia zu widerlegen. Grundsätzlich wird - medizinisch - zwischen psychiatrischen Krankheiten und psychischen "Störungen". Dieser Dichotomie findet sich auch in der Rechtsprechung, wobei die Begriffsschöpfungen der Juristen mit der der Psychoexperten korrespondieren, genauer noch: Die Psychiater folgten immer auch dem Bedarf der Staatlichen Institutionen, hier insbesondere der Justiz. Für die Rechtsprechung sind seelische Störungen nur dann relevant, wenn sie "krankhaft"2 sind, sei es in der strafrechtlichen Schuldfrage, sei es in der Frage der Prozeßfähigkeit im Zivilrecht. Störungen wirken sich (subjektiv) sowohl im Erleben, als auch (objektiv) im Verhalten aus - wovon lediglich letzteres, also die psychische Störung im sozialen Kontext, im Fokus gerichtlichen Interesses liegt. WennThomas Fischer konstatiert "Was Wahn ist, ist eine Frage der gesellschaftlichen Verständigung", so steht bei ihm für 'Gesellschaft' nicht etwa das Volk, sondern die Entscheidungsträger, also Psychiater und Richter. Alles wie gehabt: entscheiden tun "die da oben", auch wenn es noch so unverständig ausfällt. Und natürlich liefert die Psychiatrie die gewünschte Diagnose. Subsumiert dies der Herr Bundesrichter (als Repräsentant der "Gesellschaft") unter "Verständigung"? Der Blick "von oben" ist doch manchmal etwas getrübt, selbst bei den Großen der Republik, dazu die Replik von Gisela Friedrichsen, eine der wenigen guten Gerichtsreporterinnen, die hier allerdings, von Neid getrieben, des Pudels Kern verfehlte.
II. Strafrecht 1962 nahm der Gesetzgeber die Neuschöpfung des Rechtsbegriffs der schweren andere seelische Abartigkeit3 als vierte Merkmalsgruppe in den neuen § 20 StGB auf, hierunter werden Psychopathien, Neurosen und sexuelle Deviationen subsumiert. Der § 20 StGB entspricht ansonsten dem alten, aus der NS-Zeit (Fassung von 1933) überkommenen § 51 Abs.1 StGB. Forensisch relevant (exkulpierend) sind "andere" seelische Abartigkeiten allerdings nur dann, wenn sie "schwer" sind. Der alte § 51 Abs. 2 StGB wurde zum neuen § 21 StGB. In unserem Zusammenhang könnten querulatorische Psychopathen bei Straftaten - etwa Beleidigungen - zwar auf Dekulpation (Strafmilderung) gem. § 21 StGB hoffen, dann jedoch verbunden mit der Gefahr der Absprache der Prozeßfähigkeit.
III. Zivilrecht Analog dazu kreierte die Ziviljustiz die seelische Störung "von Krankheitswert" 4 als Rechtsbegriff. Ist z. B. Pädophilie im Strafrecht eine "schwere seelische Abartigkeit", die zur Schuldminderung führen kann, so machen sich im Zivilverfahren die psychiatrischen Gutachter beim "Justizquerulanten" auf die Suche nach wahnähnlichen Symptomen, um ggf. einem lästigen Querulanten eine schwere Störung von 'Krankheitswert' attestieren zu können. Zuvor hatte das Reichsgericht bereits zwischen einer "ausgesprochenen Geisteskrankheit" (paranoia querulatoria) und einer "krankhaften Querulanz" unterschieden (RG-Urteil vom 28.April 1933, Warneyer, Rechtsprechung des Reichsgerichts, 1933, 182). Querulanten werden somit zu den Psychopathen und damit zu den "Kranken ohne Krankheit" gezählt. Damit floß "Erklärung, Legitimation, scheinbare Verwissenschaftlichung mit der erwünschten Entsorgungsfunktion zusammen." (Gunter Herzog, Die Querkopf-Krankheit. In: Vorgänge 74 (1985), 76)
Noch 1957 bezieht sich der ZPO-Kommentar von Baumbach/Lauterbach auf das Reichsgericht wie folgt: "So darf ein krankhafter Quengler, dessen Klage als unbegründet abgewiesen ist, Berufung einlegen; tut er das aber selbst, so ist die Klage wegen Prozeßunfähigkeit abzuweisen." Bis dato also 'krankhaft', wird daraus später "von Krankheitswert".
"Die
Abgrenzung von Normalvarianten und die Feststellung der
Krankheitswertigkeit stellt bei Persönlichkeitsstörungen ein
besonderes Problem dar", so heißt es in den AWMF-Leitlinien - ein weiterer Beleg des Diagnose-Ozeans der unbegrenzten Möglichkeiten. Der Psychiater Fritz B. Simon stellt bei der Frage "was ist normal" den Beobachter in den Mittelpunkt, der Philosoph und Mathematiker Hannes Leidgeb hält es für zulässig, bei der Bewertung von Normalität von Prototypen auszugehen. Hier Gert Scobels Gedanken:
"Ich neige sehr stark dazu, das, was Normalität ist, als Produkt oder auch Zwischenergebnis diskursiver Tätigkeiten zu verstehen. Was normal ist, wird verhandelt und in einen Normalitätsbegriff überführt, der dann unsere Handlungs- und Denkweisen bestimmt. Das das notwendig ist, scheint ebenso klar wie der Umstand, dass es nicht selten auch höchst bedenklich ist. Rückt man dem Problem der Bestimmung von Normalität näher, zeigt sich, dass der Begriff vage ist. Die Übergänge zwischen gesund und krank, normal und anormal und ähnlichen auf Normalität bezogenen Begriffspaaren sind fließend."
Bei aller Vagheit der Begrifflichkeiten und Grenzziehungen können wir uns bei Gericht nur auf dem Boden der Tatsachen, hier also der Rechtsprechung, orientieren. Kriterien damals bis heute sind: Unkorrigierbarkeit des Erlebens aufgrund subjektiver Evidenz und folglich starres Festhalten ("Fixierung") an überwertigen Ideen.
Zweifelhaft dürfte sein, ob eine nur quantitative Abweichung von einer Durchschnittsnorm (Baer, Psychiatrie für Juristen, 1988, 12) ausreichen kann, eine Partei als prozeßunfähig zu erklären. Die Rechtsprechung wird richtiger liegen, wenn sie zwei Kriterien heranzieht, eine Trennung, die auf Kurt Schneider zurückgeht, für den quantitativ Abnormes noch im Rahmen verstehbarer Zusammenhänge, qualitativ Abnormes sinnlos bzw. unverständlich bleibt: - die (unverhältnismäßige) Quantität (Indiz für 'Krankheitswert'), sowie - die "Art und Weise" (Synonym für Qualität = Indiz für 'krankhaft') prozessualen Verhaltens.
Köppen führte bereits 1896 aus: "Die Art und Weise, wie der unheilbare Säufer Thatsachen entstellt und verfälscht, wirkliches und erdachtes vermengt ..." Gleiches treffe auf Querulanten zu, so Köppen, bei denen Wahnideen nie fehlten: "Erst die Belege dafür, daß die beherrschende Idee, ... obwohl durch neue Thatsachen widerlegt, dennoch festgehalten wird ... ermöglichen den Beweis der Geisteskrankheit aus den Ideen des Kranken heraus." (Köppen, Der Querulantenwahnsinn in nosologischer und forensischer Beziehung. In: Archiv der Psychiatrie und Nervenkrankheiten, 1896, 226f )
Die moderne Psychiatrie hält für derartige Erscheinungen den Begriff Konfabulation als Indizien für Geisteskrankheit - und damit Prozeßunfähigkeit - parat. "Das Querulieren an und für sich darf... (jedoch)... nicht als Beweis der Geisteskrankheit vor dem Forum dienen" (Köppen, aaO. S. 238). Diese Erkenntnishöhe Köppens aus den Jahre 1896 ist allerdings bei den meisten Richtern bis heute nicht angekommen, und wohl auch nicht bei vielen psychiatrischen Sachverständigen - Nedopil bildet diesbezüglich - theoretisch - eine der rühmlichen Ausnahmen.
Rasch spricht im Kontext der "schweren anderen seelischen Abartigkeit" im Strafrecht von einer sprunghaften qualitativen Veränderung des Gesamtverhaltens, wendete sich gegen Checklisten-Diagnosen und schlug eine "strukturell-soziale" Krankheitsdefinition vor (Rasch, StV 1991, 131). Überträgt man diese Einschätzung auf das Zivilrecht, so können allein qualitative Symptomkomplexe eine Verneinung der Prozeßfähigkeit rechtfertigen. Unverhältnismäßigkeit prozessualer Mittel wäre dann nur noch Indiz für den qualitativen Sprung, nicht jedoch Leitkriterium für krankhafte Querulanz. Die Abschätzung des "Krankheitswertes" eines neurotisch-psychopathischen Zustandes dient nach Witter im Sozialrecht (Rentenfragen) der Feststellung der Verantwortlichkeit des Neurotikers für seine Störung. Dieses sei eigentliche Aufgabe des Richters, gehe es doch um die Frage, ob der Neurotiker "anders könnte, wenn er wollte", also um eine Wertungsfrage, hier um die der Freiheit des Willens. Auf Fragen der (prozessualen) Geschäftsfähigkeit geht Witter freilich nicht ein, wohl deshalb nicht, weil hier eine "Bedrohung unserer freiheitlichen demokratischen Ordnung" (gemeint: durch Überversorgung) nicht zu besorgen ist (Prof. Dr. med. Hermann Witter, Zur rechtlichen Beurteilung von Neurosen, NJW 1964, 1166-1172). Der verklausulierte Hinweis zeigt einmal mehr die Staatsnähe deutscher Psychiater, ganz besonders derjenigen, die in der NS-Zeit sozialisiert wurden wie Witter. Immerhin lernen wir bei Witter: Die differentialdiagnostische Grenzziehung zwischen prozeßfähig und prozeßunfähig erfolgt nach folgender Formel: Prozeßfähigkeit = Fähigkeit des Anderskönnens. Dementsprechend wies Bumke bereits 1936 auf das differentialdiagnostische Kriterium des Nicht-Anders-Könnens zwischen wirklichem, echten Querulantenwahn (Kennzeichen: völlige Unkorrigierbarkeit) und "Pseudoquerulanten" (Kraepelin) hin (Oswald Bumke, Lehrbuch der Geisteskrankheiten, 1936, S. 237). Im Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie von Aschaffenburg/Gruhle/Hoche/Lange, 3. Aufl.,1934, S. 545, wird bereits von "fließenden Grenzen" gesprochen, gleichzeitig jedoch von Kriterien zur Unterscheidung zwischen noch "normalen" Querulieren und schon krankhaftem.
IV. Zur Historie der psychiatrischen Wissenschaft. Die Anfänge der wissenschaftlichen Psychiatrie datieren in das 19. Jahrhundert. Schon früh wurde zwischen Blödsinn5 (Schwachsinn, Debilität) und Irrsinn (Wahn, Psychose) unterschieden. Kennzeichnend sind sehr wenige Grundpositionen, nämlich folgende: 1. Suche nach biologischen Ursachen (Epilepsie) 2. Suche nach erlebnisbedingten Ursachen (Neurosen) 3. (mutmaßlich) multifaktorielle Ursachen (Schizophrenie, Paranoia bzw. Wahn)
Jeweils gefragt wird nach Einfluß von
- endogen (mutmaßlich, da ohne sichere Ursache, erbbedingt). Hierunter fallen Psychosen aufgrund von Schizophrenie oder Zyklothymie, sowie Schwachsinn. Gemäß der traditionellen Theorie Kurt Schneiders wären auch Psychopathien6 , soweit anlagebedingt, als 'endogen' einzustufen.
- Umwelt (reaktiv, Folgewirkungen auf Ereignisse, z. B. Trauerrekation nach Tod eines Angehörigen) sowie
- exogenen Ursachen von Störungen aufgrund körperlicher Schädigungen, z. B. Gehirnverletzungen (Schädel-Hirn-Trauma), von Infektionskrankheiten (Syphilis) oder auch infolge Alkoholrauschs. Anm.: In der Psychologie werden auch Entwicklungs- und Umwelteinflüsse (Milieu, Erziehung) als 'exogen' bezeichnet. 'exogen' kann also Verschiedenes bezeichnen.
Die Grenzen dieser Gliederung in diese "Sektoren" (Rasch) sind freilich unscharf und die differentialdiagnostische Trennung von endogenen und reaktiven Zuständen kann unmöglich sein (Rasch/Konrad, Forensische Psychiatrie, 2004, 50). Entsprechend unklar ist, was als Krankheit anzuerkennen ist: So ist das gängige Krankheitskriterium "Unterbrechung der Sinnkontinuität" ein weitgehend dem Ermessen unterliegendes Konstrukt. Die Unschärfe wächst noch weiter, wenn man die soziale Dimension "Leiden der Gesellschaft" aufgrund Störung der "sozialen Kompetenz" des Probanden) mit ins Spiel bringt und bewertet und damit endgültig das Feld der Politik betritt.
V. Klassifikationsmodelle der "psychopathischen Persönlichkeiten" Nachdem J. L. A. Koch als erster den Begriff des Psychopathen in seinem Buch "Die psychopathischen Minderwertigkeiten" (1891) geprägt hatte, leistete Emil Kraepelin daraufhin den Übersprung zum bis heute gängigen Begriff der "psychopathischen Persönlichkeit". Kraepelin entwickelte eine 7teilige Typologie, mit den "Streitsüchtigen" als 7. Typus. Es folgten Carl Birnbaum (Über psychopathische Persönlichkeiten, 1906), mit folgender - überwiegend soziologischen - Typenlehre: Querulanten, Haltlose, pathologische Schwindler, geborene Verbrecher, pathologische Affektmenschen, degenerativ Verschrobene) und dann der bis heute (mit-)prägende Kurt Schneider, der die "Psychopathen" in 10, später 11 Typen untergliederte.
Erstaunlich ist, daß in der psychiatrischen Fachliteratur die Problematik, Persönlichkeiten aus "praktischen Gründen" in derartige pseudowissenschaftliche Kategorien einzusortieren, seinerzeit nicht einmal ansatzweise diskutiert wurde. Diese Unbedenklichkeit ebnete denn auch den Weg in die absurde Theorie rassischer Über- bzw. Unterwertigkeit im NS-Totalitarismus. In den Worten Klaus Dörners: "Schon die ersten Nummern der psychiatrischen Zeitschriften nach dem Januar 1933 lassen in zahlreichen Beiträgen ein bisweilen emphatisches Gefühl der Befreiung von einem Druck erkennen, als ob man endlich seine wirkliche Meinung schreiben könne." (Dörner u.a., Der Krieg gegen die psychisch Kranken, 1980, 84).
Die Jagd auf Persönlichkeitstypen bedient sich denn auch der Jägersprache: Der Safari-Fachterminus Big Five findet sich in psychologischen "Persönlichkeitsinventaren" wieder, so auch im Trierer (TIPI), siehe die med. Dissertation der Eva Leygraf. Andresen erweiterte das Big-Five-System 2003 mit seinem Hamburger Persönlichkeitsinventar (HPI).
Typisierung half natürlich auch Juristen, besonders in der NS-Zeit: "Typisierungen bringen Ordnung" (Clostermann, Jugendliche Gesinnungstypen und ihre strafrechtliche Behandlung, in: Deutsches Jugend-Recht, H.3/1943, S. 8) Das Unwesen der Typologie-Konstruktionen zeigte in der NS-Strafrechts-Theorie und -Praxis, die vom Übergang des bisher vorherrschenden Tatstrafrechts ind das subjektivistische Täterstrafrecht, kritisch dazu: Günter Spendel, ZStW 1953, 519 (Zur Notwendigkeit des Objektivismus im Strafrecht). So wurde der dem "Querulanten" sehr ähnlicher Tätertypus des "Hetzers" kreiert. Gesinnungstäter bestraften die NS-Juristen härter, d.h. sie bestraften deren "bleibende Charakterform". Vor dem Hintergrund der aktuellen Ausweitung der Psychologisierung von Straftätern, erkennbar an einer drastische Zunahme von psychiatrisch zu Kranken erklärten, in den bundesdeutschen Maßregelvollzugszentren einsitzenden Straftätern, erscheint Spendels Aufsatz von 1953 geradezu prophetisch.
VI. Exkurs: Psychoanalyse Seit 1900 entwickelte die Psychoanalyse ("dynamische" Psychiatrie) - ein heute gängiges Begriffsvokabular ("Ich", "Es" und "Über-Ich", Kompensation, Narzismus, Verdrängung, Übertragung usw.) und versuchte sich an der Behandlung von Neurosen durch Psychotherapien, Nachdem die Psychoanalyse in Deutschland als "jüdische" Lehre galt, wurde die psychoanalytische Therapie seit 1967 in Deutschland (exklusiv!) Kassenleistung, wonach es nicht verwundert, daß sich nun zahlreiche Psychologen diesen neuen Markt zu erschließen suchten, nachdem die Gründungsgeneration der Psychoanalytiker überwiegend aus Neurologen/Psychiatern bestand.
Nach dem 2. Weltkrieg wurde unter Einfluß dieser "jüdischen Irrlehre" der Terminus Psychopathie ("der Abfallkorb, in den Justiz und Gerichtspsychiatrie in fröhlichem Teamwork versenken, was sie nicht erklären können", Mauz, SPIEGEL vom 29.11.1971) durch Konzepte ersetzt, die von "Persönlichkeitsstörungen" sprachen. Dieser heute noch geltende schwammige Begriff - s.n. die Page des deutschen, in der Schweiz lebenden Arztes Franz Engels, dort unter 'Persönlichkeitsstörungen' - mußte sich, dies völlig zu Recht, mannigfaltiger Kritik (zur ökonomischer Perspektive s. Grubitzsch, 1997) aussetzen.
Insbesondere steht der Begriff Persönlichkeitsstörung auch für "interaktionelle Verhaltensstörung", im Klartext heißt dies: Anpassungsstörung (die Therapeuten für behandelbar halten).
Nachdem die Psychoanalyse 1967 Kassenleistung wurde, schwand, so scheint es, die sehr wichtige psychoanalytische Beleuchtung der Beziehung des Individuums zu gesellschaftlichen Prozessen, um die sich z. B. Adorno mit seiner autoritären Persönlichkeit (die letztlich aber auch gesellschaftlich produziert wurde) oder Paul Parin mühten. Grundsätzlich ist die Psychoanalyse ein Feindbild der tradierten Psychiatrie, die alles Gesellschaftliche ausklammert, dies in der Folge des Primats der Erblichkeit. Symptomatisch etwa ist die Einschätzung Petrilowitschs (Abnorme Persönlichkeiten, 1960, S. 41), in der Psychoanalyse herrsche der 'Egalitätsgedanke' vor: Petrilowitsch zitiert denn auch Stransky: "viele Neurotiker sind im Grunde Psychopathen mit neurotischer Außenseite" - im Klartext heißt dies: nichts zu machen ...
Diese unsinnige Feindschaft zwischen tradierter deutscher Psychiatrie und Psychoanalyse zeigte sich jüngst in der Gemeinde der Mollath-Unterstützer: hie GEP (Weinberger) dort Hanna Ziegert oder Gabriele Wolff. Tatsächlich zeigt die Praxis jedoch, daß es weniger um die Theorie geht, als um die Qualität - hier insbesondere in Abhängigkeit von der gesellschaftspolitischen Ausrichtung des Interpreten -, ganz gleich ob dieser tradiert oder psychoanalytisch orientiert ist. Das Feindbild klassisch-deutscher Psychiater (so auch Weinbergers) ist die Psychoanalyse. Die Attacken Weinbergers gegen die Psychoanalyse im Rundbrief 1/2013 (dort S. 18ff) nützt der Sache - nämlich der Anfälligkeit der "lege artis"-Psychiatrie für Interessenleitung - jedoch wenig: Sowohl Ziegert als auch Pfäfflin sind Analytiker. Pfäfflins Minderleistung im Mollath-Fall weist ihn als einer derjenigen Vertreter dieser Zunft aus, die den Gesellschaftsbezug ausklammern. Derselbe Pfäfflin befleißigte sich scharfer Kritik an seinen Kollegen (Langelüddecke, Ehrhardt, Villinger, Janzarik), die allesamt kein Wort über die Psychiatriegeschichte in der NS-Zeit (Gesellschaftsbezug!) verloren hätten (Pfäfflin in: R&P 1987, 134ff). Auch für einen Analytiker ist es leichter, seinen Blick in die Vergangenheit zu richten, als auf die Gegenwart. So blieb denn Tilmann Mosers Repressive Kriminalpolitik von 1971 bis heute singulär im Analytikerkreis; die klassische deutsche Psychiatrie lieferte Vergleichbares bis heute nicht. Zum Glaubenskrieg der beiden Richtungen siehe etwa
VII. Begriffsdivergenz: Deutschland und Amerika Grundsätzlich verstehen die Amerikaner unter Psychopathie etwas anderes, nämlich Eigenschaften, die Hochstapler, Heiratsschwindler oder skrupelose Manager als "soziale Raubtiere" auszeichnen. Diese Typen suchen Hare oder Cleckley zu erfassen. Jene amerikanischen Theoretiker, die annehmen, dass Psychopathie durch Umweltfaktoren bedingt ist, gebrauchen im Allgemeinen den Begriff Soziopath, womit die Psycho- oder Soziogenese7 angesprochen wird. Anhänger der biologischen Theorie (insbesondere die Kurt Schneiders) verwenden den Begriff Psychopath. Um der Begriffsverwirrung entgegenzuwirken, wurde die Bezeichnung Soziopathie allerdings nicht in die Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM 4 aufgenommen.
Ein Video gibt die amerikanische Vorstellung des Psychopathen ganz gut wieder (Vorspann überspringen!). Henning Saß setzte sich 1987 kritisch mit dem Psychopathieproblem auseinander. Dies änderte sich jedoch: Mit der Übernahme des Psychopathiekonzeptes des Amerikaners Robert Hare durch die forensische Psychiatrie bekam der Psychopathie-Begriff auch im deutschsprachigem Raum jedoch wieder eine diagnostische, vor allem aber prognostische Wertigkeit zurück. Hare entwickelte eine Psychopathie-Checkliste von 20 Items8, untergliedert in 4 Faktoren, die der Erfassung von Dissozialität/Straftätern dienen soll. Zu weiteren Faktorenmodellen siehe: Stompe, Neuropsychiatrie Bd. 23, Sonderheft 1 - 2009, 6. Hier eine Beschreibung der Herrschaft der Psychopathen, genannt: PATHOKRATIE.
Im Gegensatz zu Kurt Schneider, dessen Typologie vorgeblich wertneutral war, zielen die amerikanischen Psychopathy-Checklists auf forensische Verwendung, d.h. sie dienen der Klassifizierung von Straftätern mit "antisozialer Persönlichkeitsstörung". Für solche Psychopathen sind andere Menschen immer nur ein "Es", ein Objekt, das man hinters Licht führen kann (Daniel Goleman, Soziale Intelligenz, 2006, 195). Nach amerikanischer Vorstellung von Psychopathen sind dies Menschen bar jeder Empathie, d. h. kaltblütig, kaltherzig und angstfrei. Ein socher Psychopath ist weit entfernt davon, unter sich zu leiden, wie dies die deutsche Psychiatrie - siehe Kurt Schneiders klassische Definition - annimmt. Psychopathen sind nach Goleman (aaO., 196) die "wahrscheinlichsten Gefängniskandidaten". Ihre Gefährlichkeit ergibt sich aus ihrer Gabe, andere mit oberflächlichem Charme, verbunden mit pathologischem Lügen zu manipulieren und zu täuschen, wie dies etwa Heiratsschwindler praktizieren. Unter Umständen könne gerade ein Psychopath "hervorragende Leistungen im Bereich sozialer Kognition" erbringen (Goleman, aaO., 202).
Die herrschende deutsche Psychiatrie hat zwar oberflächlich die amerikanische Denfinition des Psychopathen übernommen, so etwa in Gestalt der "sogenannten" (!) antisozialen Persönlichkeitsstörung. Ein Beispiel liefert der Göttinger Psychiater Bandelow im SPIEGEL 19/2916, S. 20: Es geht um Ausübung von Macht. Jedoch: die genetische Wurzel á la Kurt Schneider schimmert auch bei ihm immer wieder durch ... Bandelow plaudert gern zu Typenbegriffen, hier etwa zum Narzissten.
Der Hallenser Psychiater Maaz attestierte der Kanzlerin eine "narzisstische Grundproblematik", insbesondere dadurch gekennzeichnet, daß Frau Merkel nicht sagen könne, daß sie sich geirrt habe. Wohl wahr - doch: amerikanische oder deutsche Vorstellung der narzißtischen Störung? - Die Merkelsche Fröhlichkeit, verbunden mit der Merkel-Raute, könnte signalisieren, daß Maaz sich die amerikanische Definition des Psychopathen zu eigen gemacht hat ...
Unbeschadet der Begriffsdivergenz diente Schneiders Typologie den Amerikanern jedoch als Modell. Dieses verdeutlicht die Verlogenheit deutscher vorgeblicher Wissenschaftsneutralität: So fabulierte Huber als Kurt-Schneider-Schüler noch 1999, daß der Psychopathiebegriff "an sich wertfrei" sei, "auch wenn er nicht rein psychologisch, d. h. ohne seinen sozialen Aspekt, definiert werden kann." (Gerd Huber, Psychiatrie, 6. Aufl. 1999, S. 400). Die Medizinalisierung in Gestalt des Definiert-Werdens irgendwie auffälliger "Varianten" (Kurt Schneider) als Psychopathen lieferte den Opfern dieser sogenannten Psychopathen vermeintliche Klarheit: diverse Internet-Foren von Psychopathen-Betroffenen, überwiegend Frauen, entstanden.
Immer ist jedoch im Blick zu behalten, daß die deutsche Psychiatrie objektive Wissenschaft sein möchte, die amerikanische auf pragmatische Verwendung der Erkenntnisse.
VIII. Die Suche nach Minimalkonsens Neben der Bemühung um die Schaffung und Weiterentwicklung fundamentaler Kategorien, wie z.B. Hysterie oder Wahn, geht es im Zuge der "Verwissenschaftlichung" vor allem um Verständigung, also um die Verbesserung der wissenschaftlich-psychiatrische Kommunikation -"sie ersetzen psychiatrisches Wissen nicht" (Nedopil, JR 5/2005, 217).
Das permanente Arbeiten an der Entwicklung der beiden Klassifikationssysteme - DSM (aktuell DSM-5) = amerikanisches Diagnosesystem
dient zugleich dem Bemühen um einheitliche Symptom-Definitionen anhand von Kriterienkatalogen, dies freilich mit dem Effekt einer inflationären Vermehrung der diagnostischen Gruppen (siehe SZ vom 5.8.2012: "Ganz normal verrückt", kabarettreif die Kritik Allen Frances).
Bereits Saß/Wiegand beklagten die quantitative Ausweitung bei Verkürzung des qualitativen Gewichts, dem die eigentliche forensische Relevanz zukommt, weshalb sie den Klassifikationssystemen nur den Wert eines "kleinen Bausteins" zumaßen (Saß/Wiegand, Operationalisierte Klassifikationssysteme in der forensischen Psychiatrie. Fortschritt oder Irrweg? FS f. Göppinger, 1990, 349-357).
Tölle/Windgassen (Psychiatrie, 2006, S. 46) geben folgende Erläuterung: "Klassifikation ist nicht das gleiche wie Diagnostik. Während Diagnostik der erste Schritt der Patientenbetreuung ist ... steht Klassifikation am Ende des diagnostischen Prozesses und dient statistischen und wissenschaftlichen Zwecken." Zu Recht warnen sie vor einem Mißbrauch der Klassifikation, "vor einer Abstempelung des Patienten mit einem psychiatrischen Etikett." Tatsächlich begnügen sich die Diagnosetabellen vielfach "ganz im Sinne des Behaviorismus, mit vordergründigen Verhaltensbeschreibungen" (Günter Blau FS Wilfried Rasch, 1993, 116). 1995 setzt Rasch noch eins drauf: er spricht von "Kriteriologien", deren Kriterien vielfach "unscharf und daher letztlich beliebig ausdeutbar" seien (in: Konrad, Der sogenannte Schulenstreit, 1995, 8).
Kraus, noch ganz der Heidelberger Tradition (Jaspers, Gruhle, Kurt Schneider) verhaftet, beklagt gar den "Auflösungsprozeß vieler traditioneller Klassifikationseinheiten" und das Verschwinden des "intuitiven Verstehens", das aus "intuitiv-eidologischen Akten einer anschauenden Vergegenwärtigung eines Wesensganzen" besteht, in Ableitung dieses Kauderwelschs von Heidegger und Husserl, und plädiert für die Renaissance der Strukturmerkmale9 (Kraus in: Henning Saß (Hrsg.), Psychopathologische Methoden und psychiatrische Forschung, 1996, 156ff ).
Wohltuend klingt es bei Saß, der im gleichen Buch (S. 227f) klar dafür plädiert, daß von Persönlichkeitsstörungen erst dann gesprochen werden sollte, wenn Symptome psychiatrischer Erkrankungen vorliegen. Würde nicht zwischen abweichendem Sozialverhalten und psychischer Gestörtheit unterschieden, bestünde die Gefahr der Brandmarkung und Asylierung sozialer oder politischer Dissidenten. Saß wendet sich gegen die zweistufige Struktur der Kurt Schneider'schen Systematik (1. Stufe: Normabweichung, 2. Stufe: Leiden der Gesellschaft) und plädiert für eine psychiatrischen Diagnostik, die das Individuum von den gesellschaftlichen Erwartungen getrennt behandelt.
Bereits 1965 wurde In den deutschsprachigen Ländern das AMDP-System aus forschungsstrategischen Gründen entwickelt. Alle diese diversen Mühen um Sprachregelungen in der Psychiatrie zeigen die desolate Lage dieser Disziplin. Bereits ein Blick in eines der gängigen Lehrbücher (etwa Peter Fiedler, Persönlichkeitsstörungen), hier unter den Stichworten "Differentialdiagnostik" oder auch "Komorbidität", offenbart die wohl kaum je zu meisternde Trennschärfe der Begriffe, siehe dazu die Dissertation von S. Ulrich, oder/und "Checklisten" wie etwa die von Th. R. Payk, 5.Aufl. 2007. Die scheinbar statischen Definitionen psychischer Störungen bleiben in stetigem Wandel, sowohl die Terminologie als auch die Kriterien verändern sich weniger mit dem wissenschaftlichen Fortschritt als mit der gesellschaftlichen Einschätzung der Kategorien "normal" und "abnorm" (Mahler/Pfäfflin, Die psychischen Störung im ThUG, R&P 2012, 130-137). Immerhin: Als Gefahr wurde erkannt, daß jede Veränderung in einem "Buch des Wahnsinns" Auswirkungen auf das Diagnoseergebnis hat. Zu Recht kritisch auch Sponsel.
IX. Sprache als Spiegelbild der Erkenntnishöhe Wissenschaftler sollten sich zumindest verstehen können. Die Sprache der Psychiatrie bedient sich bevorzugt des Griechischen soweit es um die verstehende Erkenntnis, also die Hermeneutik, sowie des Lateinischen, soweit es um Beschreibung, also die Phänomenologie geht. Immer wieder nun sind Psychiater um die "Sprachregelung" ihrer Disziplin bemüht. DSM und ICD bescheiden sich damit, der "Verständigung" zu dienen, nicht dem "Verstehen" (daher liefern Klassifikationssysteme auch keine Diagnosen, wie Gresch dies behauptet, indem er die Validität - zu Recht - bemängelt). Diese Verständigung sucht man durch Extrahierung sog. Algorithmen. Es werden sog. "Entscheidungsbäume" errichtet um sich dem speziellen psychiatrisch auffälligen Phänomen anhand von Ein- und Ausschlußkriterien zu nähern.
Somit geht es nicht etwa um eine Differenzialdiagnostik, sondern lediglich um die Diffenenzialtypologie. Das Einzelkriterium gewinnt nur in Gegenüberstellung zu anderen Kriterien Bedeutung, anders gewendet: mit dem Gesamtkatalog der Kriterien verändert sich immer auch das Einzelkriterium.
Symptomatisch für den Zustand der psychiatrisch-"humanwissenschaftlichen" (Nedopil10) Wissenschaft ist die Unüberwindbarkeit der Dichotomie Geisteswissenschaft/Naturwissenschaft11. Die Klassifikationssysteme mögen der Vereinfachung der Verständigung dienen, sie führen jedoch zugleich zu einer Verengung der Wahrnehmung von Grundstrukturen. Der Rollback zu den geisteswissenschaftlichen Wurzeln und damit zur psychiatrischen Freiheit der Diagnose aufgrund von "Intuition" und "klinischer Erfahrung" macht die Gefahr für den Probanden deutlich: proportional zur Freiheit des Psychiaters wächst auch die Freiheit seiner Werturteile. Damit schwindet die Berechenbarkeit psychiatrischer Diagnosen. Ganz besonders in der Forensik wächst aber so die Mißbrauchsgefahr. Aufklärung über die Risiken ist nicht von der Psychiatrie, sondern von deren kritischen Begleitern Psychologie in Verbindung mit (auch der politischen) Soziologie zu erhoffen. Die "reine psychiatrische Lehre" ist die eigentliche Gefahr!
Entlarvend ist die Sprache der Psychiatrie sowohl in der Theorie, siehe dazu das neue Buch "Normal" (Video) von Allen Frances als auch in der Praxis: Die Scharlatanerie oder, milder ausgedrückt, die blanke Willkür erschließt sich bereits dem Laien bereits aus den bekannt gewordenen Bruchstücken aus dem Leipziger-"Gutachten" in Sachen Mollath. Buchstäblich alles, was Mollath tut oder äußert, wurde mit psychiatrischen Vokabeln belegt: Seit Mollath in den Medien erscheint, wies man ihm, nach eigener Aussage, eine "Narzistische Störung" zu. Mollath zum neuen DSM-5.
Nachfolgend einige Beispiele psychiatrischen Kauderwelschs: 1. Chefarzt Leipziger: Bei M. (=Mollath) wird differentialdiagnostisch auf eine " Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis" bei "fanatisch-querulatorischen" Persönlichkeits"zügen" erkannt, an anderer Stelle spricht Leipziger von einer "paranoiden (fanatisch-querulativen) Persönlichkeitsstörung". Sodann: Es "dominieren" Größenphantasien. Der "Affekt ist heiter", die "Stimmung wirkt grenzwertig gehoben" - dies bei "maniform anmutender Stimmungslage". Selbst durch "zweckgebundene Ausführungen ohne Anlegen von Handfesseln" sei M. nicht zu einer "aus unserer Sicht" gebotenen "affektglättenden" Medikation zu bewegen gewesen. Eine "medikamentöse" Behandlung scheitere momentan leider auch an der "fehlenden gesetzlichen Durchführbarkeit". M. zeige sodann "krankheitsüberformte dysfunktionale Problemlösestrategien". Zum Schluß noch ein besonderes sprachliches Bonbon Leipzigers: "M. imponiert in psychischer Hinsicht zu allen Qualitäten orientiert". 2. Kröber fand es "schlüssig und gut nachvollziehbar", daß dem M. zumindest eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit "konzediert" wurde, so, als sei dies für M. von Vorteil gewesen.
3. Laut Pfäfflin war M. "etwas konkretistisch", i. ü. "imponierten" die als wahnhaft eingestuften Überzeugungen bei M. als unkorrigierbar.
X. Zur unheiligen Allianz von Medizin und Rechtsprechung Bei der Verbindung von juristischem und psychiatrischen Urteilen begegnen sich zwei Felder unbestimmter Begriffe (der Richter sucht unbestimmte Rechtsbegriffe - hier Prozeßfähigkeit - mittels dem Gespinnst unbestimmbarer psychiatrischer Begriffe auszufüllen, die er weder versteht, noch verstehen will) - der Bielefelder Psychologe Uwe Jopt sprach denn auch treffend von einer "unheiligen Allianz", deren Kennzeichen die Verantwortungsverlagerung auf den Psycho-Sachverständigen sei. Zutreffend bezeichnete Musil die Psychiatrie als "Reserveengel der Jurisprudenz" (Mann ohne Eigenschaften, 1930, 244). Beide Disziplinen verständigen sich über Typisierung, den auch "der Jurist denkt in Typen, weil er nur durch Erfassung typischer Fälle die Lebenswirklichkeit einigermaßen übersehen und bewältigen kann" (Hellmer, MschrKrim Bd. 43 (1960), 137). XI. Psychiatrie als Selektionshilfe gegenüber Nichtangepaßten
Die Instrumentalisierung der Psychiatrie in der Beziehung Staat / Individuum rückt in den Fokus, nachdem die Psychiatrie zur Dienstmagd des jeweils herrschenden Systems geworden war, das aus dem Hang der Psychiater zur Typisierung und Kategorisierung Nutzen zog, indem störende Menschen abgestempelt, selegiert und schließlich selektiert werden konnten. Neben den Störenden sind noch die lebensunwerten "Ballstexistenzen" - Hauptkriterium: "Fähigkeit zu produktiver Arbeit" - zu erwähnen, denen seit 1939 (Kriegsanfang) der "Gnadentod gewährt" wurde (T 4 Aktion). H. Ehrhardt sah das Hauptversagen nicht bei der "deutschen Psychiatrie", sondern beim "Führercorps der beamteten deutschen Justiz" (Ehrhardt, Euthanasie und Vernichtung lebensunwerten Lebens, 1965).
Wegbereiter der begrifflichen Segregation sozial Störender war Emil Kraepelin, auf den die für den späteren NS-Jargon typischen Vokabeln "Entartung" und "Minderwertigkeit" zurückgehen12. Ganz wesentlich für Medizin u n d Staat (v. a. Justiz) wurde die Frage der Erblichkeit13. Zur Frage der Sterilisation "Entarteter" bemerkte Kraepelin bereits 1903 (Psychiatrie Bd.1, S. 386) es sei "schwierig, bei wem sie Halt zu machen hätte." Zur historischen Figur Kraepelins siehe Engstrom 1990 und Ärzteblatt 2006, der Kraepelins tiefe Verwurzelung in die bildungsbürgerlich-autoritäre Gesellschaftsstruktur der Wilhelminischen Ära - dies als krasses Gegenbild zur grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen - herausarbeitet. Als krasses Gegenbild zu Kraepelin entwickelte Siegmund Freud seine "romantischen Psychiatrie", sprich Psychoanalyse. Freud bezeichnete die Militärpsychiater als "Maschinengewehre hinter der Front".
XII Militärpsychiatrie Aufgabe der Psychiater im 1. und 2. Weltkrieg war es, die Kriegsneurotiker fronttauglich zu machen, um zu verhindern, daß die Gesunden sterben und die Kranken überleben. Der einzelne Mensch gilt nichts, die Schlagkraft und
Einsatzfähigkeit der Armee alles. Die Behandlungsmethoden waren brachial: mittels Elektroschocks sollten und wurden angeblich auch Zitter- und Schüttelphänomene "geheilt". Im zweiten Weltkrieg praktizierte man die "frontnahe" Psychiatrie. Die instrumentelle Zielrichtung ist in beiden Fällen unverkennbar. Auf öffentlichen Protest gegen Krieg erfolgte Einweisung in die Psychiatrie, dies widerfuhr dem Künstler Heinrich Vogeler unmittelbar nach Versendung des "Märchens vom lieben Gott" an den Kaiser im Jahre 1918. Allgemein gesprochen erfolgte dann eine Pathologisierung des Ungehorsams, wenn psychische Ursachen vermutet wurden.
Vor allen anderen Ärzten waren es Psychiater die dem System dienten, hier seien nur der berüchtigte SS- und Gestapo-Psychiater Werner Heyde (Deckname: Fritz Sawade) sowie Friedrich Panse (Elektroschockexperte) genannt, aber auch der berühmte Kurt Schneider, dessen "Klinische Psychopathologie" auch als "Neuen Testaments der Psychiatrie" (Vollmoeller, Was heißt psychisch krank?, 2001, 100) bezeichnet wurde und der sich nicht zu schade war, im NS-Staat das Konzept der "frontnahen Psychiatrie" zu entwickeln und differentialdiagnostisch Psychopathen von abnormen Erlebnisreaktionen zu separieren. Dabei ging es schlicht um Selektion: Die als "schlechtwillig" eingestuften Psychopathen landeten in Feldsonderbataillonen oder auch im KZ (Goltermann, Die Gesellschaft der Überlebenden, 2009, 181-191). Mit Kriegsausbruch verhalf die Kurt-Schneider'sche Varianten-Theorie den Militärstrafrechtlern zur Diagnose und strafrechtlichen "Behandlung" der "Minustypen". Der Jurist Erich Schwinge (Die Behandlung der Psychopathen im Militärstrafrecht, in: Zeitschrift für Wehrrecht, IV. Band 1939/40, S. 110 - 125) plädierte dafür, daß Strafmilderung für die diversen Psychopathentypen im Militärstrafrecht "im Interesse der Gemeinschaft und des Volksganzen" noch seltenerer Ausnahmefall als im bürgerlichen Strafrecht )(§ 51 Abs. 2 StGB) bleiben müsse. Schwinge schlug vor, schwere Psychopathen in Sonderabteilungen, sog. "Psychopathenkompanien", unterzubringen, damit sie an ihrer Zersetzungsarbeit - der "Gefechtswert" ganzer Einheiten werde durch sie herabgesetzt - gehindert würden. Psychopathisch Minderwertige seien nur "in Richtung nach der Front" zu verlegen oder auf andere Art "auszumerzen". Erich Schwinge hielt noch lange nach dem Kriege eine Professur in Marburg inne und avancierte 1954 gar zum Rektor, späterhin nicht ohne Proteste aus Studentenkreisen und spätem Medieninteresse.
Der Ungeist Kurt Schneiders und Friedrich Panses geisterte noch lange nach Kriegsende in medizinischen Dissertationen weiter (siehe etwa Gernot Blum, Die Grenze zwischen Querulantentum und paranoischer Wahnbildung in forensischer Sicht (1964), hier mit Beschränkung auf das Strafrecht). Wenig geändert hat sich auch die Funktion unser heutigen Wehrpsychiater. Orientierung liefert das Wehrstrafgesetz vom 30. März 1957. Im Handbuch des Peter Ziese (Wehrpsychiatrie von A - Z,1972) finden sich u. a. folgende Stichworte: Gerechtigkeitsfanatiker, Querulant, Störer und Versager. Ein entsprechendes Handbuch für die Justiz steht, soweit bekannt, noch aus.
XIII Psychiater als Funktionsgehilfen
Im Zivilprozeß hat es die psychiatrischen Gehilfen des Staates einfacher, sie zwingen nicht, sondern sie schließen aus. Denn alle Institutionen des Staates haben ein Interesse daran, daß sich die verwalteten Bürger angepaßt verhalten. Angepaßtheit gilt in der Psychiatrie als "normal". Nörgler, Miesmacher und Kritikaster - vor allem jedoch 'Querulanten'14 - werden, wenn nicht zu Kranken, doch zu Persönlichkeitsvarianten (Kurt Schneider) erklärt, die bei hohen Graden für Juristen unter Störungen "von Krankheitswert" leiden. Soweit unter diesen Störungen auch die Gesellschaft, sprich die Justiz, leidet, werden sie wegen Störungen 'von Krankheitswert' dann als prozeßunfähig erklärt und so eliminiert. Sowohl v.d. Heydt ("Schutz der Gerichtsbarkeit als Institution") als etwa auch Langelüddeke ("... daß Gerichte ... Ansehen und Vertrauen verlieren") beteiligten sich daran, daß im Falle der Querulanten die psychiatrischen Beurteilungsmaßstäbe zur blanken Protektion staatlicher Organe und Behörden vor Autoritätsverlust verkommen (Güse/Schnacke, aaO., 279).
Während die Einschließung in die geschlossene Psychiatrie heute - theoretisch - einigermaßen hinreichend15 rechtlich geregelt zu sein scheint (Betreuung statt Entmündigung), gilt dies keineswegs für den Ausschluß vom Gericht infolge Zweifel an der Prozeßfähigkeit: Hier gestattet es die Rechtslage, nämlich der § 56 ZPO, weithin willkürlich "Bedenken" bzw. "Zweifel" an der Prozeßfähigkeit einer Partei zu erheben. Bereits dadurch vermag es der Richter, einen rechtsuchenden Bürger in seiner Menschenwürde zu beschädigen. Trotz der wohl eher geringen Zahl der Mißbrauchsfälle erstaunt, daß diese Regelungslücke bislang noch niemals Gegenstand wissenschaftlicher Erhebung und Diskussion war, weder seitens der Rechtswissenschaft, noch seitens der Psychiatrie.
Nicht unerwähnt soll die Psychosomatik bleiben. Hier ist v. Weizsäcker zu nennen, der sich 1929 der von ihm sogenannten "Rechtsneurosen" verunfallter Menschen annimmt, womit er auf die Behandlung der 'Volksseuche' Rentenneurose zielt (V. v. Weizsäcker, Über Rechtsneurosen, Der Nervenarzt, 1929, 569-581). Weizsäcker kommt zur Erkenntnis, daß "je rechtsverbundener ein Mensch ist, desto gravierender können die Ausmaße der (Rechts-)Neurose sein." Das eigentliche Motiv sei das "Recht-haben-wollen". Die Therapie der Rechtsneurose besteht darin, daß der Therapeut mittels Übertragung den Sinn des Patienten für Realität wiederherstellt, indem sich der Patient mit dem Arzt identifiziert, obgleich dieser auf Seiten seiner Gegner steht. Idealiter endet die Therapie damit, daß der Patient noch im Krankenhaus etwa einen Vergleich mit dem Versicherer schließt. Therapie sei oftmals billiger als ein Prozess. 2012 stellte das Ärzteblatt einige historische Behandlungen vor, die die Psychiatrie als instrumentelle Disziplin zeigen, so als sei die Instrumentalisierung bereits Geschichte. Dieserart Beiträge sollen verdecken, daß der Psychiatrie bis heute und wohl auch in aller Zukunft eine Schutzaufgabe der jeweiligen Gesellschaft zukommt. Sie ist daher niemals allein Medizinische Wissenschaft, sondern zu erheblichem Teil gleichzeitig Instrument von Sozialpolitik.
In seiner Schrift "Soziale Krankheit und soziale Gesundung", 1930 (1955), schildert v. Weizsäcker 15 Fälle von behandelten "Sozialneurotikern", von deren Behandlung zu 78% erfolgreich gewesen sei. Eine Einteilung in Typen sei nicht zu empfehlen, da jeder der Fälle seine Besonderheiten gehabt habe. Eine Behandlung könne Klarheit darüber ergeben, "ob eine schwere konstitutionelle (oder konditionelle) Psychopathie, eine gemeine Drückebergerei von "Rentenjägern" oder eine durch Unfall gesetzte Dauerschädigung vorliege.
Kommentar: Weizsäcker plädiert für ein Behandlungs- statt eines Berentungsrechtes. Der Psychiater tritt hier - auch - im Allgemeininteresse als Sozialingenieur in Erscheinung: Statt endloser Gutachten und Prozesse soll dem Kranken vorab ein wirksames Heilverfahren angeboten werden. Gegen den Vorwurf des unärztlichen Handelns wehrt sich Weizsäcker mit dem Argument der Freiwilligkeit sowie damit, daß der Neurotiker nach der Behandlung eher besser imstande sei, die Wahl zwischen Verzicht (auf Rente) und Kampf zu treffen (op. cit., Seite 45 f.) Es wird deutlich, daß bei Weizsäcker weniger das Wohl des Patienten, sondern vielmehr das der Solidargemeinschaft, d.h. die Sozialpolitik, im Zentrum ärztlicher Bemühungen stehen soll, ganz abgesehen von der Kreation eines neuen ärztliche Berufsfeldes, das der Psychosomatik.
Diese kritische Hinterfragung erwächst der Tatsache, daß sich v. Weizsäcker in keiner Weise mit der Variante des Querulanten als Rechtsneurotiker beschäftigt hat. Grund könnte folgendes sein:Der Querulant kann auf einfachere Weise, nämlich durch Richterbeschluß, gestützt auf das Gutachten eines Psychiaters als "Halbrichter" (op. cit., Seite 3) ausgeschaltet werden, obschon es sicherlich sinnvoll wäre, auch Querulanten ein Behandlungsrecht einzuräumen, gemäß der Weizsäcker'schen Devise "Wir behandeln ohne zu entscheiden, ob der Kranke recht hat" (op. cit. S. 56) - der entsprechende, moderne Weg wäre wohl der der Mediation, zwecks Überwindung des Gegensatzes "zweier inkommensurabler Reiche" (op. cit. S. 60), die des Richters und des Psychologen.
Die 1950 von Adorno et. al. veröffentlichte Studie "The Authoritarian Personality", fand, daß diese Variante charakteristisch für den Deutschen Untertan sei, ein Typus, speziell hervorgebracht durch das (NS-)System (zutreffender wohl des preußischen Militärstaates, siehe Heinrich Manns Untertan). Er steht in einer Reihe mit dem vom Analytiker Fromm kreierte Typ des marketing character oder mit dem von Emrich isolierten Typ der "überwertigen Persönlichkeit" gewaltbereiter religiös-politisch orientierter Fundamentalisten (in: Pflüger (Hg.), Gewalt - warum?, 1992, 31-61). Es verwundert nicht, daß solche von den jeweiligen Gesellschaftsverhältnissen mitgeprägten Typen keinen Eingang in den sich gesellschaftlich neutral gebenden Kanon der Persönlichkeitsstörungen der heute gebräuchlichen Klassifikationssysteme gefunden haben. Nach der ICD-F6-Definition von Persönlichkeitsstörungen sind diese gekennzeichnet durch Ausgeprägtheit ("Akzentuiertheit"), Unflexibilität und geringes Anpassungsvermögen. Allerdings steht diese unübersehbare Gesellschaftsorientierung in langer Tradition: Seit Irrenärzte im Namen und Auftrag des Staates agieren, erfanden sie neue Kategorien zu Selektions- und Repressionszwecken.
XIV. Psychiatrie als Geschäft Der Trend zur Erfindung immer neuer Erkrankungen dient selbstverständlich denjenigen, die sie erfinden: je mehr Krankheitsbilder, desto mehr Behandler und, wichtiger in unserem Kontext, desto mehr Gutachter. Als Beispiel sei hier nur die sog. "Posttraumatische Belastungsstörung" (PTSD) genannt, nach Dörner ein interessengesteuertes Modekonstrukt, das, wie so vieles, ein USA-Produkt ist, siehe die Bonner Dissertation zum Thema Posttraumatic-Stress Disorder (PTSD) der Katrin Lehmacher.
Anmerkungen:
1 Jakob Wyrsch sah 1938 die Psychiatrie in der Mitte zwischen den exakten Wissenschaften und den reinen Geisteswissenschaften, worin das eigentliche Dilemma der Disziplin zu sehen ist: ihre Anfälligkeit für politischen Mißbrauch. Auch Dilling/Reimer sprechen von einer "zentralen Position" des Fachs (der Psychiatrie) zwischen Natur und Geisteswissenschaften, die sich "aus den Beziehungen zu vielen Nachbardisziplinen wie Psychologie, Soziologie, Philologie, Rechtswissenschaft, Theologie und Philosophie einerseits, Morphologie, Biochemie, Physiologie, Pharmakologie und Genetik andererseits ableitet." (Psychiatrie und Psychotherapie, 1997, S. 3)
2 Bei den Beratungen der Strafrechtskommission war der Terminus "Krankhaftigkeit" dem streng definierten Begriff der "Krankheit" vorgezogen worden, um die Möglichkeit einer elastischeren Auslegung offen zu halten (de Boor, Bewußtsein u. Bewußtseinsstörungen, 1966, 12)
3 zur Aufnahme des NS-Idioms "Abartigkeit" in den 1962 neu gefaßten § 20 StGB siehe: Wegener, Seelische Abartigkeit, KJ 1989, 316-328, sowie Blau, Paraphrasen zur Abartigkeit, in: Festschrift für W. Rasch, 1993, 113ff.
4 nicht zu verwechseln mit "krankhaft", also tatsächlich krank. Rasch spricht statt von "krankhaftswertig" auch von "krankheitsartig" und verweit darauf, daß im Gesetz als Maßstab ursprünglich der Begriff der "Gleichwertigkeit" mit Krankheit vorgesehen war. (Wilfried Rasch, Forensische Psychiatrie, 1986, 39, 47). Psychiatrische Gerichtssachverständige setzen den Begriff "krankhaft" denn auch in Anführungsstriche, wenn die Frage der Schuldfähigkeit angesprochen werden soll, wenn also damit eine Einschränkung der Einsichtsfähigkeit, nicht jedoch eine medizinische Erkrankung gemeint ist. Eine Erläuterung liefert der BGH beispielsweise im Urteil vom 5.4.2006 - 2 Str 41/06 - , dort Rn. 17.
5 Das Reichsgericht beschreibt Blödsinn als "Unvermögen, die Folgen der eigenen Handlungen zu überlegen". Wahnsinn sei "eine Steigerung des als Blödsinn bezeichneten Vernunftmangels" (RG v. 10.3.1892, siehe RGZ Bd. 16 , 234f). Bis heute hat sich an diesem Erkenntnisstand nicht geändert und immer noch entscheidet der Tatrichter über die Grenzziehung zwischen "vernünftigen" und "unvernünftigen" Handelns in einer "Dunkelkammer". In der Psychiatrie besteht ebensowenig Einigkeit in der Frage der Grenzziehung, siehe FAZ v. 7.2.15.
6 Kurt Schneiders Psychopathentypologie lieferte die Vorlage für Einteilungen nach (Hang-) "Typen", die, insbesondere in totalitären Staaten, als unverbesserlich und unbehandelbar galten und daher weggesperrt oder, wie im 3. Reich, "ausgemerzt" wurden. Als Relikt "kriminalbiologischer" Forschung geistert etwa der Rechtsbegriff "schädliche Neigungen" sogenannter "Hangverbrecher" bzw. "anlagebedingter Neigungstäter" durch das in der NS-Ideologie wurzelnde deutsche (Jugend)strafrecht, siehe §§ 17 II und 27 JGG, kritisch besprochen von Walter/Wilms, NStZ 2007, S. 1 - 8. Anlagemängeln wird mit "längerer Gesamterziehung" in der Jugendstrafanstalt begegnet - dies in unübersehbarer Analogie zur Sicherungsverwahrung erwachsener Straftäter.
7 siehe Erich Wulff, Psychopathie Soziopathie?, Das Argument 71 (1972), 67
8 Items für Persönlichkeitsstörungen von Straftätern (nach Hare): Oberflächlicher Charme / Übersteigertes Selbstwertgefühl / Pathologisches Lügen / Reizhunger und Tendenz zur Langeweile / Manipulatives Wesen / Fehlende Schuldgefühle / Flache Affekte / Mangelnde Empathie / Parasitärer Lebensstil / Geringe / Verhaltenskontrolle / Promiskuität / Früh einsetzende Verhaltensstörung / Mangel an realistischen Fernzielen / Impulsivität / Fehlendes / Verantwortungsbewußtsein / Unfähigkeit, Verfehlungen einzugestehen / Kurzzeitehen / Frühkriminalität / Delikte in Probezeit / Kriminelle Vielseitigkeit.
9 Strukturmerkmal z. B. bei Melancholikern ist die Überidentifikation, bei Hysterikern die Unechtheit.
10 Nedopil spricht nur noch von 'wissenschaftlich' oder auch von "humanwissenschaftlichen, empirischen Wissen" (R&P 3/1999, 120), er tut dies wohl, um die wesentlichste Wurzel der deutschen Psychiatrie, nämlich die Geisteswissenschaft, auf diese Weise zu verschleiern, s.a. Anm. 9. Der nichtssagende Begriff firmiert übrigens neuerdings auch als Fakultätsbegriff an verschiedenen Hochschulen (Potsdam, Köln) - die Psychiatrie zählt dort bislang allerdings nicht dazu.
11 In Worten von Saß: "Dilemma einer Psychiatrie als gleichermaßen medizinisch-naturwissenschaftlicher wie ideographischer Wissenschaft" (Saß, Psychopathologische Methoden, 1996, 225)
12 Kraepelin war wichtigster Begründer der psychiatrischen Nosologie sowie der Degenerationsforschung - ein Rassist und Eugeniker: Kraepelin forderte u.a. “ein rücksichtsloses Eingreifen gegen die erbliche Minderwertigkeit, das Unschädlichmachen der psychopathisch Entarteten mit Einschluss der Sterilisierung”. Anm.: (Nosologie=Krankheitslehre bzw. systematische Ordnung nach Entstehung und Verlaufsform der jeweiligen Krankheit. Von der Nosologie wird heute das Diagnoseschema abgeleitet) Vorreiter der Erblichkeitstheorie war Cesare Lombroso mit seiner Lehre vom delinquente nato (geborener Verbrecher), der wiederum Franz v. Liszt, den Vater des Täterstrafrechts (Unterscheidung von besserungsfähigen und unverbesserlichen, da erblich belasteten Straftätern), inspirierte. Liszt war es auch, der 1888 den Begriff "Kriminalbiologie" einführte. In der Folge fanden in bayerischen Strafanstalten ab 1923 kriminalbiologische Untersuchungen statt. Ziel war die Herausfilterung der "Unverbesserlichen" auf "wissenschaftlich haltbarer Grundlage". Kaum zu glauben, daß sich selbst Gefängnisgeistliche - bei besonders scharfer Beurteilung! - daran beteiligten. (Nikolaus Wachsmann, Gefangen unter Hitler, 2004, S. 41, 465, dort Anm. 73 u. 74).
Kommentar: Das Grundgesetz folgt einem anderen, humanistischen Menschenbild, nämlich dem des grundsätzlich entwicklungsfähigen Menschen.
1968 änderte die "Kriminalbiologische Gesellschaft" denn auch ihren Namen und nannte sich "Gesellschaft für die gesamte Kriminologie", seit 2007 ging sie in der "Kriminologischen Gesellschaft" auf. 1959 war die "Deutsche Kriminologische Gesellschaft" als Alternative zu der Kriminalbiologischen Gesellschaft gegründet worden, ein Beleg, wie die Kriminologie den Ruch der genetischen Determiniertheit des Nichtangepaßten abzustreifen suchte. Kurt Schneider jedoch blieb, als vorgeblich neutral, bis heute weitgehend unangetastet. Böllinger sprach 2014, damit diesen Euphemismus entlarvend, von einer seit den 90er Jahren zu beobachtenden neuerlichen "Tendenz zum Biologismus"!
13 brandaktuell wird wieder derzeit wieder einmal die Frage der genetischen Veranlagung von Homosexualität diskutiert. Mit Ausnahme von Morgenthaler sehen Psychoanalytiker mehrheitlich homosexuelle Orientierung als Produkt familialer Fehlkonstruktion (zu starke Mutter, zu schwacher Vater), mithin als behandelbar, an. Die mediale Behandlung des therapeutischen Vereins "LEO", der Therapieangebote gegen Homosexualität anbietet, fällt unisono ablehnend aus, siehe nur mdr. In ihrer interessengeleiteten Undiffenziertheit gleicht die Diskussion derjenigen über Querulanz.
14 nicht zu verwechseln mit 'Querdenker", ein Begriff, der positiv besetzt ist (Beispiel). Querdenker verstoßen gegen das Gebot der political correctness, so z. B. Karlheinz Deschner. Für "contrarian" fehlt es im Deutschen an einem Begriff, ist doch alles, was contra dem mainstream geht, bei uns eher verrufen, so wie es der "Spekulant" ist! Etwas anderes gilt denn auch für den selten auftauchenden Begriff 'Quergänger' (Grossenbach), dort i. V. m. Religionswahnsinn.
psychiatrische Standardliteratur: - Hallermann, Die gerichtsmedizinische Beurteilung der Persönlichkeitseigenheiten des Querulanten, Deutsche Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin, 57.Bd., 1966, 85-90 - v. d. Heydt in: Richter und Arzt, 1956, 124-136 - Heinz Dietrich, Querulanten, 1973 - Georg Eisen, Handwörterbuch der Rechtsmedizin für Sachverständige und Juristen, Bd. II, 1974 - Langelüddeke/Bresser, Gerichtliche Psychiatrie, 4. Aufl. 1976 (wohl immer noch gebräuchlich bei div. Gerichten) - Wilfried Rasch, Forensische Psychiatrie, 1986 - Peter Fiedler, Persönlichkeitsstörungen, 5. Aufl. 2001
aktuelle Literatur zur forensischen Psychiatrie - Rolf Baer, Psychiatrie für Juristen, 1988 - Habermeyer, Kriterienkataloge. In: Frank Schneider (Hg.) Entwicklungen der Psychiatrie, 2006, 375-385 - Venzlaff / Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 5. Auflage, 2008 - Kröber / Dölling / Leygraf / Saß, Handbuch der Forensischen Psychiatrie, 5 Bde., 2007-2010 - Norbert Nedopil / Jürgen Leo Müller, Forensische Psychiatrie, 4. Aufl. 2012
Zur Kritik/Variabilität von Diagnosen in der Psychiatrie - Klaus Dörner, Diagnosen der Psychiatrie, 1975, dort v. a. 137-149
Literatur zur Problematik von Quantifizierung bzw. Schweregradbestimmung
- Mende, Die tiefgreifende Bewußtseinsstörung in der forensisch-psychiatrischen Diagnostik. In: FS f. Paul Bockelmann, 1979, 311-322 - Mende, Schöch, Maisch in: MschrKrim 1983, 328-367 - Joachim Hellmer, Der psychiatriesierte Kohlhaas, in: Medizinrecht - Psychopathologie - Rechtsmedizin, 1991, 196
Psychoanalytische Kritik an der konventionellen Psychiatrie - Rosenkötter, Die Ausschaltung der Störer, in: Das Unbehagen in der Psychoanalyse, 1983, 111
Psychiatriegeschichte - Heinz Schott/Rainer Tölle, Geschichte der Psychiatrie: Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen, 2005
Zur Geschichte der Entmündigung - Gertrud Weinriefer, Die Entmündigung wegen Geisteskrankheit und Geistesschwäche, Diss. Kiel 1986
Zur inflationären Pathologisierung nach DSM
Zur Sprache der Psychiatrie - Hans Feer, Die Sprache der Psychiatrie, 1987
Kritik in TV- und Printmedien
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